OGH 10ObS205/95

OGH10ObS205/9528.11.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Dafert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dipl.Ing. Dr. Peter Israiloff (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Marko C*****, Arbeiter, *****, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. August 1995, GZ 11 Rs 58/95-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8. März 1995, GZ 25 Cgs 195/94b-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 15.4.1942 geborene Kläger war bei einer Fleischhauerei als Selcher beschäftigt. Am 2.8.1993 arbeitete er an einer Kantwurstpresse. An dieser Maschine riß eine Eisenkette, die dem Kläger in das rechte Auge schnellte. Als Diagnose nach diesem Unfall wurde festgestellt: Teillähmung des Oberlides rechts, Doppeltsehen beim Blick nach rechts, Prellungsveränderungen des rechten Augapfels (Spaltbildung der Iriswurzel unten, narbige Veränderungen der Regenbogenhaut mit Störung der Pupillenreaktion, prellungsbedingte Pigmentierung in der Netzhautmitte, in der mittleren Peripherie, degenerative Veränderungen in der temporal oberen Peripherie und Glaskörpertrübungen). Das beidäugige Sehen und das Tiefensehen sind unter normalen Bedingungen nicht gestört, die in Endlagen beim Blick nach rechts oben und unten angegebenen Doppelbilder sind praktisch bedeutungslos geworden. Der von der Beklagten beauftragte Augenfacharzt stellte in seinem augenärztlichen Rentengutachten vom 12.1.1994 fest, daß beim Kläger insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 v.H. anzunehmen sei, wovon 10 % auf die Augenmuskelstörung und 5 % auf narbige Veränderungen an der Regenbogenhaut entfielen. Der Chefarzt der Beklagten empfahl hingegen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. für ein Jahr anzunehmen und dann eine neuerliche Untersuchung zu verlangen. Diese Empfehlung war auslösend für den Bescheid der Beklagten vom 23.3.1994, mit dem dem Kläger eine vorläufige Versehrtenrente von 20 v. H. der Vollrente ab 4.10.1993 zuerkannt wurde.

Mit Bescheid der Beklagten vom 12.10.1994 wurde dem Kläger diese vorläufig gewährte Rente gemäß § 99 Abs 1 und 3 ASVG ab 1.12.1994 entzogen. In der Begründung dieses Bescheides wurde dargelegt, daß in den für die Feststellung der bisherigen Versehrtenrente maßgebend gewesenen Verhältnissen inzwischen eine ärztlich festgestellte Änderung eingetreten sei, nämlich eine Besserung des Doppelbildsehens und eine Abnahme der Augenmuskelstörung. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß liege daher nicht mehr vor.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Klage mit dem Begehren auf Weitergewährung der Versehrtenrente von 20.v.H. der Vollrente ab 1.12.1994. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit würde weiterhin 20 v.H. betragen, weil keine Besserung des Zustandes eingetreten sei.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, daß eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen eingetreten sei, so daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur mehr 10 v.H. betrage.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte ergänzend fest, daß die beim Kläger vorliegende Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 1.12.1994 "aus augenfachärztlicher Sicht" mit 15 v.H. zu bemessen sei. Der gerichtliche Sachverständige habe in seinem Gutachten ausdrücklich festgestellt, daß gegenüber dem vom Anstaltsgutachter erhobenen Befund keine Veränderung der Unfallsfolgen eingetreten sei. Daraus zog das Erstgericht den rechtlichen Schluß, daß die Versehrtenrente, die nur für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. gebühre, von der Beklagten zu Recht entzogen worden sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes nach dem Eintritt des Versicherungsfalles sei die Versehrtenrente als Dauerrente festzustellen; diese Feststellung setze nach dem Wortlaut des § 209 Abs 1 ASVG eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus. Die Rechtsansicht des Klägers, mangels einer Änderung der Verhältnisse bestehe immer noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H., lasse das Wesen der erstmaligen Feststellung einer Dauerrente außer acht.

Gegen dieses Urteil des Gerichtes zweiter Instanz erhob der Kläger Revision aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache. Er beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens.

Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Auszugehen ist davon, daß der Versicherungsfall am 2.8.1993 eingetreten ist und dem Kläger vom 4.10.1993 bis zum 30.11.1994 eine vorläufige Rente zuerkannt wurde. Kann die Versehrtenrente während der ersten zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles wegen der noch nicht absehbaren Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit ihrer Höhe nach noch nicht als Dauerrente festgestellt werden, so hat der Träger der Unfallversicherung die Versehrtenrente als vorläufige Rente zu gewähren. Spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes ist die Versehrtenrente als Dauerrente festzustellen; diese Feststellung setzt eine Änderung der Verhältnisse (§ 183 Abs 1) nicht voraus und ist an die Grundlagen für die Berechnung der vorläufigen Rente nicht gebunden (§ 209 Abs 1 ASVG). Hat der Versicherungsträger die zwingende gesetzliche Vorschrift des § 209 Abs 1 Satz 2 ASVG, daß nämlich die Dauerrente spätestens mit Ablauf von zwei Jahren festzustellen ist, nicht eingehalten, so tritt die vorläufige Rente in die Funktion der Dauerrente mit der Rechtsfolge des § 183 Abs 2 ASVG hinsichtlich der Neufeststellung, d.h. daß in einem solchen Fall die Rente immer nur in Zeiträumen von mindestens einem Jahr nach der letzten Feststellung neu festgestellt werden kann, was eine Änderung der Verhältnisse voraussetzt (SSV-NF 6/2 mwN). Bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente kann hingegen der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit völlig neu bestimmt werden, also auch unter 20 v.H. oder unter Umständen sogar mit null, was auf eine Entziehung der vorläufigen Rente hinausläuft (SSV-NF 6/15 mwN; zuletzt 31.10.1995, 10 Ob S 199/95).

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die vorläufige Versehrtenrente innerhalb der zweijährigen Frist des § 209 Abs 1 ASVG, nämlich rund 14 Monate nach Eintritt des Versicherungsfalles entzogen und darauf verwiesen, daß eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht mehr vorliege. Im Sinne der zitierten Rechtsprechung stellt dieser Bescheid seinem Wesen nach keine Neufeststellung der Rente bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse iS des § 183 ASVG dar, sondern die dem Versicherungsträger nach Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente obliegende Feststellung der Versehrtenrente als Dauerrente, wobei die Entziehung der vorläufigen Rente nicht anders als die Ablehnung einer Dauerrente verstanden werden kann. Dem hält der Revisionswerber entgegen, daß dem angefochtenen Bescheid ein Wille der Beklagten zur Feststellung der Dauerrente nicht zu entnehmen sei; im Gegenteil berufe sich die Beklagte sogar ausdrücklich auf eine Besserung des Gesundheitszustandes und rechtfertige die Entziehung mit § 99 Abs 1 und 3 ASVG. Ein Entzug der vorläufigen Rente innerhalb des zweijährigen Zeitraumes mit der ausdrücklichen Begründung, daß eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht mehr vorliege, kann aber, weil es sich ganz offenkundig um eine dauernde Maßnahme handelt, nach den Denkgesetzen nicht anders behandelt werden als die Feststellung einer Dauerrente, sozusagen als Feststellung einer Dauerrente mit dem Wert null (Teschner/Widlar ASVG

45. ErgLfg 1037 Anm 2a zu § 209 unter Bezugnahme auf eine ältere Entscheidung des OLG Wien).

Freilich wäre es im Interesse der Rechtssicherheit vorteilhaft gewesen, wenn die Beklagte bei Entziehung der vorläufigen Versehrtenrente innerhalb des zweijährigen Zeitraumes den Ausspruch in ihren Bescheid aufgenommen hätte, daß ein Anspruch auf Dauerrente gemäß § 203, 209 Abs 1 ASVG nicht bestehe (wie dies nach dem der Entscheidung 10 Ob S 199/95 zugrunde liegenden Sachverhalt geschehen ist; ähnlich SSV-NF 3/104). Dennoch sind die beiden Fälle gleich zu behandeln, weil eben die Entziehung der vorläufigen Versehrtenrente unter Hinweis darauf, daß eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht mehr vorliege, inhaltlich nur als Verneinung des Anspruchs auf Dauerrente aufgefaßt werden kann, wobei völlig klar ist, daß - ohne neuerliche wesentliche Änderung - ein Anspruch auf Dauerrente in Hinkunft nicht bestehen kann. Auch nach den den Entscheidungen SSV-NF 6/2 und 6/15 zugrunde liegenden Sachverhalten war die vorläufige Versehrtenrente gemäß § 99 ASVG entzogen worden, ohne daß ausdrücklich ausgesprochen wurde, daß ein Anspruch auf Dauerrente nicht bestehe. Dennoch hat der Senat in beiden Fällen diesen Bescheid inhaltlich als Feststellung der Dauerrente "mit null" angesehen und eine Änderung der Verhältnisse iS des § 183 Abs 1 ASVG nicht verlangt. Dem Einwand des Revisionswerbers, daß auch eine vorläufige Versehrtenrente etwa ein Jahr nach dem Unfall von 30 v.H. auf 20 v.H. herabgesetzt werden könne, ist entgegenzuhalten, daß ein solcher Fall hier nicht vorliegt, sondern daß die Beklagte in ihrem Bescheid unmißverständlich ausgesprochen hat, daß eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht mehr vorliege. Ein solcher Ausspruch setzte nach den obigen Darlegungen eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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