OGH 7Ob2088/96a

OGH7Ob2088/96a17.4.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** AG für Industrieversicherungen, ***** vertreten durch Dr.Walter Pfliegler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Helmut K*****, vertreten durch Dr.Gerhard Kucher und Dr.Norbert Rabitsch, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen S 103.938,-- sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht vom 19.Dezember 1995, GZ 4 R 129/95-19, mit dem das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 9.Juni 1995, GZ 22 Cg 107/94s-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 7.605,-- (darin S 1.267,50 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte stellte am 5.10.1993 unter Mitwirkung eines Versicherungsvermittlers einen Neuantrag auf Abschluß einer Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung an die klagende Partei und gab seine Adresse mit ***** K*****, V***** Ring 11, an. Versicherungsbeginn sollte der 5.10.1993 sein, ab diesem Datum wurde ihm auch eine vorläufige Deckung zugesagt. Einige Tage danach übersiedelte der Beklagte nach ***** K*****, W*****gasse 11 und stellte beim Postamt einen Nachsendeantrag. Die Klägerin übersandte dem Beklagten die Versicherungspolizze mit der darin ausgewiesenen Jahresprämie und einer Aufforderung zur Zahlung der Halbjahres(-erst-)prämie an die im Antrag genannte (erste) Wohnanschrift. Am 23.11.1993 langte die - nicht eingeschrieben abgeschickte - Sendung als nicht zustellbar wieder bei der Klägerin ein. Am 22.12.1993 verschuldete der Kläger als Lenker und Halter des den Gegenstand seines Versicherungsantrages bildenden PKWs mit dem pol. Kennzeichen ***** einen Verkehrsunfall, dessentwegen die Klägerin insgesamt S 103.978,-- an Ersatz an den Geschädigten zu leisten hatte. Am 30.12.1993 erhielt die Klägerin eine vom Beklagten am 27.12.1993 abgesandte Schadensmeldung, die er bei dem Versicherungsvermittler ausgefüllt hatte, der schon den Versicherungsantrag aufgenommen hatte. Bei Antragstellung hat der Versicherungsvermittler dem Beklagten nicht bekanntgegeben, daß er allfällige Adreßänderungen der Versicherung sofort mitteilen müsse.

Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Bezahlung von S 103.978,-- an Rückersatz ihrer an den Geschädigten gemachten Leistungen. Der Beklagte habe im Versicherungsantrag offensichtlich eine falsche Anschrift angegeben.

Der Beklagte beantragte die Klagsabweisung und wendete im wesentlichen ein, von der Klägerin nie eine Polizze oder Zahlkarte erhalten zu haben. Durch das Versicherungsantragsformular sei er nicht entsprechend darauf hingewiesen worden, Adreßänderungen dem Versicherer bekanntgeben zu müssen. Er habe bei der Post einen Nachsendeantrag gestellt und habe daher keine Obliegenheitsverletzung zu vertreten. Die Versicherungsprämie habe er zwei Tage nach dem Unfall aus eigenem bezahlt.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Der Beklagte habe nach wirksamer Zustellung der Polizze an die im Versicherungsantrag vom Beklagten angegebene Adresse die Erstprämie nicht bezahlt, was zur Leistungsfreiheit des Versicherers führe.

Das Berufungsgericht änderte mit der angefochtenen Entscheidung dieses Urteil in eine Klagsabweisung ab. Es erklärte die Erhebung der Revision für unzulässig. Bei Zusage einer vorläufigen Deckung gelte die Prämie bis zum Abschluß des endgültigen Versicherungsvertrags oder dem Scheitern der Vertragsverhandlungen als gestundet. § 38 Abs.2 VersVG sei dadurch einvernehmlich abbedungen. Der vorläufige Deckungsschutz trete nach § 5 Abs.6 Satz 4 AKHB 1988 nicht wie im Fall des § 38 Abs.2 VersVG schon beim objektiven Prämienzahlungsverzug, sondern erst - nach unveränderter Vertragsannahme - bei schuldhaftem Zahlungsverzug durch den Versicherungsnehmer außer Kraft. Ein solches Verschulden könne aber nicht vorliegen, wenn der Versicherte vom Versicherer nicht deutlich auf den drohenden Verlust des bestehenden Versicherungsschutzes hingewiesen worden sei. Dies verlange schon der Sinn des § 39 VersVG, wonach der einmal schon bestehende Versicherungsschutz nicht ohne eindeutige Warnung verloren gehen solle. Eine solche Warnung sei aber weder der Polizze noch dem von der Klägerin selbst stammenden Haftpflichtversicherungsantrag zu entnehmen gewesen. Der mit einer vorläufigen Deckungszusage des Versicherers ausgestattete Versicherungsnehmer werde vom Gesetz schutzwürdiger angesehen als derjenige, der erst eine Versicherungsdeckung erlangen soll. Daher könne für ihn auch nicht bloß der objektive Verzug mit der Zahlung der Erstprämie zum Verlust des Versicherungsschutzes führen. Die klagende Versicherung habe aber nicht bewiesen, daß der Beklagte schuldhaft im Zahlungsverzug gewesen sei. Für die Anwendbarkeit der Empfangstheorie sei maßgeblich, daß der Absender damit rechnen könne, daß das Schriftstück vom Empfänger zur Kenntnis genommen werde. Diese Annahme bestehe nicht zu Recht, wenn die Briefsendung nicht am Zustellort zurückgelassen werde, sondern zum Versicherer rücklange. Das Zugangsrisiko trage der erklärende Versicherer. Bei einer Fehlzustellung müsse im Wege einer Interessenabwägung und Interessenbewertung versucht werden, das Zugangsrisiko sachgerecht zu verteilen, wobei zu berücksichtigen sei, wem die fragliche Fehlzustellung über die Zugangsadresse anzulasten sei. Ein Zugangsrisiko des Erklärungsempfängers setze immer eine ordnungsgemäße Postzustellung voraus, die aber auf Risiko des Erklärenden erfolge. Obwohl der Beklagte seine Adreßänderung nach Stellung seines Versicherungsantrages nicht dem Versicherer bekanntgegeben habe, reiche der von ihm am 15.10.1993 auf die Dauer von 6 Monaten beim zuständigen Postamt gestellte Nachsendeauftrag als ausreichende Empfangsvorkehrung aus. Damit erweise sich nach den Feststellungen der Zustellvorgang als nicht ordnungsgemäß, weil eine Nachsendung unterblieben sei. Damit fehle es aber hier auch an der Voraussetzung, vom Zugang im Sinne des § 862a ABGB und einem schuldhaften Verzug des Beklagten bei der Bezahlung der Erstprämie auszugehen. Dem Versicherer wäre selbst nach der Zugangsfiktion des § 10 VersVG, die aber jedenfalls die Absendung mit Rückschein vorausgesetzt hätte, der Beweis oblegen gewesen, daß die an die letzte bekannte Adresse abgesendete Polizze dort tatsächlich zugegangen sei. Im Hinblick darauf, daß die Absendung der Polizze jedoch nicht eingeschrieben erfolgt, und vom Zusteller der Nachsendeauftrag unbeachtet geblieben sei, sei der klagenden Versicherung dieser Beweis nicht gelungen. Auf § 10 VersVG könne sich die Klägerin schon deshalb nicht berufen, weil die Zusendung der Polizze eine Leistungsverbindlichkeit darstelle, die zitierte Norm aber nur für Willenserklärungen gelte. Letztlich sei auch keine Kündigung der vorläufigen Deckung durch die Klägerin erfolgt.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung von der klagenden Partei erhobene außerordentliche Revision ist zulässig, weil die oberstgerichtliche Rechtsprechung zu der zu kärenden Rechtsfrage widersprüchlich ist und in der Lehre zur Anwendbarkeit des § 10 VersVG unterschiedliche Auffassungen bestehen. Sie ist aber nicht berechtigt.

§ 10 Abs.1 VersVG bestimmt, daß, wenn der Versicherungsnehmer seine Wohnung ändert, dies dem Versicherer aber nicht mitteilt, es für eine Willenserklärung, die dem Versicherungsnehmer gegenüber abzugeben ist, genügt, daß der Versicherer einen eingeschriebenen Brief an die letztbekannte Adresse des Versicherungsnehmers absendet. Die Erklärung des Versicherers wird in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ohne die Wohnungsänderung bei regelmäßiger Beförderung dem Versicherungsnehmer zugegangen wäre.

Strittig erscheint die Frage der Anwendbarkeit des § 10 VersVG auf die Zusendung der Polizze als Annahme des Versicherungsantrages des Versicherungsnehmers samt Aufforderung zur Zahlung der Erstprämie, dies auch unter Bedachtnahme auf die Zusage einer vorläufigen Deckung, bzw., falls man eine analoge Heranziehung dieser Bestimmung auf diesen Vorgang verneint, inwieweit die Zugangstheorie auf den vorliegenden Sachverhalt, dem zweifellos eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt, anzuwenden ist. Während die Entscheidung 7 Ob 248/75 (= VersE 718 = VersR 1977, 170) ohne nähere Begründung von der Anwendbarkeit des § 10 Abs.1 VersVG auf die den Versicherungsvertrag begründende Annahmeerklärung des Versicherers durch Zusendung der Polizze unter gleichzeitiger Aufforderung zur Zahlung der ersten Prämie ausgeht, lehnt ein Teil der Lehre (vgl. Bruck-Möller VVG8 I, § 10 Anm.16, sowie Prölss-Martin VVG25, 150) eine solche Vorgangsweise mit der Begründung ab, daß die Aushändigung der Polizze keine Willenserklärung, sondern die Erfüllung einer Leistungsverpflichtung durch den Versicherer sei. Dementsprechend könnten nur Willenserklärungen nach Vertragsabschluß in den Wirkungsbereich des § 10 Abs.1 VersVG fallen. Dies stimmt insofern auch mit den Materialien zu dieser Bestimmung überein, die bei der Anwendbarkeit dieser Bestimmung von einem bereits bestehenden Vertragsverhältnis ausgehen (vgl. die Wiedergabe der Materialien in FN 11 bei Jabornegg, Der Zugang von Erklärungen des Versicherers an den Versicherungsnehmer VR 1992, 337 ff [342]). Im Gegensatz dazu vertreten Schauer, Das österreichische Versicherungsvertragsrecht3, 73, und Jabornegg aaO die Ansicht, daß § 10 VersVG auf alle auch nicht eingeschriebenen Briefe des Versicherers an den Versicherungsnehmer und in differenzierter Form auch hinsichtlich der Zusendung der Polizze samt Aufforderung zur Zahlung der Erstprämie Anwendung zu finden habe. Die österreichische Rechtsprechung hat dazu keinen bzw. einen widersprüchlichen Standpunkt eingenommen. Während in VersR 1977, 170 (wie bereits dargelegt wurde), die Auffassung vertreten wird, daß mit der Abfertigung der Versicherungspolizze an den Versicherungsnehmer durch die Versicherungsgesellschaft die Polizze dem Versicherungsnehmer im Zweifel als zugegangen zu betrachten ist, wird in 7 Ob 38/94 der Standpunkt vertreten, daß die Absendung auch nicht prima facie den Zugang beweise und daß keine Erfahrungssätze bestünden, daß Postsendungen den Empfänger erreichen, weil immer wieder mit Fehlleistungen der Post zu rechnen ist. Der Adressat könne sich auf das einfache Bestreiten des Zuganges beschränken. Ob § 10 VersVG auch auf nicht eingeschriebene Sendungen des Versicherers an den Versicherungsnehmer anzuwenden ist, läßt die Entscheidung JBl 1968, 374 offen. Wiewohl die Heranziehung des § 10 Abs.1 VersVG auch auf die Zusendung der Polizze samt der Aufforderung zur Zahlung der Erstprämie durch den Versicherer den Vorteil der leichteren Nachweislichkeit des Zustellvorganges zufolge der mit dem Einschreiben eines Briefes verbundenen Beurkundung hätte, schließt sich der erkennende Senat im gegebenen Anlaßfall der eingangs wiedergegebenen Lehre von Bruck-Möller (aaO) und Prölss-Martin (aaO) im Zusammenhalt mit der sich aufgrund der Gesetzesmaterialien ergebenden Auslegung dieser Bestimmung an. Daß mit der Zusage einer vorläufigen Deckung ein Vertragsverhältnis zwischen den Streitteilen bereits zustandegekommen ist, vermag an dieser Ansicht nichts zu ändern.

Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß aufgrund der Bestimmung des § 5 Abs.6 Satz 3 und 4 AKHB 1988 die vorläufige Deckung (erst) mit der unveränderten Annahme des Versicherungsantrages durch den Versicherer und dem schuldhaften Zahlungsverzug des Versicherungsnehmers außer Kraft tritt und somit zwischen den Streitteilen ein wenn auch nur "provisorisches" Vertragsverhältnis bestand.

Jabornegg (aaO, 343 f) vertritt unter Berufung auf Rummel in Rummel ABGB2 § 862a Rz 5 die Auffassung, daß bei absichtlicher Vereitelung des Zuganges durch den Empfänger der Zugang ähnlich den Regeln über die Bedingungsvereitelung zu fingieren sei. Verhindere der Empfänger treuwidrig - zB durch Aufenthaltswechsel oder Nichtabholung - den Zugang, so werde die an ihn gerichtete Erklärung dennoch wirksam. Darüber hinaus träfen jeden Empfänger gewisse Obliegenheiten zur Vorsorge, daß ihn betreffende (und auch zu erwartende) Erklärungen zugehen können. Dies sei umso stärker zu vertreten, je eher mit der Möglichkeit des Einlangens rechtserheblicher Erklärungen gerechnet werden müsse. Der Oberste Gerichtshof habe im Rahmen seiner arbeitsrechtlichen Judikatur wiederholt ausgesprochen, daß der Arbeitnehmer bei Begründung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitgeber seine Wohnanschrift bekanntzugeben habe und daß er nach Treu und Glauben auch verpflichtet sei, einen späteren Wohnsitzwechsel ohne besondere Aufforderung mitzuteilen. Dementsprechend sei der Arbeitgeber berechtigt, eine Kündigung oder sonstige empfangsbedürftige Willenserklärung grundsätzlich an die letzte ihm bekanntgewordene Wohnadresse des Arbeitnehmers zu richten und dieser müsse sich den Empfang einer solchen Erklärung auch dann mit einer postordnungsgemäßen Zustellung anrechnen lassen und daher die Zustellung gegen sich gelten lassen, wenn er die Wohnung bereits verlassen habe, ohne den Arbeitgeber davon zu benachrichtigen. In diesem Sinn sei § 10 VersVG am besten als Vertrauensschutz des sich verkehrsgerecht verhaltenden Erklärenden zu begreifen. Es gehe um den Schutz desjenigen, der unter Berücksichtigung redlicher Verkehrsübung davon ausgehen darf, alles getan zu haben, um seine Erklärung ordnungsgemäß zugehen zu lassen, dessen Bemühen aber jedenfalls vorläufig deshalb erfolglos bleibt, weil sich der Erklärungsempfänger pflichtwidrig verhalten hat. Zutreffend mißt Jabornegg in diesem Zusammenhang dem Umstand, daß der Erklärungsempfänger nicht ausdrücklich darüber belehrt worden ist, seine Adreßänderung dem Versicherer bekanntzugeben, keine Bedeutung zu, weil sich eine derartige Verpflichtung ohnedies jedermann einleuchtend deshalb ergibt, weil sich die Überlegung, daß der Geschäftspartner bei nicht bekanntgegebener Adreßänderung seine Willenserklärung ja nicht mehr rechtswirksam zusenden kann, wohl ohne nähere Belehrung von alleine ergibt. Insofern kommt der erkennende Senat trotz der bereits dargelegten Unanwendbarkeit des § 10 Abs.1 VersVG auf die Begründung des Versicherungsvertragsverhältnisses zum gleichen Ergebnis wie Jabornegg und teilt auch dessen, sowie die von Schauer (aaO) vertretene Ansicht, daß den Versicherungsnehmer trotzdem die Verpflichtung trifft, seinem Adreßwechsel so wirksam Rechnung zu tragen, daß ihm auch in der Folge Sendungen des Versicherers zugehen können. Zufolge der nicht bejahten Heranziehung des Regelungsinhaltes des § 10 Abs.1 VersVG besteht im Zusammenhang mit § 862a ABGB keine einheitliche Regelung, welche Vorsorge für derartige Erklärungsvorkehrungen getroffen werden müssen, sodaß auch ein der Post erteilter Nachsendeauftrag hiefür ausreichend ist (vgl. Jabornegg aaO, 340). Zu Jabornegg wäre anzumerken, daß seine in diesem Punkt durchaus zu teilende Ansicht von einem ordnungsgemäßen Vorgehen der Post abhängig ist, also nicht zu erwarten ist, daß der Post Fehler wie im vorliegenden Fall unterlaufen. Erteilt der Versicherungsnehmer einen derartigen Nachsendeauftrag, kann ihm keine Pflichtwidrigkeit angelastet werden.

Der Revision der klagenden Versicherung war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Revisionskosten gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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