OGH 2Ob94/98g

OGH2Ob94/98g20.5.1998

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schinko, Dr.Rohrer und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Friederike P*****, vertreten durch Dr.Erich Moser, Rechtsanwalt in Murau, wider die beklagten Parteien 1.) Wolfgang H*****, und 2.) Agnes H*****, sowie 3.) E*****-AG, ***** alle vertreten durch Dr.Hans Exner und Mag.Hans Exner, Rechtsanwälte in Judenburg, wegen S 550.294,60 samt Anhang und Feststellung, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht vom 29.Jänner 1998, GZ 4 R 246/97x-29, womit das Urteil des Landesgerichtes Leoben vom 1. September 1997, GZ 6 Cg 152/96s-23, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung einschließlich der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile zu lauten hat:

1.) Die Klagsforderung besteht mit S 543.294,60 zu Recht.

2.) Die aufrechnungsweise eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3.) Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 543.294,60 samt 4 % Zinsen aus

S 303.000,- vom 1.8.1996 bis 19.9.1996 und aus S 543.294,60 seit 20.9.1996 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Das Mehrbegehren von S 7.080,- samt Anhang wird abgewiesen.

4.) Den beklagten Parteien gegenüber wird festgestellt, daß diese der klagenden Partei für alle künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 14.3.1996 auf der Bundesstraße 83 im Gemeindegebiet von Perchau am Sattel zur ungeteilten Hand zu haften haben, die drittbeklagte Partei nur bis zur Höhe der Haftungssumme auf Grund des Versicherungsvertrages.

5.) Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit S 208.551,08 (darin S 27.298,92 Umsatzsteuer und S 44.757,50 Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 14.3.1996 gegen 17.05 Uhr ereignete sich auf der Bundesstraße 83 bei Straßenkilometer 7,6 (Bezugslinie) ein Verkehrsunfall, an dem einerseits die Klägerin als Lenkerin eines Pkw Mazda 323 Kombi und andererseits der Erstbeklagte als Lenker eines von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten Pkw VW 35 P Variant beteiligt waren.

Im Bereich der Unfallstelle verläuft die Bundesstraße annähernd in Nord-Süd-Richtung. Zwischen einer Position ca 500 m und 150 m nördlich der Bezugslinie ist die Straße annähernd geradlinig und ca. 6,4 m breit asphaltiert und beidseits mit Banketten ausgestattet. Ab einer Position 150 m nördlich der Bezugslinie beschreibt die Fahrbahn in Richtung Süden gesehen eine Rechtskurve mit einer Richtungsänderung von ca. 30 Grad, die auf einer Strecke von ca 100 m bis in eine Position rund 50 m nördlich der Bezugslinie erreicht wird. Die Fahrbahn fällt Richtung Süden rund 3 % ab. In einem Bereich zwischen 70 und 80 m nördlich der Bezugslinie mündet aus Osten eine Zufahrt zum Anwesen der Klägerin mit einem 10 m breiten, gerundeten und geschotterten Einmündungstrichter ein. Südlich davon zwischen einer Position 21 bis 51 m nördlich der Bezugslinie grenzt östlich an die Fahrbahn der 3 m breite Abstellplatz vor dem Wohnhaus der Klägerin an.

Die Klägerin fuhr aus einer Stillstandsposition mit der Front ihres Pkws ca. 26 m nördlich der Bezugslinie und der linken Flanke ca. 2,5 m außerhalb der Fahrbahn in einer Position 29 m nördlich der Bezugslinie auf die Fahrbahn der Bundesstraße Richtung Norden ein. Gleichzeitig lenkte der Erstbeklagte das Beklagtenfahrzeug von Norden in Richtung Süden. Auf dem oben beschriebenen 350 m langen geraden Straßenstück hatte er einen Sattelzug überholt. Danach hatte er sich wieder rechts hinter einem weiteren Lastkraftwagenzug eingeordnet und fuhr mehrere Autolängen hinter diesem nach. Er blickte zuerst rechts und dann links an diesem Lkw-Zug vorbei, wiederholte diese Beobachtung nochmals und setzte dann wieder zum Überholen an. Das Einfahren des Klagsfahrzeuges konnte er bei seinem Überholen nicht beobachten, weil diese Stelle durch den voranfahrenden Sattelzug abgedeckt war und auf der Geraden wegen der anschließenden Rechtskurve durch den vor- anfahrenden Lkw-Zug für ihn stets die Sicht auf den Bereich zwischen der Bezugslinie und 50 m nördlich davon (südlicher Kurvenbeginn) behindert war. Für die Klägerin war bei Einfahrbeginn kein Überholmanöver des Erstbeklagten ersichtlich und der von diesem gelenkte Pkw (durch den überholten Sattelzug verdeckt) nicht wahrnehmbar. Bei in der Folge wechselseitig gegebener erster Sicht war die Klägerin bereits zur Gänze auf die östliche Fahrbahnhälfte eingefahren. Der Erstbeklagte bemerkte das Klagsfahrzeug erstmals, als auch er auf der östlichen Fahrbahnhälfte im Zuge seines Überholmanövers mit der Front des Beklagtenfahrzeuges rund 12 m hinter der Frontpartie des Lkw-Zuges fuhr. Ohne Reaktionsverspätung setzte er in einer Position 153,5 m nördlich der Bezugslinie den Bremsentschluß, bremste sein Fahrzeug in der Folge auf ca 60 km/h ab und stieß in einer Position 66 m nördlich der Bezugslinie in einer Winkelstellung von ca 60 Grad mit der linken Vorderfront des Beklagtenfahrzeuges gegen die linke vordere Flanke des Klagsfahrzeuges. Dieses befand sich mit noch restlichen 20 km/h mit der Frontpartie bereits rund 2 m östlich der Fahrbahn in einer Winkelstellung von ca 50 Grad nach rechts verdreht. Das Beklagtenfahrzeug zeichnete zwei Spurenäste ab, deren linker in einer Position ca 84,8 m nördlich der Bezugslinie und deren rechter in einer Position 65,8 m nördlich der Bezugslinie den jeweils östlichen Fahrbahnrand überschritten. Die Klägerin wurde beim Unfall verletzt; beide Fahrzeuge wurden beschädigt.

Die Klägerin begehrte Schadenersatz in Höhe von S 550.294,60 samt Anhang (insbesondere Schmerzengeld, Kosten von Hilfskräften und Fahrzeugschaden) und die Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand für künftige Unfallsfolgen. Der Erstbeklagte habe die vor ihm fahrenden Sattelkraftfahrzeuge trotz unzureichender Sicht im Hinblick auf die für ihn gegebene Rechtskurve überholt und sei ihr mit überhöhter Geschwindigkeit begegnet. Sie sei in die Bundesstraße nach Blinkersetzung eingefahren, nachdem sie sich von der Gefahrlosigkeit dieses Manövers überzeugt habe. Trotz sofortiger Bremsung habe sie dann den Unfall nach Wahrnehmung des überholenden Beklagtenfahrzeuges nicht mehr vermeiden können. Den Erstbeklagten treffe daher das Alleinverschulden. Die Bremsausgangsgeschwindigkeit des Erstbeklagten habe zumindest 105 km/h betragen. Er habe sich auch nicht ausreichend von der Gefahrlosigkeit seines Überholmanövers überzeugt. Für sie sei beim Einfahren auf die östliche Fahrbahnhälfte kein hiedurch behinderter Verkehr wahrnehmbar und auch kein Fahrzeug in Überholposition erkennbar gewesen. Es falle ihr auch keine Reaktionsverspätung zur Last. Ihr sei schon im Hinblick auf den frontal und schnell auf ihrer Fahrbahnhälfte entgegenkommenden, sich grob verkehrswidrig verhaltenden Erstbeklagten auch eine "Schrecksekunde" zuzubilligen. Sie habe auch keinen Vorrang des Erstbeklagten verletzt.

Die Beklagten wendeten im wesentlichen ein, das Mitverschulden des Erstbeklagten sei nur darin zu erblicken, daß er im Zuge des Überholens mehrerer Lkws in der letzten Phase keine Sicht auf den Einfahrbereich der Klägerin gehabt und diese daher zu spät bemerkt habe. Das überwiegende Verschulden treffe aber die Klägerin, die vorrangverletzend in die Bundesstraße eingebogen sei und die die Vorbeifahrt des überholten Lkws hätte abwarten müssen. Ihr falle auch eine gravierende Reaktionsverspätung zur Last. Sie hätte bei einer Bremsung bei erster gegenseitiger Sicht 13 m vor der Unfallstelle kollisionsfrei anhalten können. Das Beklagtenfahrzeug habe nur mehr eine Auslaufstrecke von 9 m benötigt. Aufrechnungsweise werde eine Schadenersatzforderung von S 244.500,- eingewendet.

Das Erstgericht sprach aus, daß die Klagsforderung mit S 544.516,40 zu Recht und daß die eingewendete Gegenforderung nicht zu Recht besteht und daß die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand für alle künftigen Schäden aus dem Unfall haften, und verpflichtete die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 544.516,40 samt gesetzlichen Staffelzinsen. Unbekämpft abgewiesen wurde lediglich ein Begehren von S 5.857,60 sA und ein Zinsenmehrbegehren. Das Erstgericht stellte noch im wesentlichen fest, daß der Erstbeklagte eine Geschwindigkeit von 113 km/h beim Überholen eingehalten hat und daß von der ersten Sicht bis zum Anstoß 3,44 sec vergangen sind, in denen er 87,5 m zurückgelegt hat. Seine Anhaltestrecke hat bei durchschnittlich 6 m/sec2 Verzögerung theoretisch 107,5 m betragen. Hätte er mit nur 100 km/h überholt und auch prompt reagiert, hätte er rund 1 m vor der späteren Unfallstelle anhalten können und diese Position 2 sec später erreicht. Das Klagsfahrzeug hätte bei 20 km/h eine weitere Fluchtstrecke von ca 11 m gehabt und wäre damit aus dem Gefahrenbereich herausgekommen. Bei 100 km/h wäre für einen gefahrlosen Überholvorgang eine hier keinesfalls gegebene freie Sichtstrecke von 240 m technisch erforderlich gewesen. Hätte die Klägerin 20 oder 30 m vor dem Unfallpunkt einen Bremsentschluß gefaßt, wäre sie vor Erreichen der Unfallstelle zum Stillstand gekommen, hätte dann aber ein auf ihrer linken Fahrbahnhälfte entgegenkommendes Schwerfahrzeug und den auf ihrer Fahrbahnhälfte entgegenkommenden und überholenden Erstbeklagten vor sich gehabt. Ob dieser vor ihr anhalten oder die Fahrbahn verlassen würde, wäre für sie nicht absehbar gewesen.

Rechtlich folgerte das Erstgericht aus seinen Feststellungen das Alleinverschulden des Erstbeklagten, der mangels ausreichender Sicht unzulässig überholt und außerdem die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 14 km/h überschritten habe. Demgegenüber könne der Klägerin keine Vorrangverletzung angelastet werden, wenn auf der "ferneren" Fahrbahnhälfte ein Verkehrsteilnehmer unerwartet mit einem Überholmanöver beginne. Ihr nach dem Einfahren in die Bundesstraße gesetztes Verhalten sei nicht mehr nach den Vorrangsregeln, sondern nach denen des Be- gegnungsverkehrs zu beurteilen. Danach sei ihr auch keine verspätete oder fehlerhafte Reaktion nachzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß die Klagsforderung mit S 269.147,30 und die Gegenforderung mit S 122.250,- als zu Recht bestehend erkannt, die Beklagten zur Zahlung von S 146.897,30 samt Anhang verpflichtet, die Haftung der Beklagten für künftige Schäden der Klägerin im Ausmaß von 50 % festgestellt und das Mehrbegehren abgewiesen wurde. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision - mangels Rechtsfragen von über- geordneter Bedeutung - nicht zulässig sei. Dabei übernahm es den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt und führte zur Rechtsrüge folgendes aus:

Im Berufungsverfahren sei nicht mehr strittig, daß der Erstbeklagte ein im Sinne § 16 Abs 2 lit b StVO unzulässiges Überholmanöver durchgeführt habe, als er bei Annäherung an die Unfallstelle den zweiten Lkw-Zug zu überholen begann, und ihn jedenfalls ein 50 %iges Mitverschulden treffe.

In welcher Position der Erstbeklagte das zweite Überholmanöver begonnen habe, habe das Erstgericht festzustellen unterlassen. Nicht konkret festgestellt worden sei auch die Position des Erstbeklagten, als die Klägerin in die Bundesstraße 29 m nördlich der Bezugslinie Richtung Norden (aus ihrer Stillstandsposition 26 m nördlich der Bezugslinie) eingefahren sei. Unstrittig sei aber geblieben, daß der Erstbeklagte den Einfahrvorgang der Klägerin bei seinem Überholmanöver wegen des von ihm überholten sichtbehindernden Lkw-Zuges nicht habe beobachten können und auch für die Klägerin beim Einfahren das Beklagtenfahrzeug nicht sichtbar gewesen sei. Sicht habe aber aus der Startposition der Klägerin nach dem örtlichen Befund in Ankommrichtung des Erstbeklagten auf rund 500 m bestanden. Fest stehe auch, daß der Erstbeklagte vor Beginn des zweiten, letztlich zum Unfall führenden Überholmanövers auf dem (rund 350 m langen) geraden Straßenstück vor der in seiner Fahrtrichtung (zwischen 150 und 50 m nördlich der Bezugslinie) gegebenen Rechtskurve bereits einen Lkw-Zug überholt und sich danach wieder rechts eingeordnet gehabt habe, hinter dem zweiten Lkw-Zug in einem Abstand von mehreren Autolängen nachgefahren sei und noch vor dem zweiten Überholmanöver je zweimal rechts und links am voranfahrenden Lkw-Zug vorbei nach vor beobachtet gehabt habe. Damit müsse zwingend davon ausgegangen werden, daß das Beklagtenfahrzeug vor seinem zweiten Überholmanöver in der Reihe der von Norden herannahenden Fahrzeuge einmal zumindest mit der rechten Flanke aus der Startposition der Klägerin sichtbar gewesen sein mußte.

Aber selbst wenn dies nicht zutreffen sollte, sei davon auszugehen, daß dem Erstbeklagten der Vorrang gegenüber dem von der Klägerin gelenkten Fahrzeug zugekommen sei. Der Vorrang beziehe sich auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße und gehe auch dann nicht verloren, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhalte, etwa indem er mit überhöhter Geschwindigkeit fahre oder sein Fahrzeug auf die linke Fahrbahnhälfte bewege. Wenngleich eine Vorrangverletzung dann nicht angelastet werden könne, wenn das bevorrangte Fahrzeug nicht wahrnehmbar sei, gelte dies nur für den Fall, daß es dem Wartepflichtigen auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich gewesen sei, das andere Fahrzeug wahrzunehmen, nicht aber dann, wenn das Nichtwahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen sei. Nach ständiger Rechtsprechung habe sich der benachrangte Kfz-Lenker, um eine ihm obliegende Wartepflicht erfüllen zu können, dann, wenn es die schlechten Sichtverhältnisse erforderten, äußerst vorsichtig der bevorrangten Straße zu nähern und sich auf diese gegebenenfalls vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen. Diese Vorsichtsmaßnahmen seien nicht nur beim Einfahren in eine vom Wartepflichtigen vorerst nicht einsehbare Verkehrsfläche einzuhalten, sondern auch dann, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden könne, das erforderlich sei, um mit Sicherheit beurteilen zu können, daß durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die von dort herankommen könnten, behindert würden. Die Klägerin habe auch nicht unter allen Umständen damit rechnen dürfen, daß die linke Fahrbahnseite der bevorrangten Straße frei sei, weil immerhin die Möglichkeit bestanden habe, daß ein Benützer der Vorrangstraße ein Überholmanöver nicht mehr rechtzeitig abbrechen könnte. Eine allfällige Sichtbehinderung durch den Kurvenverlauf und den überholten Lkw-Zug hätte die Klägerin berücksichtigen müssen. Es sei weder behauptet noch festgestellt worden, daß sie sich solcherart vorsichtig bei ihrem Start aus dem ruhenden Verkehr und dem nachfolgenden Einfahren auf eine Bundesstraße im Freilandgebiet verhalten hätte. Daß letztlich im Augenblick des tatsächlichen Einfahrens das Beklagtenfahrzeug für sie durch den überholten Lkw-Zug verdeckt gewesen sei, vermöge sie von einer Vorrangverletzung nach § 19 Abs 3 und 6 StVO nicht zu entlasten.

Die Klägerin habe aber nicht nur diese Vorrangverletzung zu vertreten, sondern könne sich derentwegen auch nicht auf eine entschuldbare Fehlreaktion berufen, nachdem sie das auf "ihrer" Fahrbahnhälfte entgegenkommende Beklagtenfahrzeug erstmals gesehen habe Ihr seien nämlich noch 3,44 sec für eine unfallvermeidende Reaktion zur Verfügung gestanden. Das Erstgericht sei von einer Geschwindigkeit von 20 km/h und davon ausgegangen, daß sie bei Fassung eines Bremsentschlusses 20 bis 30 m vor der späteren Unfallstelle noch vor dieser zum Stillstand kommen hätte können. Bei 20 km/h habe die Klägerin in 3,44 sec bis zum Unfallpunkt 19 m zurückgelegt. Bei sofortiger Bremsreaktion hätte die Klägerin aus dieser Geschwindigkeit ihr Fahrzeug jedenfalls innerhalb von 10 m anhalten können. Davon, daß das Unterbleiben der sofortigen Bremsung nicht unfallkausal gewesen sei, könne demnach hier nicht ausgegangen werden, habe das Beklagtenfahrzeug doch im späteren, ca 10 m weiter nördlich gelegenen Unfallpunkt die Fahrbahn mit der Vorderfront tangential verlassen.

Sowohl die Verletzung des Vorranges, noch dazu gemäß § 19 Abs 3 und 6 StVO, als auch der Verstoß gegen das Überholverbot des § 16 Abs 2 lit b StVO hätten bei der nach § 1304 ABGB vorzunehmenden Abwägung wegen der jeweils gegebenen besonderen Gefährlichkeit besonderes Gewicht. Berücksichtige man weiters die vom Erstbeklagten zu vertretende Geschwindigkeitsüberschreitung und die Fehlreaktion der Klägerin, die beide für sich als unfallskausal anzusehen seien, erscheine die von den Beklagten angestrebte Verschuldensteilung von 1 : 1 tatsächlich angemessen.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das Leistungsbegehren (unter Zugrundezulegung der Höhe des vom Berufungsgericht ermittelten Gesamtschadens) mit S 543.194,60 und das Feststellungsbegehren zur Gänze als zu Recht bestehend erkannt werde; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die Beklagten beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen oder ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist im Interesse der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.

Die Rechtsmittelwerberin macht zusammengefaßt geltend, sie verantworte keine Vorrangverletzung, weil das gegnerische Fahrzeug für sie bei der Einfahrt in die Bundesstraße nicht wahrnehmbar gewesen sei. Auch das Unterlassen einer sofortigen Bremsung könne ihr nicht als Mitverschulden angelastet werden, weil es in der damaligen Gefahrensituation aus ihrer Sicht sinnvoller gewesen sei, im Hinblick auf die entgegenkommenden Fahrzeuge nach rechts auszulenken als bremsend auf der Fahrbahn zu bleiben.

Dem ist im wesentlichen zuzustimmen.

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung einer Vorrangverletzung durch die Klägerin zwar berücksichtigt, daß sie dann nicht angelastet werden kann, wenn das bevorrangte Fahrzeug nicht wahrnehmbar war; dies allerdings nur dann, wenn es dem Wartepflichtigen auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich war, das andere Fahrzeug wahrzunehmen, nicht aber dann, wenn das Nichtwahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen ist (RIS-Justiz RS0074873). Während in den Fällen der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen 2 Ob 47/94 = ZVR 1995/109 und 2 Ob 69/85 = ZVR 1997/16 das bevorrangte Fahrzeug für den Benachrangten jeweils erkennbar gewesen wäre, trifft dies im vorliegenden Fall im Hinblick auf die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen nicht zu. Danach war bei der Einfahrt der Klägerin in die Bundesstraße der gegnerische Pkw für sie nicht wahrnehmbar und ein Überholmanöver nicht ersichtlich. Selbst wenn der Schluß des Berufungsgerichts, das gegnerische Fahrzeug müsse vor seinem zweiten Überholmanöver in der Reihe der von Norden herannahenden Fahrzeuge einmal zumindest mit der rechten Flanke aus der Startposition der Klägerin sichtbar gewesen sein, richtig sein sollte, durfte die Klägerin darauf vertrauen, daß ein verbotenes Überholmanöver eines der in der Kolonne fahrenden Fahrzeuge unterbleiben würde.

Der Klägerin kann daher nicht angelastet werden, sie hätte das gegnerische Fahrzeug wegen eines eigenen Fehlverhaltens nicht wahrgenommen. Sie durfte auch im Sinne der in der Revisionsbeantwortung zitierten Entscheidung ZVR 1986/27 davon ausgehen, daß sie ohne Gefährdung oder Behinderung eines im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmers nach rechts in die Bundesstraße einfahren könne. Eine Verpflichtung, dies erst dann zu tun, wenn sich weder von links noch von rechts ein Fahrzeug näherte, bestand nicht. Es gab unter den festgestellten Umständen keinen Anlaß, sich in die bevorrangte Bundesstraße bloß "vorzutasten", wie das Berufungsgericht meinte. Der Vorwurf einer Vorrangverletzung ist somit unbegründet.

Nach ständiger Rechtsprechung liegt auch dann kein Mitverschulden vor, wenn ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen wird und unter dem Eindruck dieser Gefahr eine - rückschauend betrachtet - unrichtige Maßnahme trifft (RIS-Justiz RS0023292; Reischauer in Rummel2 § 1304 Rz 12 mwN).

Die Klägerin hat nun, statt zu bremsen, nach rechts verrissen, weshalb sich ihr Fahrzeug im Unfallszeitpunkt mit der Front bereits etwa 2 m außerhalb der Fahrbahn in einer Winkelstellung von ca 50 Grad nach rechts verdreht befand. Hätte sie 20 oder 30 m vor der Kollisionsstelle einen Bremsentschluß gefaßt, so wäre zwar ihr Fahrzeug vor Erreichen des Unfallpunktes zum Stillstand gekommen. Sie hätte dann aber ein auf der (in ihrer Fahrtrichtung gesehen) linken Fahrbahnhälfte entgegenkommendes Schwerfahrzeug und den auf der rechten Fahrbahnhälfte entgegenkommenden Erstbeklagten als Überholer vor sich gehabt und hätte darauf hoffen müssen, daß es diesem noch gelingen würde, eine Kollision zu vermeiden. Wenn sie es nicht darauf ankommen ließ, sondern - statt zu bremsen und auf ihr Schicksal zu warten - nach rechts von der Fahrbahn "flüchtete", ist dies als entschuldbare Schreckreaktion zu werten.

Das Verschulden des Erstbeklagten am Unfall ist im drittinstanzlichen Verfahren unstrittig. Mangels Mitverschuldens der Klägerin trifft ihn das Alleinverschulden, wie schon das Erstgericht richtig erkannt hat. Dessen Urteil war daher - im beantragten Umfang - wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 43 Abs 2, § 50 ZPO.

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