OGH 15Os202/96

OGH15Os202/9627.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Dezember 1996 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch und Mag. Strieder als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Huber als Schriftführerin, in der beim Landesgericht Leoben zum AZ 10 Vr 246/94 anhängigen Strafsache gegen Erwin S***** wegen des Verbrechens nach § 12 Abs 1, 2 und 3 Z 2 und 3 SGG, § 12 dritter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten Erwin S***** gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz vom 7. November 1996, AZ 11 Bs 390/96 (ON 284 des Vr‑Aktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1996:0150OS00202.960.1227.000

 

Spruch:

Erwin S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

 

 

Gründe:

 

Mit Beschluß vom 19.März 1994 verhängte die Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes Leoben über Erwin S***** die Untersuchungshaft, deren Dauer (nach mehrmaliger Verlängerung) das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluß vom 10.Oktober 1995 bis längstens 11.Dezember 1995 für wirksam erklärte (ON 195). Nachdem die Einspruchsfrist gegen die Anklageschrift am 9.November 1995 ungenützt verstrichen und der Beschuldigte somit rechtskräftig in den Anklagestand versetzt war (§ 219 StPO), legte die Untersuchungsrichterin am 14.November 1995 die Akten dem Vorsitzenden des Schöffengerichtes vor, der am 5.Dezember 1995 die Hauptverhandlung gegen Erwin S***** und (dessen Sohn) Peter S***** für den 9.Jänner 1996 anberaumte (3jj, 3kk des Antrags‑ und Verfügungsbogens/I).

Vor Schluß dieser Hauptverhandlung stellte der für beide Angeklagten einschreitende Verteidiger neun Punkte umfassende Beweisanträge, und zwar auf Einvernahme von sechs teilweise erst auszuforschenden Zeugen, Beischaffung einer von den Sicherheitsbehörden beschlagnahmten Tachographenscheibe und Rechnungen von zwei Firmen sowie Einholung eines Gutachtens eines Sachverständigen aus dem Kraftfahrzeugwesen (381 ff/V), gegen deren Durchführung sich der öffentliche Ankläger nur bezüglich dreier Zeugen aussprach. Nach Umfrage verkündete der Vorsitzende den Beschluß "auf Stattgebung der Beweisanträge unter gleichzeitiger Rückleitung der Akten an den UR zur Durchführung dieser Beweisanträge" (387/V).

Am 11.Jänner 1996 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Vorsitzenden unter anderem die sofortige Übermittlung der Akten an die zuständige Untersuchungsrichterin im Sinne des vorerwähnten Rückleitungsbeschlusses ‑ im Hinblick auf den Ablauf der Haftfrist gemäß § 194 Abs 2 StPO am 17.März 1996 ‑ sowie gemäß § 181 Abs 3 StPO in einer umgehend anzuberaumenden Haftverhandlung die Fortsetzung der über Erwin S***** verhängten Untersuchungshaft zu beschließen. Zu Mittag desselben Tages leitete der Vorsitzende die Akten "im Sinne obigen Antrages" der Untersuchungsrichterin zu (3 mm/I). Am Nachmittag des 11.Jänner 1996 beschloß die Untersuchungsrichterin nach Durchführung einer Haftverhandlung (ON 221) die Fortsetzung der Untersuchungshaft mit Wirksamkeit bis längstens 11. (zufolge des anzuwendenden § 6 Abs 1 StPO richtig: 12.) März 1996 (ON 222). Dieser Beschluß blieb unangefochten.

Nach Durchführung der ihr aufgetragenen Beweisanträge (ON 217, 224 bis 235, 237, 239, 240, 246 und 247) übermittelte die Untersuchungsrichterin die Akten am 4.Februar 1996 der Staatsanwaltschaft "zur Antragstellung", von der sie tags darauf "unter Aufrechterhaltung der Anklageschrift vom 20.10.1995 (ON 197)" wieder rücklangten. Noch am Nachmittag des 5.Februar 1996 retournierte die Untersuchungsrichterin die Akten "nach Erledigung sämtlicher Beweisanträge" an den Vorsitzenden des Schöffengerichtes (3 nn/I), der am 7.Februar 1996 die Hauptverhandlung für 13.März 1996 anberaumte (3 oo/I). Diese "wegen Zeitablaufes neu durchgeführte" (§ 276 a StPO) Hauptverhandlung wurde zur Durchführung weiterer beantragter Beweise ohne Fixierung eines Termins vertagt (235/VI) und am 28.Mai 1996 ‑ ohne aktenkundige Beschlußfassung gemäß § 276 a StPO ‑ fortgesetzt (ON 255). Über Antrag des (gemeinsamen) Verteidigers wurde das Verfahren (gemäß § 57 StPO) gegen Erwin S*****, der auf Durchführung verschiedener Beweisanträge bestand, ausgeschieden, der umfassend geständige Mitangeklagte Peter S***** (letztendlich rechtskräftig) verurteilt, das Verfahren gegen Erwin S***** abermals auf unbestimmte Zeit vertagt (291 ff/VI) und der Hauptverhandlungstermin mit Verfügung vom 14.August 1996 mit 15.Oktober 1996 festgesetzt (3 ququ/I).

Am 14.Oktober 1996 langte beim Landesgericht Leoben (und bei der Staatsanwaltschaft Leoben) ein mit 11.Oktober 1996 datierter Enthaftungsantrag des Angeklagten ein, in dem dieser behauptete, er befinde sich nach beschlossener Rückleitung des Aktes seit Ablauf der von der Untersuchungsrichterin mit 11.März 1996 limitierten Haftfrist ohne gesetzliche Grundlage in Haft, weil der Vorsitzende es unterlassen habe, vor Ablauf dieser Haftfrist eine gemäß § 181 Abs 3 StPO gebotene Haftverhandlung durchzuführen, obwohl er die Hauptverhandlung erst am 13.März 1996 begonnen habe (ON 275 und 276).

Diesen Antrag wies der Schöffensenat vor Schluß des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung vom 15.Oktober 1996, der negativen Stellungnahme des öffentlichen Anklägers (3 ss/I) folgend, im wesentlichen mit der Begründung ab, die am 9.Jänner 1996 beschlossene Rückleitung des Aktes sei nicht eine solche im Sinne des § 276 StPO gewesen, vielmehr sei die Untersuchungsrichterin lediglich gemäß § 224 StPO beauftragt worden, genau festgelegte, der Verteidigung dienende Umstände noch näher zu erheben, wodurch es keinesfalls zur Einleitung einer neuen Voruntersuchung gekommen sei, die neue Haftfristen bedingt hätte; im übrigen sei gemäß § 181 Abs 6 StPO ab Beginn der Hauptverhandlung die Untersuchungshaft durch die Haftfrist nicht mehr begrenzt (S 51 f/VII iVm ON 279). Nachdem der Verteidiger dagegen Beschwerde erhoben hatte, verkündete der Vorsitzende das Urteil, mit dem Erwin S***** wegen des Verbrechens nach § 12 Abs 1, 2 und 3 Z 2 und 3 SGG, teils als Beteiligter nach § 12 dritter Fall StGB sowie wegen weiterer strafbarer Handlungen unter anderem zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde (S 59 ff/VII iVm ON 278). Die dagegen angemeldeten Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung wurden nach der dem Obersten Gerichtshof vorliegenden Aktenlage noch nicht ausgeführt.

Der vom Angeklagten gegen den (seinen Enthaftungsantrag abweisenden) Beschluß des Erstgerichtes ergriffenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluß vom 7.November 1996, AZ 11 Bs 390/96 (= ON 284 des Vr‑Aktes), nicht Folge, ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den aktuellen Haftgründen an und sprach aus, daß die Wirksamkeit dieses Beschlusses durch eine Haftfrist nicht mehr begrenzt sei. In der zentralen Frage über das Wiederaufleben der Haftfrist folgte der Gerichtshof zweiter Instanz der erstgerichtlichen Argumentation und führte ergänzend dazu aus, durch die im Sinne des § 224 StPO angeordnete Vervollständigung der Voruntersuchung durch die Untersuchungsrichterin sei es im Gegenstand nicht zu einer Beendigung der Hauptverhandlung ohne absehbare Fortsetzungsmöglichkeit gekommen, vielmehr sei das Stadium der Hauptverhandlung nicht verlassen worden, weshalb nicht vom Zurücktreten der gesamten Strafsache in die Phase des Ermittlungsverfahrens gesprochen werden könne und demnach die Fristen der Untersuchungshaft nicht mehr aufgelebt seien.

Diesen Beschluß ficht der Angeklagte mit Grundrechtsbeschwerde nur "in jenem Punkte an [Tatverdacht, Haftgründe und Verhältnismäßigkeit der Haft bleiben allesamt unbekämpft], in dem er darüber abspricht, daß die Rückleitung der Akten an den Untersuchungsrichter zur Durchführung der Beweisanträge eine Vervollständigung der Voruntersuchung im Sinne des § 224 StPO und nicht eine Rückleitung des Aktes an den Untersuchungsrichter gemäß § 276 StPO sei" (ON 285).

Für sich allein betrachtet wird damit zwar noch keine Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit nach § 2 GRBG behauptet, in Verbindung mit der Beschwerdebegründung und insbesonders dem Punkt 1. der Beschwerdeanträge ergibt sich aber mit hinreichender Deutlichkeit, daß sich der Beschwerdeführer deshalb als beschwert erachtet, weil er (nach seiner Meinung) als Folge der Rückleitung des Aktes an die Untersuchungsrichterin "vom 12.3.1996 bis 14.10.1996 ohne richterlichen Beschluß und daher unrechtmäßig in Untersuchungshaft gehalten wurde".

 

Rechtliche Beurteilung

Die Beschwerde ist nicht im Recht.

Der Oberste Gerichtshof hält an der bereits zu § 193 Abs 5 StPO aF entwickelten Judikatur (JBl 1985, 249 = EvBl 1985/73 = SSt 55/39; RZ 1986/8 = EvBl 1986/65 = SSt 56/65) fest, die in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Kommentatoren Foregger/Kodek (StPO6 Erl V zu § 181) und Mayrhofer/Steininger (GRBG 1992 Rz 129 zu § 2) auch auf die durch das Strafprozeßänderungsgesetz 1993 geänderte Rechtslage anwendbar ist. Indem die Erkenntnisrichter vorliegend eine Ergänzung der Untersuchung in einem solchen Umfang für erforderlich hielten, daß sie ‑ nach ihrem freien Ermessen ‑ diese selbst vorzunehmen für nicht zweckentsprechend erachteten, vielmehr die (ohne gleichzeitige Bekanntgabe eines neuen Hauptverhandlungstermins und fallbezogen ohne auch nur annähernd absehbare Fortsetzungsmöglichkeit) die "Rückleitung der Akten an den UR" zur Durchführung der beantragten Beweisanträge beschlossen, wurde diese Hauptverhandlung jedenfalls beendet und die Strafsache mit dem einwandfrei determinierten Formalakt der Rückleitung denknotwendig in jenes Stadium der Ermittlungen zurückversetzt, das zumindest bezüglich der Haftbefristung dem der Voruntersuchung gleichzuhalten ist. In dieser prozessualen Phase lebte aber die zeitliche Beschränkung der Untersuchungshaft ausnahmslos wieder auf, weshalb die Begrenzung der Wirksamkeit des zuletzt ergangenen Haftbeschlusses zu beachten war (vgl abermals EvBl 1986/65 = RZ 1986/8 = SSt 56/65).

In rechtlicher Konsequenz dessen führte die Untersuchungsrichterin ‑ der verfehlten Rechtsansicht des Gerichtshofs zweiter Instanz zuwider ‑ zu Recht zum ehestmöglichen Termin (vgl § 181 Abs 4 StPO) noch am Nachmittag des 11.Jänner 1996 eine Haftverhandlung durch, in der sie die Fortsetzung der Untersuchungshaft bis längstens 11. (richtig: 12.) März 1996 beschloß.

Das durch den schöffengerichtlichen Rückleitungsbeschluß bedingte Untersuchungs‑(Ermittlungs‑)verfahren war mit der Erledigung der Beweisanträge, spätestens aber am 5.Februar 1996 mit der Wiedervorlage der (vervollständigten) Akten durch die Untersuchungsrichterin an den Vorsitzenden beendet. Damit trat die Strafsache zufolge der vom öffentlichen Ankläger abgegebenen Erklärung, die Anklageschrift vom 20.Oktober 1995 (ON 197) aufrecht zu erhalten, wiederum in das prozessuale Stadium der rechtskräftigen Versetzung in den Anklagestand ein, in dem gemäß § 181 Abs 3 StPO die (ab 11.Jänner 1996) laufende Haftfrist erst zwei Monate nach dem vorgenannten Zeitpunkt (das wäre im aktuellen Fall der 6.April 1996 gewesen) endete. Da die gegen Erwin S***** (gemäß § 276 a StPO wegen Zeitablaufs neu durchgeführte) Hauptverhandlung am 13.März 1996, also innerhalb der durch § 181 Abs 3 StPO verlängerten Haftfrist, begonnen hat, womit die Haftfrist kraft des § 181 Abs 6 StPO nicht mehr begrenzt war, mußte der Vorsitzende ‑ entgegen der insoweit rechtsirrigen Beschwerdemeinung ‑ keine Haftverhandlung von Amts wegen mehr durchführen.

Sonach wurde Erwin S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb seine Beschwerde ‑ in Übereinstimmung mit dem Antrag der Generalprokuratur ‑ ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

Mangels ausdrücklicher Anfechtung (vgl § 3 Abs 1 GRBG), die im übrigen auch verspätet wäre (§ 4 Abs 1 GRBG), war auf die kritisierte "Vorgangsweise des Untersuchungsgerichtes Leoben" im Zusammenhang einerseits mit angeblichen Verfahrensverzögerungen, andererseits bei Anberaumung der Haftverhandlung am 11.Jänner 1996 nicht einzugehen, über welche die Ratskammer des Landesgerichtes Leoben bereits mit Beschluß vom 11. Jänner 1996 abschlägig beschieden hat (ON 220). Andere Grundrechtsverletzungen wurden ‑ wie eingangs erwähnt ‑ in der Beschwerde überhaupt nicht releviert.

 

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