OGH 10ObS421/98d

OGH10ObS421/98d12.1.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon-Prof. Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Dafert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Erich Reichelt (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann M*****, vertreten durch Dr. Werner Posch, Rechtsanwalt in Gloggnitz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Oktober 1998, GZ 9 Rs 235/98i-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 16. Jänner 1998, GZ 3 Cgs 169/97y-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 24. 9. 1945 geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 1997) ausschließlich als Hilfsarbeiter beschäftigt. Er hat keinen Beruf erlernt.

Insbesondere aufgrund diverser degenerativer Veränderungen im Wirbelsäulen- und Schulterbereich, einem (geringen) Leberschaden sowie Zustand nach wiederholten Magenschleimhautreizungen ist er nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten in grundsätzlich jeder Körperhaltung und grundsätzlich jeder Position des Arbeitsplatzes zu verrichten. Er ist unterweisbar und einordenbar. Fingerbeweglichkeit und Fingerfertigkeit sind erhalten. Eine Einschränkung der Anmarschwege besteht nicht. Der Kläger benötigt eine Diät, die er jedoch gegebenenfalls von zu Hause mitnehmen könnte. Ausgeschlossen sind Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, in ständiger Nässe und Kälte sowie gehäuftes Arbeiten mit den Armen über Kopf. Der Kläger kann auch nur gelegentlich in vornübergebeugter Körperhaltung tätig sein. Ausgeschlossen sind weiters Arbeiten im Dauergehen und/oder Dauerstehen. Er kann ein Drittel der Arbeitszeit im Gehen und/oder Stehen verbringen, dies aber nicht kontinuierlich, sondern auf den Arbeitstag verteilt. Zwei Drittel der Arbeitszeit müssen im Sitzen verbracht werden. Hat der Kläger eine Tätigkeit im Stehen und/oder Sitzen über einen längeren Zeitraum verrichtet, dann benötigt er etwa zweimal in der Stunde kurzfristige Ausgleichsbewegungen (Gehen einiger Schritte), während derer er aber auch arbeiten kann. Bei Einhaltung üblicher Pausen und der beschriebenen Ausgleichsbewegungen kann er einen ganzen Arbeitstag im Sitzen verbringen.

Mit Bescheid vom 8. 4. 1997 wurde der Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension mangels Invalidität abgelehnt.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage stellte der Kläger das Begehren, die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab Stichtag zu gewähren und die beklagte Partei zu einer vorläufigen Leistung von S 7.800 (gemeint: monatlich) zu verpflichten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es die weitere Feststellung traf, daß vermehrte Krankenstände nicht prognostiziert werden können. Es beurteilte den eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß der Kläger keinen Berufsschutz genieße und sich daher auf alle ihm medizinisch zumutbaren Erwerbstätigkeiten verweisen lassen müsse. Als solche kämen Portier, Aufseher in Ausstellungen und Versteigerungshäusern, Bürogehilfe, Verlagsarbeiter im Rahmen von Einlegen von Werbeschriften in zu versendende Zeitschriften und Journale in Betracht.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es führte aus, daß eine Mangelhaftigkeit (welchen Berufungsgrund der Kläger als einzigen genannt hatte) im Zusammenhang mit der Frage leidensbedingter Krankenstände nicht vorläge; aus Krankenständen in der Vergangenheit könne nicht auf die Unfähigkeit zur Ausübung leistungskalkülmäßig möglicher Verweisungstätigkeiten in der Zukunft geschlossen werden. Im übrigen mangle es der Berufung an einer Rechtsrüge.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen; hilfsweise wird auch ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag an das Erstgericht gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist berechtigt. Dies aus folgenden Erwägungen:

Rechtliche Beurteilung

Unstrittig sind die Voraussetzungen des Klägers hinsichtlich der von ihm begehrten Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Hiezu hat der qualifiziert vertretene Kläger auch bereits in der letzten mündlichen Streitverhandlung ausdrücklich das Vorliegen von Berufsschutz für sich verneint (ON 14). Auch die von den Vorinstanzen als mit dem medizinischen Leistungskalkül in Übereinstimmung stehend bezeichneten diversen Verweisungsberufe werden nicht in Abrede gestellt. Strittig ist bloß der von den Vorinstanzen verneinte Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Frage künftiger Krankenstände.

Das Berufungsgericht hat hiezu zwar ausgeführt, daß die (bloß Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend machende) Berufung des Klägers keine Rechtsrüge enthalte, sich jedoch trotzdem (und zutreffend, weil der geltend gemachte Berufungsgrund ausreichende Ausführungen rechtlicher Art zur Auswirkung von Krankenstandserwartungen auf den Arbeitsmarktausschluß und damit die begehrte Invaliditätspension enthielt) mit dieser Frage auch inhaltlich auseinandergesetzt und damit auch die rechtliche Beurteilung überprüft.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senates schließen nur in Zukunft trotz zumutbarer Krankenbehandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende leidensbedingte Krankenstände von jährlich sieben Wochen und darüber einen Versicherten und Rentenwerber vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus (SSV-NF 6/70, 6/104, 10/14, 10 ObS 198/98k uam). Ob dies beim Kläger der Fall ist, kann jedoch nicht verläßlich beurteilt werden, weil nach dem Inhalt der Prozeßakten dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen weder in erster Instanz noch vom Berufungsgericht hiezu ausreichend erörtert und festgestellt wurden. Die vom Erstgericht hiezu getroffene und dem (schriftlichen) Gutachten des orthopädisch-chirurgischen Sachverständigen (ON 10) entnommene Feststellung, daß "vermehrte Krankenstände derzeit nicht zu erwarten sind", ist - worauf in der Revision zutreffend hingewiesen wird - unklar und mehrdeutig. Eine solche Feststellung reicht nicht aus, einen Ausschluß des Klägers vom allgemeinen Arbeitsmarkt zu verneinen, weil die Dauer "vermehrter Krankenstände" hieraus auch nicht annähernd (im Sinne der wiedergegebenen Judikatur des Senates) eingestuft und abgeschätzt werden kann. Zwar ist eine absolut sichere Aussage zur Frage künftiger Krankenstände medizinisch oft nicht möglich; es muß aber ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit gefordert werden und in diesem Sinne auch ein medizinischer Sachverständiger zu einer möglichst präzisen Aussage angehalten werden. Dabei trifft den Versicherten die (objektive) Beweislast dafür, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit mit jährlichen Krankenständen von sieben Wochen oder mehr zu rechnen ist (10 ObS 198/98k mwN). Nur dann sind die Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt. Zutreffend hat hiezu das Berufungsgericht bereits darauf hingewiesen, daß in der Vergangenheit angefallene Krankenstände keinen Hinweis für zukünftige Krankenstände bilden können (10 ObS 267/94, 10 ObS 297/97t).

Da sohin die Feststellungsgrundlage zu verbreitern ist und für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache, um die Sache spruchreif zu machen, an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und neuerlichen Urteilsfällung zurückzuverweisen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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