OGH 10ObS147/98k

OGH10ObS147/98k15.9.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Hopf sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann und Dr. Dietmar Strimitzer (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gertrude B*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1051 Wien, vertreten durch Dr. Paul Bachmann ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Dezember 1997, GZ 8 Rs 314/97y-36, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 1. Juli 1997, GZ 14 Cgs 69/95d-31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die am 10. 10. 1944 geborene Klägerin betreibt in Wien unter der Mitarbeit ihres Ehegatten und ihres Sohnes einen Eissalon, der etwa sieben Monate im Jahr geöffnet hat. Die persönliche Mitarbeit der Klägerin ist bei dieser Betriebsgröße notwendig.

Die Klägerin ist gesundheitlich nur mehr in der Lage, leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Ein Drittel der Arbeiten muß über den Tag verteilt im Sitzen erfolgen. Ein Dauersitzen oder -stehen ist der Klägerin nicht zumutbar. Nach 30 Minuten Sitzen oder Stehen sollte ein kurzfristiges Gehen erfolgen.

In gastgewerblichen Kleinbetrieben fallen bei der Mithilfe bei Küchen- und Servierarbeiten leichte und mittelschwere Arbeiten, bei nur einem Beschäftigten als Küchenhilfe betriebsspezifisch fallweise auch schwere Arbeiten an. Bei der Mittätigkeit einer Vollzeit- und einer ständigen Teilzeitarbeitskraft wird üblicherweise das Kalkül leichter bis halbzeitig mittelschwerer Arbeiten nicht überschritten. In Buffets, in denen neben Getränken nur Snacks angeboten werden, und in größeren Gastwirtschaften, in denen sich die Tätigkeit des Gastwirtes auf die Überwachung des Personals, den Einkauf der Ware, das Kassieren sowie die Führung der Buchhaltung erstreckt, überschreitet die körperliche Belastung üblicherweise auch nicht jene leichter bis halbzeitig mittelschwerer Arbeiten. Nicht möglich ist jedoch - von einzelnen Tagen mit geringer Gästefrequenz abgesehen - ein drittelzeitiges Sitzen (über den Tag verteilt) in Verbindung mit einem kurzfristigen Gehen nach nur 30-minütigem Sitzen oder Stehen. Sitzende Arbeiten fallen in zeitlicher Hinsicht berufstypisch nur sehr untergeordnet, gelegentlich und kurzzeitig an, insbesondere bei der Kassaführung und Buchhaltung, wobei allerdings ein Drittel des Arbeitstages bei weitem nicht erreicht wird.

Mit Bescheid vom 6. 3. 1995 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 28. 2. 1994 auf Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension ab. Die Klägerin könne weiter mittelschwere Arbeiten in jeder Körperhaltung verrichten und einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren insoweit statt, als es die Beklagte verpflichtete, der Klägerin ab 1. 11. 1994 eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren; das Mehrbegehren, eine Erwerbsunfähigkeitspension auch schon für den Zeitraum 1. 3. 1994 bis 31. 10. 1994 zu gewähren, wies es insoweit rechtskräftig ab. Dabei ging das Erstgericht von den wiedergegebenen wesentlichen Feststellungen aus.

In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht eine Erwerbsunfähigkeit der Klägerin vor Vollendung des 50. Lebensjahres gemäß § 133 Abs 1 GSVG, bejahte sie jedoch gemäß § 133 Abs 2 GSVG ab dem 1. 11. 1994. Die Klägerin sei nämlich gesundheitlich außerstande, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordere, die sie zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt habe.

Das Berufungsgericht gab der gegen den klagestattgebenden Teil des Ersturteils erhobenen Berufung der Beklagten nicht Folge. Zwischen dem 50. und 55. Lebensjahr bestehe bei Kleingewerbebetreibenden zwar kein Tätigkeitsschutz, es sei jedoch nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig. Nach den Angaben der Klägerin und den Verfahrensergebnissen könne die Klägerin weder in der Eisproduktion noch im Eisverkauf tätig sein. Eine Umstrukturierung mit wirtschaftlich vertretbarer Weiterführung des Betriebes sei nicht möglich. Durch die Einschränkung der Klägerin auf ein drittelzeitiges Sitzen scheiden auch andere gastronomische Betriebe wie Cafes, Buffets oder Selbstbedienungsrestaurants aus.

Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Strittig ist - wie schon im Berufungsverfahren - nur mehr der Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeitspension ab dem auf die Vollendung des 50. Lebensjahres folgenden Monatsersten (1. 11. 1994); der Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeitspension für einen davorliegenden Zeitraum wurde bereits vom Erstgericht rechtskräftig abgewiesen. Der noch offene Anspruch der Klägerin ab 1. 11. 1994 ist nach § 133 Abs 2 GSVG idF der 19. Novelle BGBl 1993/336 zu beurteilen. Nach der am 1. 11. 1994 geltenden Fassung dieser Bestimmung gilt als erwerbsunfähig die Versicherte,

a) die das 50. Lebensjahr vollendet hat und

b) deren persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war,

wenn sie infolge Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die die Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat.

Von diesen Voraussetzungen ist unstrittig, daß die Klägerin das 50. Lebensjahr vollendet hat und daß ihre persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes (Eissalon) notwendig war. Die Revisionswerberin bestreitet jedoch unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, dem auch die als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens gerügten Feststellungsmängel zuzurechnen sind (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 5 zu § 503), die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, daß die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, eine nach § 133 Abs 2 GSVG in Frage kommende selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.

Auszugehen ist davon, daß die Klägerin in den letzten 60 Monaten (unstrittig) als selbständige Inhaberin eines Eissalons tätig war. Als solche bedurfte sie durch den Verkauf von "angerichteten kalten Speisen", wozu auch Speiseeis zählt, einer Gewerbeberechtigung für das Gastgewerbe (§ 124 Z 9 iVm § 142 Abs 1 Z 2 GewO 1994). Das Gastgewerbe (vor der GewO 1973 "Gast- und Schankgewerbe") wurde durch die GRNov 1992 in die nicht bewilligungspflichtigen gebundenen Gewerbe (vorher konzessioniertes Gewerbe) eingereiht (Kinscher/Sedlak, GewO6 (1996), Anm 48 zu § 124 und Anm 17 zu § 142). Die zur Verabreichung von Speisen berechtigten Gastgewerbetreibenden sind auch berechtigt, die zu verabreichenden Speisen selbst zu erzeugen. In diesem Sinne konnte die Klägerin im Rahmen der Ausübung des Gastgewerbes in der besonderen Betriebsform eines Eissalons das Speiseeis selbst erzeugen (Kinscher/Sedlak aaO Anm 21 zu § 142 und Anm 13 zu § 145). Von dieser Möglichkeit hat die Klägerin (unstrittig) auch Gebrauch gemacht.

Richtig ist der Hinweis des Berufungsgerichtes, daß für die selbständig Erwerbstätigen zwischen dem 50. und 55. Lebensjahr zwar kein Tätigkeitsschutz besteht, daß aber nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig ist (s Gesetzesmaterialien bei Teschner/Widlar, GSVG, 370/10i; SSV-NF 9/22 ua). Nach § 133 Abs 2 GSVG wird das Verweisungsfeld durch die selbständigen Erwerbstätigkeiten gebildet, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die vom Versicherten zuletzt ausgeübten erfordern. Die Verweisungstätigkeit muß keineswegs der bisher ausgeübten Tätigkeit in allen Punkten entsprechen. Das Gesetz stellt nicht auf die konkret ausgeübte selbständige Tätigkeit und die bisherige Betriebsstruktur ab (dies sind Umstände, die im Falle des § 131c GSVG von Bedeutung wären), sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Monate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, sich völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22, 9/56, 10/56; ARD 4934/24/98 ua).

Ausgehend von dieser Rechtslage führt die Revisionswerberin nun zutreffend aus, daß vor einer Prüfung, ob der Versicherte gesundheitlich in der Lage ist, andere selbständige Erwerbstätigkeiten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auszuüben, jedenfalls aber, wenn dies wie im vorliegenden Fall verneint wird, die Klärung und Feststellung zu erfolgen hat, mit welcher Ausbildung, Kenntnissen und Fähigkeiten die bisherige selbständige Tätigkeit ausgeübt wurde und wie die Aufgabenteilung im Betrieb zwischen der Klägerin und den anderen dort tätigen Personen bei wirtschaftlicher Betriebsführung in einer für die Klägerin möglichst schonenden Weise vorgenommen hätte werden können (SSV-NF 9/22, 9/56 ua). Wenn die Klägerin tatsächlich kalkülüberschreitende Arbeiten verrichtete, diese aber bei anderer Aufgabenverteilung vermeidbar gewesen wären, dürften sie nicht berücksichtigt werden; insbesondere wäre dann eine Umorganisation des Betriebes in dieser Form zu verlangen. Hier könnte der Umstand, daß die Klägerin laut ihrem Vorbringen seit zwei Jahren nur mehr im Verkauf tätig war (ON 9, AS 21), darauf hinweisen, daß eine Umorganisation (jedenfalls) in dieser Form möglich war. Erst dann kann der notwendige Vergleich zwischen dem Anforderungsprofil des Betriebes und dem medizinischen Leistungskalkül erfolgen (vgl auch SSV-NF 3/40 ua). Derartige konkrete Feststellungen werden zwar im Ersturteil zum Leistungskalkül der Klägerin getroffen, sie fehlen jedoch zum Betrieb des Eissalons. Die in Form einer Feststellung gekleidete Schlußfolgerung des Erstgerichtes, daß für die Klägerin wegen des erforderlichen drittelzeitigen Sitzens keine kalkülentsprechenden Berufstätigkeiten im Gastgewerbe bestehen, entbehrt daher einer nachvollziehbaren detaillierten Grundlage.

Zu Recht vermißt die Revisionswerberin in diesem Zusammenhang auch Feststellungen des Erstgerichtes zum zeitlichen Verhältnis der einzelnen Körperhaltungen beim Betrieb eines Eissalons, und zwar nicht nur beim Verkauf, sondern auch bei der Eisproduktion. Die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß letztere irrelevant wäre, weil die Klägerin ohnehin angegeben habe, daß es ihr nach einer (gynäkologischen) Totaloperation nicht mehr möglich sei, Eis zuzubereiten, ist verfehlt. Zum einen wurde gar nicht erörtert, welche Körperhaltungen und Belastungen tatsächlich bei der Eisproduktion anfallen, zum anderen wurden dazu auch keine Feststellungen getroffen.

Im fortgesetzten Verfahren wird also zu prüfen und festzustellen sein, ob - zunächst ohne personelle Änderung - eine (Um-)Verteilung der Aufgaben bei wirtschaftlicher Betriebsführung dergestalt möglich ist, daß die Klägerin letztlich zumindest ein Drittel der Arbeiten im Sitzen verrichtet. Dabei sind der Vollständigkeit halber auch die Überlegungen der Revisionswerberin zur (vollständigen oder teilweisen) Verwendung der Klägerin als Sitzkassier miteinzubeziehen. Eine (Um-)Verteilung der Aufgaben beim Betrieb eines Eissalons - vorbehaltlich der Möglichkeit einer dennoch wirtschaftlichen Betriebsführung - könnte unter Umständen auch in einer Reduktion der Mitwirkung der Klägerin zugunsten einer (anderen oder weiteren) Hilfskraft liegen. Eine Umstrukturierung des Betriebes bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 133 Abs 2 GSVG darf zwar die wirtschaftliche Grundlage des Betriebes nicht in Frage stellen, doch muß auch ein selbständig Erwerbstätiger eine gewisse Verringerung seines Einkommens in Kauf nehmen (vgl SSV-NF 10/122; 10 ObS 20/97g; 10 ObS 180/98p ua).

Weiters werden die Ausbildung und die Kenntnisse, die für den Betrieb des Eissalones der Klägerin erforderlich waren zu erheben und diese den Anforderungen anderer selbständiger Tätigkeiten (etwa im Einzelhandel), die dem Leistungskalkül der Klägerin gerecht werden, gegenüberzustellen sein, um eine Grundlage für die Beurteilung zu schaffen, ob eine Verweisung der Klägerin auch auf Tätigkeiten außerhalb des Gastgewerbes in Frage kommt.

Es zeigt sich somit, daß für die abschließende Beurteilung des Falles wesentliche Fragen noch ungeklärt geblieben sind, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens in den aufgezeigten Punkten aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen war.

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