OGH 2Ob151/97p

OGH2Ob151/97p29.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter, Dr. Schinko, Dr. Tittel und Dr. Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Claudius G*****, vertreten durch Dr. Friedrich Hohenauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei V*****, vertreten durch Dr. Hubert Tramposch, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Vorlage einer gemeinschaftlichen Urkunde (Art XLIII EGZPO), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 21. Februar 1997, GZ 4 R 21/97p-9, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 6. Dezember 1996, GZ 5 Cg 260/96f-4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 17.807,40 (darin enthalten S 2.967,90 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde am 13. 8. 1989 bei einem Verkehrsunfall als Beifahrer eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Lenkers eines PKWs schwer verletzt. Seine Verletzungen bewirken eine dauernde lebenslange körperliche und geistige Beeinträchtigung. Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 20. 8. 1993 wurde die Haftung des Fahrzeuglenkers und die Haftung der beklagten Partei als Haftpflichtversicherer für alle künftigen Schäden des Klägers aus diesem Verkehrsunfall festgestellt, wobei die Haftung der beklagten Partei nach Maßgabe des Haftpflichtversicherungsvertrages begrenzt wurde, der zum Unfallszeitpunkt für den PKW bestand. In einem weiteren Verfahren wurde dem Kläger ein Betrag von S 1,362.135,68 und eine monatliche Verdienstentgangsrente von S 14.000,-- ab Jänner 1996 zugesprochen.

In einem Schreiben vom 28. 9. 1994 teilte der Klagevertreter dem Beklagtenvertreter mit, daß er mit seinem Mandanten erörtert habe, ob er über die Anregung des Beklagtenvertreters der Lösung einer allfälligen endgültigen globalen Abfindung nähertreten könnte;

grundsätzlich könne eine solche Lösung, vorausgesetzt, die Entschädigungssumme sei ausreichend hoch, ins Auge gefaßt werden;

dabei wäre sicher von Bedeutung, wie sich die Frage einer möglichen Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Versicherungssumme einmal stellen könnte; er ersuche daher, eine Ausfertigung bzw Kopie der Haftpflichtversicherungspolizze zu übermitteln. Mit den Schreiben vom 21. 10. und 7. 12. 1994 rief der Klagevertreter dieses Ersuchen in Erinnerung.

Der Kläger begehrt, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm die Urkunden über den am 13. 8. 1989 "bestandenen" KFZ-Haftpflichtversicherungsvertrag (Haftpflichtversicherungspolizze) betreffend den PKW Marke Renault 5, amtliches Kennzeichen ***** (A), nach dessen Maßgabe ihre mit Urteil 10 Cg 176/90 Landesgericht Innsbruck festgestellte Haftpflicht gegenüber der klagenden Partei aus dem Verkehrsunfall vom 13. 8. 1989 auf der Götzener Landesstraße rechtskräftig festgestellt wurde, in der Weise vorzulegen, daß sie dem Kläger Einsicht in die in ihrem betreffenden Polizzenakt befindliche Ausfertigung oder sonstige urkundliche Inhaltsfesthaltung dieses KFZ-Haftpflichtversicherungsvertrages gewährt und dazu der klagenden Partei zu Handen des Klagevertreters mitteilt, an welchem Ort sich diese Urkunde zu ihrer Einsichtnahme befindet. Er brachte dazu vor, die Polizze sei dadurch, daß die Haftung der beklagten Partei in dem Urteil vom 20. 8. 1993 nach Maßgabe des Versicherungsvertrages begrenzt wurde, zu einer gemeinschaftlichen Urkunde im Sinne von Art XLIII EGZPO geworden, begrenze sie doch das Haftungsrechtsverhältnis zwischen den Streitteilen. Der Kläger habe ein rechtliches Interesse an der Vorlage dieser Urkunde, weil er auch in Zukunft erhebliche Schadenersatzforderungen geltend zu machen habe und weil seine Lebensdisponierung davon abhänge, ob die Gefahr einer Erschöpfung der Versicherungssumme bestehe. Von der Höhe der Versicherungssumme hänge es auch ab, in welcher Höhe allenfalls eine Kapitalsabfindung stattfinden könnte und ob es günstiger sei, fortlaufend höhere Sozialversicherungsbeiträge zur Erreichung einer entsprechenden Alterspension zu bezahlen oder ab dem Zeitpunkt der Pensionierung den Pensionsdifferenzschaden geltend zu machen.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens und brachte hiezu vor, die Polizze sei keine gemeinschaftliche Urkunde, weil sie nur das Rechtsverhältnis zwischen dem Versicherungsnehmer und der Haftpflichtversicherung regle. Der Kläger habe auch kein rechtliches Interesse an der Vorlage der Urkunde. Ein solches werde nämlich dann verneint, wenn durch die Vorlage einer Urkunde nur ein Beweismittel für einen beabsichtigten Prozeß gegen den Besitzer der Urkunde gesichert werden solle, wie dies hier der Fall sei. Überdies hätte die Urkundenvorlage in den früheren Prozessen und in einem gleichzeitig anhängig gemachten Prozeß nach § 304 ZPO verlangt werden können. Die Urkunde existiere nicht mehr, weil mittlerweile alles nur noch elektronisch bei der beklagten Partei gespeichert sei.

Das Erstgericht gab ausgehend vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt dem Klagebegehren Folge.

Es erörterte rechtlich, daß der Haftpflicht- versicherungsvertrag eine gemeinschaftliche Urkunde darstelle. Aufgrund der Bestimmungen der §§ 63 KFG und 22 Abs 1 KHVG (gemeint: 1987) könne der geschädigte Dritte den ihm zustehenden Schadenersatzanspruch im Rahmen eines Haftpflichtversicherungsvertrages auch direkt gegen den Versicherer geltend machen. Der Vertrag sei daher eine Beurkundung des gegenseitigen Rechtsverhältnisses zwischen der beklagten Partei als Versicherer und dem Kläger als geschädigtem Dritten. Der Vertrag sei auch ein Beweismittel über die Höhe der Versicherungssummen und insoferne zur Beweisführung geeignet. Das von Art XLIII EGZPO verlangte privatrechtliche Interesse an der Urkundenvorlage sei ebenfalls zu bejahen. Sei nämlich - wie hier - eine Urkunde im Interesse beider Parteien errichtet worden, um ihre rechtlichen Beziehungen zu fördern, dann sei das rechtliche Interesse des Klägers an der Urkundenvorlage schon deshalb zu bejahen, weil sie beitragen könne, einen weiteren Prozeß zu verhindern. Daß allenfalls die Urkunde körperlich nicht mehr vorhanden sei, hindere nicht, der Klage stattzugeben; in dieser werde die Herausgabe nicht begehrt, vielmehr nur die Möglichkeit verlangt, in den Urkundeninhalt Einsicht zu nehmen.

Das von der beklagten Partei allein aus den Gründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache durch das Erstgericht angerufene Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil.

Es verwies darauf, daß Art XLIII EGZPO einen eigenen zivilrechtlichen Anspruch auf Urkundenvorlage im Fall der Gemeinschaftlichkeit der vorzulegenden Urkunde schaffe, wobei die Gemeinschaftlichkeit der Urkunde nach der Bestimmung des § 304 ZPO zu beurteilen sei. Diese Bestimmung liefere keine den Begriff ausschöpfende Definition der gemeinschaftlichen Urkunde, führe aber umfassende Beispielsgruppen an. Danach gelte als gemeinschaftlich eine Urkunde für jene Personen, in deren Interesse sie errichtet worden sei, und andererseits für Personen, deren gegenseitigen Rechtsverhältnisse darin bekundet seien. Für letzteren Bereich sei entscheidend der Urkundeninhalt. Dem so abgeleiteten Einsichtsrecht unterlägen Urkunden, die ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand hätten, das zwischen dem Anspruchsteller und einem anderen bestehe. Es genüge, daß der bekundete Vorgang zu dem fraglichen Rechtsverhältnis in unmittelbar rechtlicher Beziehung stehe, bzw daß die Urkunde eine objektive und unmittelbare Beziehung zu einem Rechtsverhältnis aufweise, an dem der die Vorlegung Begehrende beteiligt sei. Der gegenständliche Versicherungsvertrag sei eine gemeinschaftliche Urkunde, weil darin ein zwischen den Prozeßparteien gegenseitiges Rechtsverhältnis bekundet sei. Dem Kläger stehe aufgrund der Bestimmungen der §§ 22 Abs 1 KHVG 1987 und 26 KHVG 1994 ein unmittelbarer Leistungsanspruch gegen die beklagte Partei zu; die Streitteile stünden insoweit in unmittelbarer rechtlicher Beziehung und die im Versicherungsvertrag festgelegte Versicherungssumme stelle eine Beurkundung dar, die mit dem zwischen den Streitteilen bestehenden Rechtsverhältnis in unmittelbarer rechtlicher Beziehung stehe. Auch das rechtliche Interesse des Klägers an der Vorlage der Urkunden sei zu bejahen. Dieses sei dann gegeben, wenn die Einsichtnahme in die Urkunde zur Erhaltung und Verteidigung der rechtlich geschützten Interessen des die Einsicht begehrenden Klägers benötigt werde.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 50.000,-- übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei; es bestehe keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage, inwieweit eine KFZ-Haftpflichtversicherung, deren Haftung gegenüber dem bei einem Unfall Geschädigten bis zur Höhe der Versicherungssumme mit Urteil festgestellt sei, zur Vorlage der Versicherungspolizze im Sinne von Art XLIII EGZPO verpflichtet sei.

Die beklagte Partei beantragt mit ihrer Revision die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Kläger hat sein Klagebegehren auf Art XLIII EGZPO gestützt. Nach dieser Bestimmung kann die Vorlage einer gemeinschaftlichen Urkunde (§ 304 ZPO) auch außerhalb eines anhängigen Rechtsstreites im Wege der Klage gefordert werden. Die Vorlage einer Urkunde bedeutet dabei nicht die Herausgabe, sondern lediglich die Gestattung der Einsichtnahme und der Feststellung der wesentlichen Punkte derselben (Neumann, Komm zu den Zivilprozeßgesetzen4 I 377 FN 1; 2 Ob 2382/96z tw veröffentlicht in ecolex 1998, 627).

Was als gemeinschaftliche Urkunde im Sinn des § 304 ZPO zu verstehen ist, wird in dieser Bestimmung nicht ausdrücklich ausgeführt (Fasching III 390); es werden lediglich - allerdings umfassende - Beispielsgruppen angeführt (SZ 56/117). Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, daß mit dieser Bestimmung zwei Fallgruppen unterschieden werden. Einerseits liegt eine gemeinschaftliche Urkunde für jene Personen vor, in deren Interesse sie errichtet wurde, andererseits für jene Personen, deren gegenseitige Rechtsverhältnisse darin beurkundet sind. Für die erste Fallgruppe ist daher ausschlaggebend, ob die Urkunden den Streitteilen als Beweismittel dienen oder ihre rechtlichen Beziehungen fördern sollten, (SZ 56/117; NZ 1995, 103; 1 Ob 2151/96x

ua) für die zweite Fallgruppe ist ausschlaggebend, ob damit ein Rechtsverhältnis bekundet wird, das zwischen dem Anspruchsteller und einem anderen besteht. Es genügt dabei, daß der bekundete Vorgang zu dem fraglichen Rechtsverhältnis in unmittelbarer rechtlicher Beziehung steht, wobei es ausreicht, daß die Urkunde eine objektive und unmittelbare Beziehung zu dem Rechtsverhältnis aufweist, an dem der die Vorlegung Begehrende beteiligt ist (SZ 61/208 ua).

Es trifft nun zwar zu, daß die Haftpflichtversicherungspolizze deren Vorlage der Kläger begehrt, nicht in die erste Fallgruppe fällt, weil sie im Interesse des Versicherungsnehmers der beklagten Partei und damit nicht im Interesse der Streitteile ausgestellt wurde. Diese Urkunde ist aber der zweiten Fallgruppe zuzuordnen. Durch das Feststellungsurteil wurde nämlich ein Rechtsverhältnis zwischen den Streitteilen (Schadenersatzanspruch des Klägers bis zur Höhe der Haftpflichtversicherungssumme) festgestellt, auf das die Versicherungspolizze unmittelbar Bezug hat. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob sich, wie das Berufungsgericht meint, die Gemeinschaftlichkeit der Urkunde auch aus den §§ 22 KHVG 1987 bzw 26 KHVG 1994 ableiten läßt.

Zu prüfen ist weiters das behauptete rechtliche Interesse des Klägers an der Einsichtnahme in die Haftpflichtversicherungspolizze. Dies ist ebenfalls zu bejahen. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch hiezu darauf hingewiesen, daß nach der Rechtsprechung ein rechtliches Interesse an der Urkundenvorlage dann gegeben ist, wenn die Einsichtnahme zur Erhaltung und Verteidigung der rechtlich geschützten Interessen des die Einsicht begehrenden Klägers benötigt wird (6 Ob 552/95 mwN; 1 Ob 2151/96x). Dies trifft hier aber zu, weil dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt werden muß zu beurteilen, ob er noch Schadenersatzansprüche gegen die beklagte Partei geltend machen kann.

Abschließend ist noch auf die Rechtsprechung einzugehen, nach der das für die Urkundenvorlage geforderte rechtliche Interesse dann verneint wird, wenn sich der Anspruchsteller durch die Einsichtnahme in Urkunden Beweismittel für einen beabsichtigten Rechtsstreit, insbesondere gegen den Besitzer der Urkunde, sichern will, weil er in diesem Fall auf die - im Rahmen eines anhängigen Verfahrens zu beantragende - Urkundenvorlage gemäß § 304 ZPO zu verweisen ist (SZ 61/208 mwN; VR 1992, 403 = VersR 1993, 775).

Im gegenständlichen Fall geht es nicht darum, daß sich der Kläger ein Beweismittel für einen erst anzustrengenden Prozeß sichern will. Das rechtliche Interesse liegt vielmehr darin, rechtzeitig zu erfahren, ob der Schaden in der Haftpflichtversicherungssumme, aus der im Regelfall die Entschädigungszahlungen geleistet werden, gedeckt ist, um entsprechende Dispositionen treffen zu können. Die Urkundenvorlage dient daher der Prozeßvermeidung.

Die Vorinstanzen haben der beklagten Partei somit zutreffend die Urkundenvorlage im Sinn des Art XLIII EGZPO aufgetragen. Der Revision war deshalb ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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