OGH 10ObS2460/96d

OGH10ObS2460/96d28.1.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz P*****, Pensionist, ***** vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr.Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen das Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. September 1996, GZ 8 Rs 221/96y-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 6.März 1996, GZ 21 Cgs 127/95i-10, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

In der Sache selbst wird das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt.

Der Kläger hat die Kosten seiner Rekursbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 26.9.1929 geborene Kläger erkrankte im Jahr 1956 an einer schweren Kinderlähmung. Als deren Folge sind Teilparesen der Arme, der Beine, der Muskulatur des Brustkorbes und des Bauchraumes verblieben. Der Kläger zeigt einen hinkenden, nach vorne übergebeugten Gang mit großen Gangunsicherheiten, er muß sich an Gegenständen festhalten, um den Gang zu stabilisieren. Es bestehen Schmerzen durch arthrotische Veränderung beider Kniegelenke, aber auch beider Hüftgelenke und der Fingergelenke; diese sind eine Spätfolge der Kinderlähmung. Weiters besteht eine ausgeprägte Abnützung der gesamten Wirbelsäule. Der Kläger kann zwar noch die tägliche Körperpflege vornehmen, sich aber nicht mehr selbständig duschen oder ein Vollbad nehmen; er benötigt fremde Hilfe, um in eine Duschkabine zu kommen oder um eine Badewanne zu benützen. Das Einnehmen von Mahlzeiten ist ihm möglich, nicht jedoch das Zubereiten von Mahlzeiten. Für das komplette An- und Auskleiden benötigt er fremde Hilfe. Eine Mobilitätshilfe im engeren Sinn ist noch nicht erforderlich, weil er ohne fremde Hilfe aufstehen, zu Bett gehen und im Wohnungsbereich gehen und stehen kann. Die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten ist ihm nicht mehr zumutbar. Weiters braucht er Hilfe bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände wie auch der Pflege der Leib- und Bettwäsche. Da das Haus elektrisch beheizt wird, besteht kein Hilfsbedarf für die Beheizung des Wohnraumes oder die Herbeischaffung von Heizmaterial. Eine Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ist erforderlich. Schließlich benötigt der Kläger fremde Hilfe für physikalische Maßnahmen "bezüglich seiner Schmerzzustände". Hiebei handelt es sich um Bewegungsübungen, um Einreibungen und um ein physikalisches Bewegungsprogramm (die sogenannte Vojta-Therapie). Diese Maßnahmen werden von der Gattin des Klägers durchgeführt, die während eines Aufenthalts im Rheuma-Krankenhaus Baden eingeschult wurde. Diese physikalischen Maßnahmen erfordern einen täglichen Aufwand von einer Stunde.

Mit Bescheid vom 27.2.1995 gewährte die beklagte Partei den Kläger ab 1.1.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 von monatlich S 2.635,-.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrte der Kläger die Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß und begründete dies im wesentlichen damit, daß sein schlechter Gesundheitszustand und das zeitliche Ausmaß des Pflegebedarfes die Gewährung von Pflegegeld einer höheren Stufe rechtfertige.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der ständige Pflegebedarf überschreitet nicht 75 Stunden monatlich, sodaß nur Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 bestehe.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.1.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 2, also monatlich S 3.688,- zu zahlen. Aus den Feststellungen ergebe sich, daß der Pflegebedarf des Klägers für das Duschen bzw das Baden 4 Stunden, für die Zubereitung von Mahlzeiten 30 Stunden, für das tägliche An- und Auskleiden 20 Stunden, für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten 10 Stunden, für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände 10 Stunden, für die Pflege der Leib- und Bettwäsche weitere 10 Stunden und für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ebenfalls 10 Stunden betrage. Insgesamt ergebe sich ein Pflegebedarf von 94 Stunden im Monat, sodaß ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 bestehe. Zu dem vom Kläger zusätzlich angeführten Zeitaufwand zur Anwendung der sogenannten Vojta-Therapie sei auszuführen, daß derartige Maßnahmen Leistungen aus der Krankenversicherung darstellten und nicht als Pflegebedarf im Sinne des § 4 BPGG anerkannt werden könnten.

Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung mit dem Begehren, ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zuzuerkennen.

Das Berufungsgericht gab dieser Berufung Folge, hob das Urteil des Erstgerichtes auf und verwies die Sozialrechtssache an die erste Instanz zurück. Entscheidend sei die Frage, inwieweit die Behandlung einer Krankheit Pflegebedarf im Sinne des BPGG begründen könne. Die programmatische Bestimmung des § 1 BPGG, wonach auch die Möglichkeit verbessert werden solle, ein selbstbestimmtes bedürfnisorientiertes Leben zu führen, lasse einen gewissen Vorrang häuslicher Pflege erkennen. Allerdings könne mit dem Pflegegeld nicht jede Unterstützung, sondern nur die notwendige Betreuung und Hilfe im Sinne des Gesetzes gesichert werden. Den Feststellungen des Erstgerichtes lasse sich nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, welche Auswirkungen die physikalischen Maßnahmen (Vojta-Therapie) hätten, insbesondere ob diese Bewegungsübungen bzw das physikalische Bewegungsprogramm erforderlich seien, um einer sonst drohenden Verwahrlosung bzw einer Einschränkung zur Erbringung lebenswichtiger Verrichtungen durch den Kläger selbst entgegenzuwirken, sodaß bejahendenfalls Pflegebedarf anzunehmen wäre. Es bedürfe noch präziser Feststellungen darüber, welche Therapiemaßnahmen beim Kläger vorgenommen würden und inwieweit sich diese nicht bloß auf den Gesundheitszustand (Leidenszustand) sondern auch auf die Möglichkeit zu Erhaltung der Fähigkeit zur Erbringung lebensnotwendiger Verrichtungen auswirken würden. Das Berufungsgericht sprach schließlich aus, daß der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt in der Sache selbst die Wiederherstellung des Urteiles der ersten Instanz.

Der Kläger erstattete eine Rekursbeantwortung und beantragte, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.

Die beklagte Partei geht davon aus, daß Therapien jedenfalls als Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Erhaltung oder die Verbesserung des Gesundheitszustandes eines Patienten gerichtet seien und aus der Krankenversicherung, sei es im Rahmen von Anstaltspflege, ärztlicher Hilfeleistung oder Hauskrankenpflege zu gewähren seien. Durch die Inanspruchnahme derartiger Therapien entstehe kein pflegerischer Mehraufwand, weshalb solche Therapien bei der Beurteilung des Pflege- und Betreuungsaufwandes nicht in Ansatz zu bringen seien. Diesen Ausführungen ist im wesentlichen beizupflichten.

Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern und die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen (§ 1 BPGG). Was unter Pflegebedarf bzw Betreuung und Hilfe zu verstehen ist, wird zwar nicht im Gesetz, wohl aber in der Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) definiert. Übereinstimmung herrscht, daß es sich hier um zumindest im weiteren Sinn lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art handeln muß (vgl Tomandl, SV-System 7.ErgLfg 340; Pfeil, BPGG 80; Gruber/Pallinger BPGG 6, 15 ff mwN). Unter Betreuung sind alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre (§ 1 Abs 1 EinstV). Unter Hilfe sind aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind (§ 2 Abs 1 EinstV). Wie der Oberste Gerichtshof erst kürzlich entschieden hat (13.12.1996, 10 ObS 2393/96a), können therapeutische Verfahren weder zu den in § 1 Abs 2 EinstV beispielsweise genannten Betreuungsverrichtungen gerechnet noch als Hilfe im Sinn des § 2 Abs 1 EinstVO gesehen werden, weil die Hilfsverrichtungen in § 2 Abs 2 taxativ aufgezählt sind. Es ging dort um die sogenannte Bobath-Methode, ein therapeutisches Verfahren bzw eine krankengymnastische Behandlungsmethode, die darin besteht, daß die Mutter nach heilgymnastischen Anleitungen mit dem Kind Bewegungsübungen durchführt. Die dortigen Ausführungen gelten aber ebenso für die hier in Rede stehende "Vojta-Therapie", bei der es sich nach den Feststellungen ebenfalls um ein physikalisches Bewegungsprogramm handelt, das von der Gattin des Klägers nach einer Einschulung im Krankenhaus durchgeführt wird. Da die beim Kläger angewendeten Therapiemaßnahmen weder der Betreuung noch der Hilfe zugerechnet werden können, muß der damit verbundene Zeitaufwand bei Beurteilung des Pflegebedarfes unberücksichtigt bleiben, ohne daß es ergänzender Feststellungen in dem vom Berufungsgericht aufgezeigten Umfang bedarf.

Nach den Feststellungen und unter Anwendung des § 4 Abs 2 BPGG beträgt der Pflegebedarf des Klägers durchschnittlich zwar mehr als 75 Stunden monatlich, jedoch nicht mehr als 120 Stunden monatlich. Ihm gebührt daher Pflegegeld in Höhe der Stufe 2. In Stattgebung des Rekurses der beklagten Partei war das zutreffende Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen (§ 519 Abs 2 letzter Satz ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte