OGH 11Os27/96 (11Os28/96)

OGH11Os27/96 (11Os28/96)23.4.1996

Der Oberste Gerichtshof hat am 23.April 1996 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Lachner als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr.Hager, Dr.Schindler, Dr.Rouschal und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Eckert-Szinegh als Schriftfüh- rerin, in der Strafsache gegen Wilhelm G***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil und den Beschluß des Bezirksgerichtes Bruck an der Mur vom 24.Oktober 1995, GZ 4 U 207/95-21, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Fabrizy, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren zum AZ 4 U 207/95 des Bezirksgerichtes Bruck a.d. Mur wurde das Gesetz verletzt

1. durch das Urteil vom 24.Oktober 1995, GZ 4 U 207/95-21, insofern als

(a) eine Individualisierung der als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB qualifizierten Tat durch Bezeichnung eines Endzeitpunktes unterblieb, in den Bestimmungen der §§ 260 Abs 1 Z 1, 270 Abs 2 Z 4, 458 Abs 3 Z 1 StPO;

(b) es Wilhelm G***** hinsichtlich des mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Leoben vom 6.Februar 1991, GZ 1 U 35/90-7, bereits rechtskräftig erledigten Anklagevorwurfes der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig sprach, in dem sich aus dem XX.Hauptstück der Strafprozeßordnung ergebenden Grundsatz der materiellen Rechtskraft;

2. durch den Vorgang, daß das Gericht, vor der Fassung des Beschlusses vom 24.Oktober 1995, GZ 4 U 207/95-21, nicht Einsicht in die Akten der früheren Verurteilung nahm, in der Bestimmung des § 494 a Abs 3 StPO;

3. durch den zuvor bezeichneten (Widerrufs-)Beschluß vom 24.Oktober 1995 (GZ 4 U 207/95-21) in dem sich aus § 498 StPO ergebenden Verbot, nach Beschlußfassung über die endgültige Strafnachsicht in der Sache nochmals zu entscheiden.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur vom 24.Oktober 1995, GZ 4 U 207/95-21, das im übrigen unberührt bleibt, wird im Schuldspruch des Wilhelm G***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht (Punkt 2) sowie im Strafausspruch, einschließlich des damit im Zusammenhang stehenden Beschlusses gemäß § 494 a Abs 1 Z 4 StPO, aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Bruck a.d.Mur die neuerliche Verhandlung und Entscheidung über den Strafantrag des öffentlichen Anklägers wegen § 198 Abs 1 StGB aufgetragen.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der mit dem bezeichneten Urteil des Bezirksgerichtes Leoben gewährten bedingten Strafnachsicht wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit dem (gemäß § 458 Abs 2 und 3 StPO in gekürzter Form ausgefertigten) Urteil des Bezirksgerichtes Leoben vom 6.Februar 1991, GZ 1 U 35/90-7, wurde Wilhelm G***** des im Tatzeitraum von Februar 1988 bis Jänner 1991, ausgenommen den Monat Dezember 1989, zum Nachteil seines Sohnes Helmut A***** begangenen Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt. Hinsichtlich des Tatzeitraumes von (Jänner) 1987 bis Jänner 1988 sowie Dezember 1989 wurde die Anklage nicht erledigt, doch kommt dies - mangels Bekämpfung durch die Anklagebehörde - im Ergebnis einem Freispruch gleich (SSt 24/1). Nach Ablauf der Probezeit sprach das Bezirksgericht Leoben mit Beschluß vom 9.März 1994, GZ 1 U 35/90-11, gemäß § 497 StPO (§ 43 Abs 2 StGB) die endgültige Strafnachsicht aus.

Mit (gleichfalls gemäß § 458 Abs 2 und 3 StPO in gekürzter Form ausgefertigtem) Urteil des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur vom 24. Oktober 1995, GZ 4 U 207/95-21, wurde Wilhelm G***** der Vergehen des Betruges nach § 146 StGB und der Verletzung der Unterhaltspflicht

nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sprach ua aus, daß Wilhelm G***** seit dem 19. Jänner 1987 für den minderjährigen Helmut A***** keine Unterhaltsleistungen erbracht hat, ohne aber das Ende des Tatzeitraumes anzuführen. Unter einem faßte es gemäß § 494 a Abs 1 Z 4 StPO den Beschluß auf Widerruf der mit dem bezeichneten Urteil des Bezirksgerichtes Leoben gewährten bedingten Strafnachsicht.

Das genannte Urteil des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur, der gemäß § 494 a Abs 1 Z 4 StPO ergangene Beschluß und das Unterlassen der vor der Beschlußfassung nach § 494 a Abs 1 StPO erforderlichen Akteneinsicht stehen - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Wird ein Urteil in gekürzter Form ausgefertigt, so hat diese Ausfertigung gemäß § 458 Abs 3 Z 1 StPO die im § 270 Abs 2 StPO bezeichneten Angaben mit Ausnahme der Entscheidungsgründe zu enthalten. Handelt es sich um ein Strafurteil, so muß gemäß § 270 Abs 2 Z 4 StPO iVm § 260 Abs 1 Z 1 StPO aus der gekürzten Urteilsausfertigung hervorgehen, welcher Tat der Beschuldigte schuldig befunden worden ist, und zwar unter ausdrücklicher Bezeichnung der einen bestimmten Strafsatz bedingenden Tatumstände. Zeit, Ort und Gegenstand der Tat sind mit einer hinreichenden Kennzeichnung anzugeben, um Verwechslungen mit anderen Straftaten oder eine Doppelbestrafung auszuschließen. Diese Individualisierung der strafbaren Handlung ist bei einer Ausfertigung des Urteils in gekürzter Form von besonderer Bedeutung, weil sich in einem solchen Fall die dem Schuldspruch zugrunde gelegten Feststellungen allein aus dem Urteilsspruch ergeben (14 Os 91,92/92, 12 Os 26/93).

Das in Rede stehende Urteil des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur wird diesen Erfordernissen nicht gerecht. Die Individualisierung der Unterhaltspflichtverletzung erfordert jedenfalls eine zeitliche Umgrenzung mit Anfangs- und Endzeitpunkt (14 Os 91,92/92). Das Gericht hat jedoch vorliegend nur den Beginn, nicht aber das Ende des strafbaren Verhaltens eindeutig bezeichnet. Ob als Endzeitpunkt der Tat der Tag der Stellung des Strafantrages angenommen wurde oder ob allenfalls eine Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung erfolgte, geht aus der gekürzten Urteilsausfertigung und dem Protokollsvermerk nicht hervor.

Gemäß § 494 a Abs 3 StPO hat das Gericht vor einer der im § 494 a Abs 1 StPO vorgesehenen Entscheidungen ua Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung zu nehmen. Das Gericht kann sich mit der Einsicht in eine Abschrift des früheren Urteils begnügen, wenn diese - was hier nicht der Fall gewesen wäre - eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung bietet. Diese Einsichtnahme hat durch den (die) erkennenden Richter in der Hauptverhandlung oder gemeinsam mit einer Strafverfügung unmittelbar vor der Entscheidung zu erfolgten.

Im vorliegenden Fall hat der erkennende Richter des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur nach der Aktenlage weder in die Akten des Bezirksgerichtes Leoben noch in eine Abschrift der gekürzten Urteilsausfertigung Einsicht genom- men. Die erwähnten Akten waren bloß von einem anderen - offensichtlich vor Einbeziehung des Verfahrens gemäß § 56 StPO zuständigen - Richter des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur mit Verfügung vom 1.Juni 1993 beigeschafft und mit Verfügung vom 10.November 1993 wieder zurückgestellt worden (GZ 6 U 8/93-10 des Bezirksgerichtes Leoben).

Diese Gesetzesverletzung hatte zur Folge, daß das Bezirksgericht Bruck a.d.Mur keine Kenntnis von der bereits am 9.März 1994 ausgesprochenen endgültigen Strafnachsicht erlangte und die Entscheidungskompetenz über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu Unrecht in Anspruch nahm. Der Beschluß des Bezirksgerichtes Leoben vom 9.März 1994 entfaltete (auch schon vor Eintritt der Rechtskraft) Sperrwirkung, derzufolge ein Gericht ohne vorangegangene Aufhebung des Beschlusses nicht berechtigt war, über den Entscheidungsgegenstand neuerlich abzusprechen. Der (rechtswidrige) Beschluß des Bezirksgerichtes Bruck a.d.Mur konnte somit weder die schon vorher wirksam beschlossene endgültige Strafnachsicht beseitigen noch sonst für den Verurteilten irgendwelche Rechtsfolgen nach sich ziehen; die konstitutive Wirkung des Beschlusses des Bezirksgerichtes Leoben blieb vielmehr davon unberührt (vgl EvBl 1989/64 = JBl 1989, 400; 15 Os 112/95 ua).

Die Unterlassung der Einsichtnahme in die Akten der früheren Verurteilung verhinderte aber auch, daß das Bezirksgericht Bruck a. d.Mur Kenntnis von der rechts- kräftigen Erledigung der Anklage wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zum Nachteil des minderjährigen Helmut A***** betreffend den Tatzeitraum von Jänner 1987 bis Jänner 1991 erlangte, wodurch es geschehen konnte, daß es die Entscheidungskompetenz über diese Tat zu Unrecht in Anspruch nahm. Der Angeklagte wurde wegen der bereits rechtskräftig abgeurteilten Tat ein weiteres Mal bestraft.

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde waren daher die Gesetzesverletzungen festzustellen und gemäß § 292 letzter Satz StPO spruchgemäß zu erkennen.

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