OGH 10ObS51/96

OGH10ObS51/967.5.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer und Dr. Ehmayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Richard Warnung (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Schleifer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Andrea S*****, Lehrerin, *****, vertreten durch Dr. Paul Kreuzberger und Mag. Markus Stranimaier, Rechtsanwälte in Bischofshofen, wider die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA), 1081 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kostenerstattung (S 13.743,50), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. November 1995, GZ 11 Rs 95/95-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 12. Mai 1995, GZ 17 Cgs 30/95-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 16.1.1995 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 23.8.1994 auf Kostenerstattung für die Rechnung des Allgemeinen öffentlichen Krankenhauses der Stadt H***** über S 13.743,50 für die Durchführung einer Tubenligatur ab. Da die Durchführung einer solchen Maßnahme bei Sterilisationswunsch weder in medizinischer noch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht eine Krankheit darstelle, habe eine Leistung der sozialen Krankenversicherung zu unterbleiben.

Dagegen erhob die Klägerin fristgerecht Klage mit dem Begehren auf Zahlung der abgelehnten Leistung. Sie leide an einer angeborenen Bindegewebsschwäche, die im Zusammenhang mit der Einnahme von Ovulationshemmern zu Venenbeschwerden (Krampfadern) führe. Deshalb sei die Einnahme von chemischen Verhütungsmitteln nicht mehr geraten. Nach zwei Entbindungen durch Kaiserschnitt bestünden Verwachsungen im Bauchraum; eine neuerliche Schwangerschaft, die nur mit einem Kaiserschnitt beendet werden könnte, wäre wegen der bestehenden Verwachsungen im Bauchraum sehr gefährlich. Die Sterilisation durch Tubenligatur sei daher medizinisch notwendig gewesen. Die Ansicht der Beklagten, daß sich die Klägerin zur Vermeidung einer Schwangerschaft anderer Empfängnisverhütungsmittel bedienen könne, stelle einen dem Krankenversicherungsträger nicht zustehenden Eingriff in ihre Intimsphäre dar und sei daher sittenwidrig.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Maßnahmen zur bloßen Verhütung einer Schwangerschaft seien keine Krankenbehandlung, außer es wäre schon vorher ein regelwidriger Körperzustand vorgelegen, zu dessen Beseitigung oder Besserung die Sterilisation erfolgversprechend wäre. Weder die Venenbeschwerden der Klägerin noch die Verwachsungen im Bauchraum könnten durch die Sterilisation erfolgreich behandelt werden. Die Sterilisation diene lediglich der Verhütung einer neuen Schwangerschaft. Dieses Ziel könne auch durch billigere und ebenso sichere Methoden der Empfängnisverhütung (Spirale, Scheidendiaphragma, Kondom) erreicht werden. Die durchgeführte Sterilisation habe daher das Maß der notwendigen Krankenbehandlung überschritten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß sich die Klägerin am 19.8.1994 in der Sonderklasse des eingangs genannten Krankenhauses wegen Sterilisationswunsches aufgehalten habe und daß ihr für die Behandlung und den Aufenthalt der Klagsbetrag in Rechnung gestellt wurden. Im übrigen nahm das Erstgericht keinerlei Beweise auf und traf auch keine weiteren Feststellungen.

In rechtlicher Hinsicht meinte das Erstgericht, die Klägerin habe keinerlei medizinische Indikation gegen alternative Methoden der Empfängnisverhütung geltend gemacht. Ihr Einwand, die von ihr getroffene Wahl der Empfängnisverhütung sei mit Rücksicht auf den Vorrang ihrer Gestaltung des eigenen Geschlechtslebens für den gesetzlichen Krankenversicherungsträger bindend, treffe nicht zu, weil er in keinem rechtlichen Zusammenhang zur Eingrenzung der Krankenbehandlung auf das notwendige, ausreichende und zweckmäßige Ausmaß stehe. Die Klage sei daher im Grunde unschlüssig geblieben und abzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichtes. Wende eine Frau aufwendigere Verhütungsmethoden an, würden diese das Maß des Notwendigen iS des § 62 Abs 2 B-KUVG überschreiten und daher nicht in die Ersatzpflicht des Krankenversicherungsträgers fallen. Vergleichsmaßstab für diese Beurteilung sei nicht der Kostenaufwand, den sich der Versicherungsträger bei einer Geburt erspare (Kaiserschnittoperation), sondern die Kosten einer vom medizinischen Standpunkt aus zumutbaren aber weniger aufwendigen Empfängnisverhütungsmethode.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinne ihres Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 1977 erklärte das Oberlandesgericht Wien als damals letzte Instanz in Leistungsstreitsachen, daß Sterilisation eine Krankenbehandlung sein könne. Es verlangte dazu jedoch das Vorliegen eines akuten regelwidrigen Zustandes; der bloße Wille der Verhütung einer Schwangerschaft reiche dazu noch nicht hin, möge die Frau auch bereits fünf Kinder geboren haben und nach einer Abtreibung unter starken Depressionen und hochgradiger Nervosität leiden, sodaß ihr aus gesundheitlichen Gründen eine weitere Schwangerschaft nicht mehr zuzumuten sei. Es müsse geklärt werden, ob ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand vorliege, zu dessen Beseitigung oder Besserung die Sterilisation zumindest erfolgversprechende Aussicht geboten hätte (SSV 17/140). Diese Auffassung entsprach dem Standpunkt, daß die Fähigkeit einer Frau, ein Kind zur Welt zu bringen, niemals als ein regelwidriger Körperzustand angesehen werden könne, der einer Krankenbehandlung bedarf. Bei der Sterilisation einer Frau handle es sich um die entgegengesetzte Maßnahme, das heißt es werde die Beseitigung der Empfängnis- und Gebärfähigkeit angestrebt. Es könne keinesfalls eine Aufgabe der Krankenversicherung sein, hiefür Kosten zu übernehmen, weil ja kein regelwidriger Körperzustand, also eine Krankheit in sozialversicherungsrechtlichem Sinne vorliege. Die Pillenunverträglichkeit könne nicht als medizinische Indikation für eine Sterilisation gewertet werden, da ja mit diesem medizinischen Eingriff nicht die Beseitigung eines Krankheitszustandes, sondern die Verhinderung einer künftigen Empfängnis angestrebt werde. Es sei allerdings denkbar, daß in manchen Fällen tatsächlich ein vorhandener krankhafter Zustand durch Sterilisation beseitigt oder gebessert werden könne: nur in einem solchen Ausnahmefall bestünde Anspruch auf eine Leistung aus der Krankenversicherung (SozSi 1980, 167 "Aus der Praxis").

Einer so engen Auslegung des Begriffes der Krankenbehandlung kann, wie der Oberste Gerichtshof bereits in seiner grundlegenden

Entscheidung 10 ObS 269/88 (SSV-NF 2/115 = SZ 61/226 = JBl 1989, 405

= SozSi 1989, 578 = ARD 4077-2-89 = Infas 1989 S 32 = SV-Slg 34.638,

36.028) ausgesprochen hat, nicht gefolgt werden. Der Versicherungsfall der Krankheit gilt mit dem Beginn der Krankheit, das ist des regelwidrigen Körper- und Geisteszustandes, der die Krankenbehandlung notwendig macht, als eingetreten (§ 53 Abs 1 B-KUVG). Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Dienstfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wieder hergestellt, gefestigt oder gebessert werden (§ 62 Abs 2 B-KUVG). Eine notwendige Krankenbehandlung und damit eine Krankheit in diesem Sinn ist auch dann anzunehmen, wenn die Behandlung geeignet erscheint, eine Verschlechterung des Zustandsbildes hintanzuhalten (Spitaler, Familienplanung und die soz KrV, SozSi 1976, 389 f besonders 390; Tomandl Grundriß4 Rz 66; Binder in Tomandl SV-System

7. ErgLfg 201 mwN).

Im damals entschiedenen Fall lag bei der Frau ein regelwidriger Körperzustand vor, der im Fall einer neuerlichen Schwangerschaft eine Beckenvenenthrombose, in weiterer Folge eine Lungenembolie und eine Verschlechterung der Koxarthrose herbeiführen konnte. Es treffe zwar zu, daß der verfahrensgegenständliche Eingriff nicht unmittelbar eine Besserung des bestehenden Leidenszustandes zum Ziel habe, er bezwecke aber, die mit einer Schwangerschaft verbundene Verschlechterung zu verhindern und diene damit - wenn auch nicht durch unmittelbare Einwirkung auf den Leidenszustand - der Festigung der Gesundheit der Frau. Daß Maßnahmen zum Abbruch einer Schwangerschaft unter besonderen Voraussetzungen einen Leistungsanspruch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung begründen, wenn sie nämlich im Einzelfall erforderlich seien, um von der betroffenen Frau die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des körperlichen oder geistigen Gesundheitszustandes abzuwenden, sei anerkannt. Bei Eintritt einer neuen Schwangerschaft wären diese Voraussetzungen bei der Klägerin gegeben. In einem solchen Fall mit der Leistungsgewährung zu warten, bis die Krankheit eingetreten sei, obwohl ein früherer ärztlicher Eingriff bessere und weniger aufwendigere Möglichkeiten zur Behandlung böten, wäre weder vom Standpunkt der Versichertengemeinschaft zu verantworten noch dem einzelnen Versicherten zuzumuten. Der Oberste Gerichtshof gelangte bereits damals zur Ansicht, daß eine Sterilisation dann von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfaßt sei, wenn sie im Einzelfall erforderlich sei, um die mit einer Schwangerschaft verbundene Gefahr eines schweren gesundheitlichen Nachteils von der Frau abzuwenden.

Diese Entscheidung wurde in der Literatur positiv aufgenommen. M. Binder meinte dazu, der Oberste Gerichthof interpretiere in überzeugender materieller Sicht das Tatbestandserfordernis der Behandlungsbedürftigkeit extensiv und knüpfe an die schon in der Lehre bisher vertretene Ansicht an, daß die ärztliche Behandlung bereits im Stadium der noch schlummernden krankhaften Anlage einsetzen könne. Der Oberste Gerichtshof erkenne somit den hohen Stellenwert der Prophylaxe der Krankenbehandlung ausdrücklich an. Man werde allerdings - um ein Ausufern zu vermeiden - postulieren müssen, daß eine große Wahrscheinlichkeit für die Leidensverwirklichung bestehe; nur dann lasse sich die Maßnahme zur Festigung der Gesundheit dem § 133 Abs 2 ASVG (Umfang der Krankenbehandlung) subsumieren (Binder, Aktuelle Fragen im Leistungsrecht der Krankenversicherung, ZAS 1990, 12 f; derselbe, Die Krankenversicherung und der OGH, in Tomandl [Herausgeber] Der OGH als Sozialversicherungshöchstgericht 10 f). Mazal (Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, 88 ff) weist für den deutschen Rechtsbereich ähnliche Entscheidungen betreffend die Verschreibung von Antikonzeptiva nach und hält sie gleichfalls für sachgerecht. Reif (Gesundheitsförderung aus der Sicht der soz KrV in Ö, SozSi 1992, 228 [230]) meint zutreffend, es dürfe mit der Leistungsgewährung keinesfalls zugewartet werden, bis die Krankheit eingetreten sei, wenn ein früherer ärztlicher Eingriff, auch eine präventive Leistung, etwa eine bestimmte Impfung oder Sterilisation, die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des Gesundheitszustandes abwenden könne und somit der Festigung der Gesundheit diene. Der Senat sieht daher keine Veranlassung, von der in der oben zitierten Entscheidung dargelegten Rechtsauffassung abzugehen.

Auch nach § 62 Abs 2 erster Satz B-KUVG muß die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Auffassung der Vorinstanzen, der Klägerin sei die (sichere) Empfängnisverhütung durch andere Methoden als Ovulationshemmer oder Tubenligatur möglich und zumutbar gewesen, kann sich allerdings auf keine dazu getroffene Beweisergebnisse und Tatsachenfeststellungen stützen. Die von der Klägerin bereits in ihrer Klage vorgebrachte Behauptung, die Sterilisation wäre zur Hintanhaltung eines mit großer Wahrscheinlichkeit eintretenden gesundheitlichen Risikos medizinisch angeraten und notwendig gewesen, ist vielmehr von den Tatsacheninstanzen völlig ungeprüft geblieben. Wie in der Revision zutreffend ausgeführt wird, sind mangels jeglicher Feststellungen entscheidungsrelevante Unterschiede zu dem Sachverhalt, der der oben genannten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zugrunde lag, nicht zu erkennen, weil auch im damals entschiedenen Fall der dortigen Klägerin offenbar weitere (alternative) Verhütungsmethoden wie natürliche Empfängnisverhütung, Diaphragma oder Kondom zur Verfügung gestanden wären. Es wird im fortgesetzten Verfahren festzustellen sein, ob die Sterilisation im Einzelfall medizinisch erforderlich war, um die mit einer Schwangerschaft verbundene Gefahr eines schweren gesundheitlichen Nachteils von der Klägerin abzuwenden. Dazu bedarf es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz.

Deshalb waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm mit § 2 Abs 1 ASGG.

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