OGH 10ObS2430/96t

OGH10ObS2430/96t13.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die Laienrichter Dr.Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Emilia B*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr.Ilse Korenjak, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr.Alfred Kriegler, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.Juni 1996, GZ 9 Rs 64/96i-29, womit infolge Berufung der Klägerin das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 23.August 1995, GZ 19 Cgs 143/93x-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 25.5.1994 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung eines Pflegegeldes ab.

Mit fristgerechter Klage stellte diese das Begehren auf Zuerkennung eines solchen im gesetzlichen Ausmaß.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte - zusammengefaßt - fest, daß die am 9.4.1920 geborene Klägerin aufgrund der im einzelnen erhobenen Gesundheitseinschränkungen und Leidenszustände imstande ist, sich an- und auszukleiden, die Notdurft zu verrichten, die Körperpflege (ausgenommen das Besteigen einer Badewanne) durchzuführen, Speisen zuzubereiten und einzunehmen, einfaches Aufräumen und Ordnungmachen durchzuführen, Betten zu richten und die vorhandene Zentralheizung zu bedienen. Nicht mehr möglich sind ihr hingegen die große Wäschereinigung und gründliche Wohnungsreinigung. Unter Zuhilfenahme des hauseigenen Liftes ist sie im Nahbereich von 1000 m gehfähig, für weitere Wege bedarf sie einer Begleitperson im Sinne der erweiterten Mobilitätshilfe. Weiters bedarf sie der Hilfe bei der Verabreichung von Insulinspritzen, und zwar 2, maximal 3 x pro Tag a maximal 5 Minuten.

In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, daß das für die Pflegegeldstufe 1 erforderliche Mindestzeitmaß von 50 Stunden nicht überschritten werde (je 10 Stunden - zusammen 40 Stunden - für Wohnungsreinigung, Wäschereinigung, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Mobilitätshilfe; weitere 3,5 Stunden für das Besteigen der Badewanne sowie maximal 6,15 Stunden für Insulinspritzen, zusammen sohin 49,15 Stunden).

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 1 ab 1.3.1994 sowie zum Prozeßkostenersatz. Abweichend vom Erstgericht kam es - in Übernahme der Feststellungen desselben - zum Ergebnis, daß der Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit der Verabreichung von Insulinspritzen mit 10 Minuten pro Tag zu veranschlagen sei, was pro Monat jedenfalls 10 Stunden entspreche, sodaß das Ausmaß von 50 Stunden überschritten werde.

In ihrer auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützten, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des Abs 1 leg cit zulässigen und auf Abänderung der bekämpften Entscheidung im Sinne der Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes gerichteten Revision bekämpft die beklagte Partei diese Rechtsansicht. Das Berufungsgericht habe sich hiemit nämlich von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes entfernt. Für das Verabreichen einer Insulininjektion sei ein Pflegebedarf von nur 5 Minuten anzunehmen. Außerdem handle es sich hiebei um eine aus der Krankenversicherung und nicht nach dem BPGG zu erbringende Leistung.

Die Klägerin hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision kommt im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages Berechtigung zu.

Die im angefochtenen Urteil enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache, daß der Pflegebedarf der Klägerin mehr als 50 Stunden pro Monat beträgt, läßt sich noch nicht abschließend beantworten. Da für die Verrichtungen betreffend Reinigung der Wohnung, der Wäsche, Besorgung von Lebensmitteln, Mobilitätshilfe und Badewannenbenützung ein Grundzeitwert von zusammen 43 Stunden und 30 Minuten monatlich unstrittig ist, kommt es entscheidend darauf an, welcher - weitere - Zeitbedarf für die Verabreichung der bei der Klägerin medizinisch indizierten Insulinspritzen exakt (und nicht bloß ungefähr) erforderlich ist. Die einleitend wiedergegebene Feststellung des Erstgerichtes "zweimal, maximal dreimal pro Tag a maximal 5 Minuten" läßt nämlich verschiedene Ergebnisse zu: Bei einem Pflegebedarf hiefür von (Untergrenze) zweimal pro Tag ergeben sich 5 Stunden, bei einem solchen von 2,5 mal pro Tag (als Mittelwert im Sinne des Erstgerichtes) 6 Stunden 15 Minuten und bei einem solchen von dreimal pro Tag (Obergrenze) 7 Stunden 30 Minuten, jeweils pro Monat. Lediglich im letztgenannten Fall würde der in § 4 Abs 2 BPGG vorgegebene Mindeststundensatz von 50 Stunden überschritten (nämlich 51 Stunden monatlich erreichen); in den beiden anderen Fällen läge der Gesamtzeitwert bei 48 Stunden 30 Minuten bzw 49 Stunden 15 Minuten, also jeweils unter der gesetzlichen Vorgabe von zumindest 50 Stunden. Da auch in Sozialrechtssachen die allgemeinen Grundsätze über die Verteilung der Beweislast gelten, also derjenige, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die rechtsbegründenden Tatsachen hiefür zu beweisen hat (SSV-NF 1/48, 5/140, 6/119), müßte es zum Nachteil der Klägerin gereichen, wenn das für den gesetzlichen Tatbestand der Pflegegeldgewährung wesentliche Sachverhaltselement des konkreten und tatsächlichen Zeitbedarfs für die tägliche Insulinverabreichung letztlich nicht exakt, sondern nur ungefähr erwiesen und erfaßt werden könnte. Nach den derzeit vorliegenden Feststellungen der Vorinstanzen könnte jedenfalls - ausgehend von dieser Regel der Beweislast - nicht vom höchsten, sondern bloß vom niedrigsten der drei möglichen und aufgezeigten Zeitwerte ausgegangen werden. In diesem Falle wäre aber das Klagebegehren mangels Erreichens des 50-Stunden-Mindestzeitwertes (für die unterste Pflegegeldstufe 1) abzuweisen.

Es wird daher unumgänglich sein, den medizinischen Sachverständigen zu einer präziseren Angabe dieses entscheidungswesentlichen Zeitwertbedarfs erneut zu befragen, also wie oft pro Tag Insulin gespritzt werden muß, wie oft pro Monat mit drei bzw bloß zwei Verabreichungen pro Tag vorgegangen werden muß und auch, ob sein hiefür zugrundegelegter Wert von jeweils (maximal) 5 Minuten auch dann zu unterstellen ist, wenn bloß die Spritzenverabreichung durch eine Fremdperson geschieht, die nachfolgende Blutzuckerbestimmung jedoch von der Klägerin selbst vorgenommen wird bzw vorgenommen werden kann (vgl hiezu Prot. ON 18, Seite 2 = AS 65 oben).

Daß es sich bei der Verabreichung derartiger Injektionen sehr wohl um Pflegebedarf (und nicht etwa um Hauskrankenpflege aus der Krankenversicherung durch eine diplomierte Krankenschwester oder einen diplomierten Krankenpfleger) handelt, hat der Senat bereits in den Entscheidungen SSV-NF 8/58 sowie 2/58 (zum damaligen § 105a ASVG) ausgesprochen. Die Revisionswerberin übersieht und übergeht in diesem Zusammenhang auch, daß eine medizinische Hauskrankenpflege grundsätzlich eine Maßnahme zur Bettenreduktion (ansonsten stationär aufzunehmender Patienten) darstellt und nach § 151 Abs 5 ASVG für die Dauer von längstens 4 Wochen, darüber hinaus nur nach Vorliegen einer chef- oder kontrollärztlichen Bewilligung gewährt werden kann. Bei der hier für die Pflegegeldgewährung relevanten Tätigkeit handelt es sich hingegen um eine solche, die ein davon Betroffener üblicherweise selbst vornimmt, sodaß die Beiziehung einer derartigen Hilfsperson nur notwendig ist, wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, sich die Injektionen selbst zu verabreichen.

Da sohin für die abschließende rechtliche Beurteilung wesentliche Fragen noch ungeklärt sind, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens im aufgezeigten Sinne aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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