OGH 2Ob70/98b

OGH2Ob70/98b19.3.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Friedrich M*****, vertreten durch Puttinger, Vogl & Partner, Rechtsanwälte in Ried i. I., wider die beklagten Parteien 1.) Peter S*****, und 2.) ***** Versicherungs-AG, ***** beide vertreten durch Dr.Franz J.Rainer und Dr.Hans-Moritz Pott, Rechtsanwälte in Schladming, wegen S 59.566,90 sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Berufungsgerichtes vom 27.Oktober 1997, GZ 21 R 374/97t-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Bad Ischl vom 15.Mai 1997, GZ 3 C 1536/96g-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 5.358,14 (darin enthalten USt von S 893,02, keine Barauslagen) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 1.7.1995 ereignete sich gegen 16.15 Uhr im Gemeindegebiet vom Bad Ischl auf der Weißenbachstraße beim Straßenkilometer 10,08 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter ines PKW und der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei versicherten Motorrades beteiligt waren. Die Haftpflichtversicherung des Klägers zahlte an den Erstbeklagten S 200.000,--, dessen Klage auf Zahlung weiterer S 109.653,85 wurde rechtskräftig abgewiesen.

Die zweitbeklagte Partei zahlte an den Kläger insgesamt S 59.566,--.

Mit Strafverfügung des Bezirksgerichtes Bad Ischl wurde der Kläger der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4, 1. Fall StGB für schuldig erkannt, weil er als Lenker eines PKW unvorsichtig und unaufmerksam von einem Parkplatz in die Weißenbach-Bundesstraße eingefahren sei und dadurch den Erstbeklagten verletzt habe.

Zur Begründung der vorliegenden, auf Zahlung von S 59.566,90 sA gerichteten Schadenersatzklage brachte der Kläger vor, er habe den Erstbeklagten zur Zeit seines Einfahrens in die Bundesstraße noch nicht sehen können. Der Erstbeklagte habe eine Geschwindigkeit von 110 km/h eingehalten, obwohl nur eine solche von 65 km/h zulässig gewesen wäre. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Erstbeklagten.

Die Beklagten wendeten ein, dem Kläger sei eine Vorrangverletzung anzulasten. Er sei von einer Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO in die Bundesstraße eingefahren, ohne auf den Vorrang des von links herannahenden Erstbeklagten zu achten. Hätte sich der Kläger zentimeterweise in die Bundesstraße hineingetastet, so hätte er bei aufmerksamer Fahrweise den herannahenden Erstbeklagten rechtzeitig erkennen und den Unfall verhindern können. Überdies hätte er auf dem Parkstreifen auch reversieren und dadurch in die gleiche Fahrtrichtung wie der Erstbeklagte in die Straße einfahren können. Schließlich sei ihm auch vorzuwerfen, daß er einen Abstellplatz gewählt habe, von dem aus er beim Wiedereinfahren in die Straße nur schlechte Sichtmöglichkeit gehabt habe. Das überwiegende Verschulden treffe somit den Kläger. Hilfsweise wendeten die beklagten Parteien den dem Erstbeklagten entstandenen Schaden von S 412.871,80 abzüglich der bereits geleisteten Akontozahlung von S 200.000,-- aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es im wesentlichen folgende Feststellungen traf:

Vor der Unfallstelle verläuft die Bundesstraße in Fahrtrichtung des Erstbeklagten zunächst über eine längere Strecke gerade und geht dann in eine Rechtskurve über. Nach der Rechtskurve befindet sich rechts neben der Fahrbahn eine geschotterte, nicht besonders gekennzeichnete Fläche mit einer Länge von 18 m und einer größten Breite von 4 m. An der Kurveninnenseite verläuft eine Leitschiene. Nach der Kurve folgt ein etwa 20 m langes gerades Straßenstück, danach eine abfallende Linkskurve. In Fahrtrichtung des Erstbeklagten gesehen links befindet sich im beschriebenen Bereich der Einmündungstrichter zweier Forststraßen. Durch die in der Kurveninnenseite der beschriebenen Rechtskurve befindliche Böschung und die dort außerhalb der Leitschiene stehenden Bäume und Büsche besteht eine Sichteinschränkung. Der Erstbeklagte hatte bei Einhaltung einer Fahrlinie an der Fahrbahnmitte eine Sicht auf den rechten Fahrbahnrand auf Höhe der Kollisionsstelle von maximal 60 m. 1 m innerhalb des rechten Fahrbahnrandes befindliche Hindernisse konnte er aus einer Entfernung von etwa 66 m erkennen. Auf die linke Fahrbahnhälte betrug die Sicht fast 100 m. Der Kläger konnte aus einer Position an der Fluchtlinie der Bundesstraße ein sich von links an der Leitlinie näherndes Fahrzeug ebenfalls auf eine Entfernung von 60 m erkennen. Aus einer Sitzposition etwa 1,5 m außerhalb der Flucht der Fahrbahn (Fahrzeugfront an der Straßenflucht) betrug die Sichtweite nur rund 50 m. Aus dem schräg gegenüberliegenden Einmündungstrichter der Forststraßen hätte die Sicht mehrere 100 m betragen. Die Unfallstelle liegt im Freilandgebiet, Geschwindigkeitsbeschränkungen sind nicht verordnet. Die Straße ist zwischen den Randlinien 6 und zwischen den Asphalträndern 6,9 m breit.

Der Erstbeklagte näherte sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 110 km/h. Vor der Rechtskurve fuhr er an der Leitlinie. Er wollte sein mit Abblendlicht beleuchtetes Enduro-Motorrad sodann im Kurvenverlauf wieder nach rechts ziehen. 3,4 Sekunden vor dem späteren Zusammenstoß war er noch 91 m von der Unfallstelle entfernt. Bei einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden leitete er 2,5 Sekunden vor dem Anstoß in einer Entfernung von 66 m zur Unfallstelle ohne nachweisbaren Verzug eine Bremsreaktion ein. Zu diesem Zeitpunkt war der PKW des Klägers rund 1,5 m in die Bundesstraße eingefahren. Durch die Bremsverzögerung von etwa 6 m/sek2 zeichnete sich vom Motorrad eine 21,45 m lange Bremsspur ab. Der Erstbeklagte brach jedoch dann seine Bremsung ab oder verringerte zumindest ihre Intensität. Er kam mit seinem Motorrad schräg nach links und befand sich beim Zusammenstoß etwa in der Mitte seiner linken Fahrbahnhälfte, wo er mit einer Restgeschweindigkeit zwischen 70 und 80 km/h gegen die linke vordere Ecke des noch in einer Schrägstellung von 45 Grad befindlichen PKW des Klägers stieß. Der Anhalteweg des Erstbeklagten hätte rund 104 m betragen.

Der Kläger hatte seinen PKW auf der oben beschriebenen geschotterten Fläche fahrbahnparallel abgestellt, und zwar mit der Front gegen die Fahrtrichtung des Erstbeklagten. Beim Ausfahren aus dieser Fläche brachte er sein Fahrzeug zunächst in eine leichte Schrägstellung zur Bundesstraße, aus der er eine Sicht auf aus Richtung des Erstbeklagten kommende Fahrzeuge von maximal 45 m hatte. Sodann fuhr er mit normaler Anfahrbeschleunigung und einem anfänglich kleineren und dann ungefähr 45 Grad messenden Winkel schräg gegen die Fahrtrichtung des Erstbeklagten in die Bundesstraße ein, wobei er zunächst die von diesem benützte Fahrbahnhälfte überqueren mußte. Bis zur Kollision legte er in 3,4 Sekunden eine Strecke von 8,5 m zurück und erreichte eine Geschwindigkeit zwischen 10 und 15 km/h. Als er mit seinem Einfahrmanöver begann, war der Erstbeklagte noch 91 m entfernt und daher für den Kläger noch nicht sichtbar. Tatsächlich konnte der Kläger das Motorrad etwa 1,4 - 1,5 Sekunden nach Beginn seines Einfahrmanövers erkennen, was bei der Zugrundelegung einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden frühestens 2,2 - 2,3 Sekunden nach dem Losfahren das Wirksamwerden einer Bremsung ermöglicht hätte. Zu diesem Zeitpunkt hätte der PKW bereits etwa 3,6 bis 4 m zurückgelegt und eine Geschwindigkeit von rund 12 km/h erreicht gehabt. Unter Berücksichtigung der erforderlichen Bremsstrecke wäre er ca 4,5 bis 5,1 m nach dem Losfahren wieder zum Stillstand gekommen, wobei sein PKW die Fahrbahnhälfte des Erstbeklagten allerdings völlig und die andere Fahrbahnhälfte noch teilweise blockiert hätte. Der Erstbeklagte wäre in diesem Fall zwar bei der von ihm eingehaltenen schräg nach links führenden Fahrlinie vor dem PKW vorbeigekommen, jedoch dann mit größter Wahrscheinlichkeit nach links von der Straße abgekommen. Tatsächlich entschloß sich der Kläger bei Erkennen des herannahenden Motorrades jedoch nicht zu einer Bremsung, sondern ohne nachweisbaren Verzug zum Weiterfahren, weil er meinte, der Erstbeklagte könne dann hinter seinem Fahrzeug passieren. Diese Reaktion war aus technischer Sicht nicht verfehlt, weil für den Kläger zur Zeit der Reaktion noch nicht erkennbar war, ob der Erstbeklagte auf seiner Fahrbahnhälfte bleiben oder nach links kommen werde.

Um dem Gebot des Fahrens auf Sicht zu entsprechen, hätte der Erstbeklagte bei einer Sichtweite im Kurvenlauf von 60 m nur eine Geschwindigkeit von 70 km/h einhalten dürfen. Hätte er statt der Vollbremsung nur eine noch spurhaltende starke Bremsung eingeleitet, hätte er bei Einhaltung einer Fahrlinie etwa 0,7 m innerhalb des rechten Fahrbahnrandes hinter dem PKW des Klägers passieren können. Der Kläger hätte bei sonst gleichen Umständen bei Beginn seines Einfahrmanövers wegen der etwas mehr als 1,5 m außerhalb des Fahrbahnrandes liegenden Sitzposition auch ein sich mit bloß 70 km/h Geschwindigkeit annäherndes Motorrad noch nicht wahrnehmen können. Er hätte sich schrittweise in die Fahrbahn vortasten können. Ein wirklich sicheres Einfahren wäre nur mit Hilfe eines Einweisers möglich gewesen, der dem Kläger jedoch nicht zur Verfügung stand. Bei einem Eintasten in die bevorrangte Bundesstraße in Etappenschritten von etwa 30 - 40 cm wäre die rechte Fahrbahnhälfte des Erstbeklagten mindestens 4 bis 5 Sekunden versperrt gewesen. Ein aus der Fahrtrichtung des Erstbeklagten kommender Verkehrsteilnehmer wäre dadurch zu einem vollen Abbremsen gezwungen gewesen, um einen Unfall gerade noch zu verhindern. Bei einem vortastenden Fahren des Klägers wäre der Unfall unter Umständen vermeidbar gewesen, weil der PKW noch nicht im Bereich der Kollisionsstelle gewesen wäre, als das Motorrad seine Fahrlinie kreuzte. Es wäre jedoch auch in diesem Fall ein Abkommen des Motorrades von der Fahrbahn wahrscheinlich gewesen.

Wenn sich der Kläger in die Bundesstraße vorgetastet hätte, wäre er nach einer Zeit von 3,4 Sekunden etwa 1,5 m in die Fahrbahn eingefahren gewesen. Er sah den Erstbeklagten tatsächlich nach einer Einfahrzeit von etwa 1,5 Sekunden. Nach 1,5 Sekunden hatte er noch keine weite Fahrstrecke zurückgelegt, sondern befand sich mit der Sitzposition noch etwa außerhalb des Fahrbahnrandes. Bei einem Vortasten hätte er sein Fahrzeug in dieser Position zum Stillstand bringen können. Der Erstbeklagte hätte bei Annäherung das schrittweise Eintasten des Klägers erkennen können, selbst wenn der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch keine Sicht auf das Motorrad gehabt hätte.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, der Erstbeklagte habe massiv gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht verstoßen. Der Kläger hätte durch Vortasten in mehreren Etappen die Sicht so weit verbessern können, daß er sein Fahrzeug vor vollständiger Blockade der Fahrbahnhälfte des Erstbeklagten anhalten hätte können. Außerdem hätte bei einer solchen Fahrweise der Erstbeklagte auf das Fahrzeug des Klägers reagieren können. Bei Inanspruchnahme eines Einweisers hätte das Einfahrmanöver überhaupt völlig problemlos abgewickelt werden können. Unter Berücksichtigung der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung des Erstbeklagten und der vom Kläger begangenen Vorrangverletzung sei eine Verschuldensteilung von 1:1 gerechtfertigt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge; es sprach aus, die ordentliche Revision sei zulässig.

Zur Rechtsfrage wies das Berufungsgericht darauf hin, daß die rechtskräftige Strafverfügung des Bezirksgerichtes Bad Ischl im Zivilprozeß keine Bindungswirkung entfalte (2 Ob 72/97w). Dennoch könne nicht von einem Alleinverschulden des Erstbeklagten am Unfall ausgegangen werden, weil dem Kläger eine Vorrangverletzung anzulasten sei. Grundsätzlich setze die Anwendung der Bestimmungen über den Vorrang die Wahrnehmung des anderen Fahrzeuges voraus (MGA StVO9 § 19 E 25 und 245). Der im Nachrang befindliche Verkehrsteilnehmer habe seine Fahrweise jedoch so einzurichten, daß er in der Lage sei, unter Berücksichtigung der örtlichen Sichtverhältnisse den Vorrang wahren zu können. Seien die Sichtverhältnisse ungünstig, so sei es in erster Linie seine Sache, dieser Sichtbehinderung Rechnung zu tragen (ZVR 1980/337). Es werde daher auch von einem Fahrzeuglenker, der von einer nach § 19 Abs 6 StVO benachrangten Verkehrsfläche komme, verlangt, sich bei schlechten Sichtverhältnissen äußerst vorsichtig auf die Fahrbahn der bevorrangten Straße vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen (ZVR 1979/297). Vortasten bedeute, daß äußerst langsam, schrittweise und, wenn notwendig, in mehreren Etappen in die bevorrangte Verkehrsfläche eingefahren wird, um den Vorrang allenfalls herankommender Verkehrsteilnehmer wahren zu können. Diese Vorsichtsmaßnahmen seien auch dann einzuhalten, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden könne, das erforderlich sei, um mit Sicherheit beurteilen zu können, daß durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert werden (ZVR 1987/66). Während des Vortastens sei im Fall des Auftauchens eines vorrangberechtigten Fahrzeuges das beabsichtigte Einbiegen abzubrechen. Sei kein vorrangberechtigtes Fahrzeug zu erkennen, dann habe der Wartepflichtige ab dem Erreichen des Punktes, von dem er die erforderliche Sicht habe, die vorrangige Verkehrsfläche zügig zu überqueren (ZVR 1981/270). Hingegen bedeute ein langsames Einfahren in einem Zug bei besonders schlechten Sichtverhältnissen schon eine Vorrangverletzung (ZVR 1980/337). Ein Einweiser sei dagegen nur dann beizuziehen, wenn beim Einfahren aus einer Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO die Sichtverhältnisse so schlecht seien, daß auch ein Vortasten unmöglich sei. Die Bestimmung des § 13 Abs 3 StVO über die Beiziehung eines Einweisers sei nur für extreme Fälle gedacht, in denen nach den Umständen des Einzelfalls damit gerechnet werden müsse, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer selbst bei vorschriftsmäßiger Fahrweise schwer oder überhaupt nicht mehr einen Zusammenstoß mit dem für ihn plötzlich auftauchenden Fahrzeug verhindern könne. Dabei dürfe der wartepflichtige Lenker grundsätzlich von der Voraussetzung ausgehen, daß allfällige andere, von ihm derzeit noch nicht wahrnehmbare Verkehrsteilnehmer sich vorschriftsmäßig verhalten, vor allem die zulässige Geschwindigkeit nicht überschreiten (ZVR 1981/270).

Im vorliegenden Fall sei es nicht notwendig gewesen, einen Einweiser beizuziehen, weil der Kläger nicht damit rechnen habe müssen, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer mit so hoher Geschwindigkeit fahren werde, daß er selbst bei einem vortastenden Einfahren in die Bundesstraße einen Zusammenstoß mit einem Fahrzeug nur schwer oder überhaupt nicht mehr vermeiden können werde. Hätte sich der Kläger vorgetastet, dann hätte er sein Fahrzeug in einer Position zum Stillstand bringen können, in der es nur gering in die Fahrbahn hineingeragt hätte. In diesem Fall hätte der Erstbeklagte noch vor dem Fahrzeug des Klägers passieren können. Es sei dabei unerheblich, daß der Erstbeklagte auch in diesem Fall sehr wahrscheinlich von der Fahrbahn abgekommen wäre. Bei den Vorrangbestimmungen des § 19 StVO handle es sich nämlich um Schutzgesetze. Im Falle der Übertretung einer Schutznorm obliege dem Übertreter der Beweis dafür, daß der Schaden auch im Fall vorschriftsmäßigen Verhaltens eingetreten wäre; er könne sich von der Haftung nur befreien, wenn er beweise, daß es auch ohne die Verletzung der Schutznorm zum Schaden gekommen wäre (MGA ABGB34 § 1311 E 39 f). Dieser Beweis sei dem Kläger jedoch nicht gelungen. Es sei ihm eine Vorrangverletzung anzulasten, weil er sich nicht auf die bevorrangte Fahrbahn vorgetastet habe, sondern in einem Zug in diese eingefahren sei. Die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 1:1 sei nicht zu beanstanden.

Die ordentliche Revision an den Obersten Gerichtshof erachtete das Berufungsgericht für zulässig, weil Verkehrssituationen wie die vorliegende häufig vorkommen und die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nicht ganz einheitlich sei; in der Entscheidung ZVR 1977/36 sei ausgesprochen worden, daß eine Vorrangverletzung nicht vorliege, wenn ein Lenker ein auf der bevorrangten Fahrbahn kommendes Fahrzeug erst im Zeitpunkt seines eigenen Einfahrens in die bevorrangte Straße erkennen könne und in dieser Lage trachte, die dem sich annähernden Fahrzeug zustehende Fahrbahnhälfte so schnell wie möglich zu räumen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise werde ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagten Parteien haben in der Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen, in eventu, ihm keine Folge zu geben.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht aufgezeigten Gründen zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Der Kläger macht in seinem Rechtsmittel geltend, es sei die Geschwindigkeit des Erstbeklagten zu hoch gewesen, um einen Unfall durch "Eintasten" zu verhindern. Hätte er sich rechtmäßig im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichtes verhalten, wäre derselbe Schaden eingetreten. Bei einem Vortasten hätte er sich zur Erreichung der notwendigen Sichtweite so weit vortasten müssen, daß er dadurch die gesamte Fahrbahnhälfte des Erstbeklagten für mindestens 4 - 5 Sekunden versperrt hätte. Ein solches Fahrmanöver könne wohl nicht ernstlich als normgerecht bezeichnet werden; ein schrittweises Vortasten sei zwar technisch möglich, aber unzweckmäßig und gefahrenträchtiger als ein Einfahren in einem Zug, weil es zu einer erheblich länger dauernden Blockierung mindestens der gesamten rechten Fahrbahnhälfte führen würde. Nach einer Fahrzeit von etwa 1,5 Sekunden wäre der erste Sichtkontakt mit dem Motorrad möglich gewesen, in dieser Position hätte er aber bereits 1,7 m der Fahrbahn des Erstbeklagten blockiert und wäre auch in diesem Fall ein Abkommen des Motorrades von der Fahrbahn sehr wahrscheinlich gewesen. Sein Entschluß zum Weiterfahren sei nicht verfehlt gewesen, weil er unter Berücksichtigung der notwendigen Bremsung ohne Reaktionsverzug erst nach 4,5 bis 5 m zum Stillstand gekommen wäre. In dieser Position hätte er die ganze rechte Fahrspur und auch einen Teil der linken Spur verdeckt. Der Unfall sei letztendlich durch die überhöhte Geschwindigkeit und die falsche Reaktion des Erstbeklagten allein verschuldet worden, weil ihm auch bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h durch eine in dieser Situation gebotene spurhaltende starke Bremsung ein Passieren hinter dem PKW möglich gewesen wäre.

Er (Kläger) hätte gemäß § 3 StVO darauf vertrauen dürfen, daß der für ihn uneinsehbare Straßenbereich nicht von einem mit mindestens 100 km/h fahrenden Motorradfahrer befahren werde. Ein noch 45 m (Sichtweite des Klägers) entfernter und mit 70 km/h auf Sicht fahrender Motorradfahrer - mit dessen Auftreten er allerdings rechnen hätte müssen - hätte bei gehöriger Aufmerksamkeit und nur geringfügiger Ermäßigung seiner Geschwindigkeit sein Eintreffen an der Querungslinie derart hinauszögern können, daß der einfahrende PKW die rechte Fahrbahnhälfte räumen und er hinter dem PKW vorbeifahren hätte können. Er sei daher nicht verpflichtet gewesen, sich vorzutasten; gerade ein Einbiegen ohne Zögern hätte gewährleistet, daß Fahrzeuge, die während des Einbiegens des Klägers mit zulässiger Geschwindigkeit in dessen Sichtbereich gelangen, nicht behindert werden.

Hiezu wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Zunächst kann gemäß § 510 Abs 3 ZPO auf die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichtes verwiesen werden, sie entsprechen auch der erst vor kürzerer Zeit ergangenen Entscheidung ZVR 1997/16.

Im zu entscheidenden Fall hätte der Erstbeklagte, hätte er dem Gebot des Fahrens auf Sicht entsprochen, noch vor dem PKW des Klägers stehen bleiben oder diesem ausweichen können. Der Kläger hätte sich aber wegen der schlechten Sichtverhältnisse vortasten müssen, um die notwendige Sicht zu gewinnen. Hätte er sich vorgetastet, dann hätte er sein Fahrzeug in einer Position zum Stillstand bringen können, in der es nur gering in die Fahrbahn der Bundesstraße hineingeragt hätte. In diesem Fall hätte der Erstbeklagte trotz der von ihm eingehaltenen Geschwindigkeit noch vor dem Fahrzeug des Klägers passieren können. Daß der Erstbeklagte auch in diesem Fall sehr wahrscheinlich von der Fahrbahn abgekommen wäre, ist, wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend dargelegt hat, unbeachtlich, weil im Fall der Übertretung einer Schutznorm dem Übertreter der Beweis dafür obliegt, daß der Schaden auch im Fall vorschriftsmäßigen Verhaltens eingetreten wäre (RIS-Justiz RS0027364; Harrer in Schwimann, ABGB2 Rz 53 zu § 1302; siehe auch Karollus, Praktische Probleme der Schutzgesetzhaftung, insb im Verkehrshaftpflichtrecht ZVR 1994, 129 [137 f]). Die hier noch verbleibende Ungewißheit geht daher zu Lasten des Klägers (ZVR 1969/255; ZVR 1985/1; ZVR 1990/119 ua).

Die in der Entscheidung ZVR 1977/36 vertretene Ansicht, es liege keine Vorrangverletzung vor, wenn das Fahrzeug im Fließverkehr nicht rechtzeitig wahrgenommen werden könne, kann in dieser allgemeinen Form nicht aufrechterhalten werden, vielmehr muß, wie schon oben dargelegt, äußerst langsam, schrittweise und, wenn notwendig, in mehreren Etappen in die bevorrangte Verkehrsfläche eingefahren werden, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, das erforderlich ist, um mit Sicherheit beurteilen zu können, daß durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert werden. Schon ein langsames Einfahren in einem Zug bedeutet bei besonders schlechten Sichtverhältnissen eine Vorrangverletzung (ZVR 1980/337).

Der Revision der klagenden Partei war sohin keine Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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