OGH 10ObS161/95

OGH10ObS161/9520.9.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Christian B*****, ***** im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.März 1995, GZ 8 Rs 20/95-21, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 6.Oktober 1994, GZ 10 Cgs 147/93t-18, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben, und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 18.3.1965 geborene Kläger hat den Beruf des Kochs erlernt und war ab 10.10.1983 in diesem Beruf bei einem größeren Unternehmen tätig. Im November 1991 traten erstmalig Ekzeme an seinen Fingern auf. Im Jahr 1992 verstärkte sich das Leiden und es wurden wiederholte, längerdauernde Krankenstände notwendig. In den Zwischenphasen war er weiter als Koch tätig. Im Mai 1992 waren bereits alle Finger offen und jede Berührung mit Gemüse, Wasser oder Hitze führte zu starken Schmerzen; die Ekzeme breiteten sich auch auf die Unterarme aus. Erst gegen Ende des Jahres 1992 kam es nach längerer Nichtausübung des Berufes zum Abheilen der Ekzeme. Seither getraut sich der Kläger nur einmal wöchentlich zu duschen und sich nur einmal täglich die Hände zu waschen, da ansonst wieder Juckreiz und ekzematische Veränderungen auftreten. Ab 7.1.1993 begann die Umschulung des Klägers auf Kellnertätigkeiten. Aufgrund des Entgegenkommens des Dienstgebers sowie der Kollegen war er dabei von Hitzearbeiten und Putzarbeiten befreit. Die Umschulungsphase währte ein halbes Jahr und ab Mitte 1993 war der Kläger als angelernter Kellner im Service tätig, war aber von jenen Bereichen befreit, in denen Gefahr bestand, daß sein dermatologisches Leiden wieder zum Ausbruch kommt; es wurde ihm auch das Tragen von schweren Getränkekisten abgenommen. Während der Kläger als Koch etwa 19.500 S monatlich verdient hatte, sank sein Einkommen als Kellner auf 12.200 S. In der Folge wurde das Dienstverhältnis des Klägers durch Dienstgeberkündigung beendet.

Aufgrund des bestehenden Hautleidens (Athropie der Haut, Trockenheit) sind dem Kläger Arbeiten, die in Nässe, Kälte oder Hitze auszuführen sind oder mit einer starken mechanischen Beanspruchung der Hände verbunden sind, nicht zumutbar. Schwere mechanische Beanspruchung und Belastung in diesem Sinne ist noch nicht das Tragen von gefüllten Tellern oder Tabletts, wohl aber das Tragen voller Getränkekisten. Es kann dem Kläger nicht zugemutet werden, Gegenstände mit einem Gewicht von über 5 kg zu heben und zu tragen. Es handelt sich um ein Abnützungsekzem. Als der Kläger als Koch begann, hatte er noch keine Schwierigkeiten. Im Lauf der Jahre kam es aber durch die ständige Beanspruchung der Haut durch langes Arbeiten in heißem und kaltem Wasser, Kontakt mit Gemüsesäften und Säuren wie Essig etc zu einer Verdünnung und Überempfindlichkeit der Haut. Durch die Abnützung wurde die Haut dünner und anfälliger für Beanspruchungen, es kam dann bei Belastung zum Auftreten von Rissen und Ekzemen. Risse sind Eintrittspforten für Bakterien, was Infektionen im Handbereich zur Folge hat, womit das Arbeiten mit Nahrungsmitteln unmöglich wird. Der Zustand ist nicht besserbar. Die Tätigkeit eines Kochs ist dem Kläger nicht mehr zumutbar, aber auch nicht die Tätigkeit als Kellner, weil auch dabei Arbeiten in Nässe und Kälte anfallen, die der Kläger nicht ausüben darf. Der Kläger konnte lediglich bei seinem früheren Dienstgeber als Kellner arbeiten, weil er dort in einem geschützten Arbeitsbereich tätig war, zumal ihm die nicht zumutbaren Arbeiten abgenommen wurden. Das Jahresbruttoeinkommen liegt bei der Verrichtung von Aufsichtstätigkeiten um 40 % unter dem eines Kochs.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 28.7.1993 wurde ein Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus Anlaß seiner Erkrankung, die er sich als Koch zugezogen habe, mit der Begründung abgelehnt, daß eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nicht vorliege.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte der Kläger, das Vorliegen einer Berufskrankheit im Sinne des § 177 Anlage 1 Nr 19 ASVG festzustellen sowie die Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente im Ausmaß von 40 vH der Vollrente.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Zustand des Klägers habe sich nach der Aufgabe der schädigenden Erwerbstätigkeit als Koch so weit konsolidiert, daß eine entschädigungspflichtige Hautkrankheit nicht mehr vorliege.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei zur Leistung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 40 vH der Vollrente. Die Hauterkrankung des Klägers sei als Berufskrankheit zu qualifizieren, weil sie einerseits auf seine Tätigkeit als Koch zurückzuführen sei und ihn auch zur Aufgabe dieses Berufes gezwungen habe. Bei Hautkrankheiten sei die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit medizinischerseits äußerst schwierig. Eine befriedigende Lösung dieser Einschätzung sei nur unter Bezugnahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, bezogen auf das Arbeitsgebiet, das der arbeitssuchenden Bevölkerung offenstehe, möglich. Dabei sei allerdings zur Vermeidung unbilliger Härten auf die bisherige Berufstätigkeit angemessen Rücksicht zu nehmen. Hier stehe fest, daß der Kläger weder in seinem erlernten Beruf als Koch noch in seinem zuletzt ausgeübten Beruf als Kellner weiter tätig sein könne. Es seien ihm nur mehr Arbeiten im Aufsichtsbereich möglich, womit eine Einkommenseinbuße von 40 % verbunden sei. Das Feststellungsbegehren sei abzuweisen, weil dem Leistungsbegehren stattgegeben worden sei und ein Begehren auf Feststellung daneben nicht geltend gemacht werden könne.

Das Berufungsgericht gab der gegen den stattgebenden Teil dieses Urteiles gerichteten Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln und übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Grundlage seiner rechtlichen Beurteilung. Die Erwerbsfähigkeit eines Menschen im Sinne des § 203 ASVG sei seine Fähigkeit, sich unter Ausnützung der Arbeitsgelegenheiten, die sich nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei grundsätzlich abstrakt zu prüfen. Die durch die Gegenüberstellung der Durchschnittsverdienste in den Arbeitsmöglichkeiten, die dem Versicherten bis zum Eintritt des Versicherungsfalles offenstanden, mit den Durchschnittsverdiensten in den ihm im Hinblik auf die Unfallsfolgen verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten ermittelte Veränderung bringe den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit in Prozenten zum Ausdruck. Die frühere Beschäftigungsart sei soweit zu berücksichtigen, als zur Vermeidung von unbilligen Härten im Einzelfall auf die Ausbildung und die bisherige berufliche Stellung angemessen Rücksicht genommen werden müsse. Ausgehend hievon habe das Erstgericht die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers zu Recht mit 40 vH angenommen, zumal der von ihm bisher erzielte Verdienst um mehr als 40 % höher liege als jener, der im Fall einer Verweisung erzielbar wäre. Daraus ergebe sich auch, daß der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit primär eine Frage der rechtlichen Beurteilung und nicht eine von ärztlichen oder berufskundlichen Sachverständigen zu lösende Tatfrage sei. Eine Minderung des erzielbaren Einkommens um 40 % stelle aber jedenfalls einen Härtefall dar, der durch die Gewährung einer entsprechenden Versehrtenrente auszugleichen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Nach der seit SSV-NF 1/64 ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, die auch von einem Teil der Lehre gebilligt wird (zB Grillberger, Österreichisches Sozialrecht2, 67 f) ist unter Erwerbsfähigkit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung die Fähigkeit des (der) Versicherten zu verstehen, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm (ihr) nach seinen (ihren) Kenntnissen und Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Als Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist daher die Beeinträchtigung dieser Fähigkeit anzusehen. Für die Ermittlung der MdE gilt das Prinzip der abstrakten Schadensberechnung. Dies bedeutet, daß zunächst die individuelle Erwerbsfähigkeit des (der) Versicherten vor dem Unfall rechnerisch mit 100 vH zu bewerten ist. Dieser Erwerbsfähigkeit wird die nach dem Arbeitsunfall oder wegen der Berufskrankheit verbliebene Erwerbsfähigkeit als Vergleichswert gegenübergestellt. Die Differenz ergibt die MdE. Entschädigt wird also nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten vor und nach dem Arbeitsunfall (der Berufskrankheit). Ob der Versicherungsfall tatsächlich zu einem Einkommensausfall führt, ist bedeutungslos. Die Versehrtenrente wird infolge der abstrakten Schadensberechnung auch dann gewährt, wenn kein Lohnausfall entstanden ist oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird (zB Gitter, Sozialrecht3, 133 f mwN).

Die aufgrund von ärztlichen Gutachten über die gesundheitlichen Folgen eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit und die Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit festgestellte medizinische MdE berücksichtigt auch die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Deshalb bietet sie im allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der MdE, wenn nicht aus besonderen Gründen ein Abweichen geboten ist (zB SSV-NF 7/127 mwN; Gitter aaO 134). Mag auch die Ermittlung der MdE bei Hautkrankheiten auf größere Schwierigkeiten stoßen als in anderen Fällen, ist doch diese grundsätzliche Vorgangsweise auch in diesem Fall einzuhalten und die MdE abstrakt zu ermitteln (SSV-NF 4/142).

Bereits in der Entscheidung SSV-NF 1/64 wurde daher ausgeführt, daß die Grundlage für die Ermittlung des Grades der MdE regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen zu bilden hat, wobei sich die Fragestellung an den ärztlichen Gutachter auch über seine Meinung nach dem Umfang der MdE zu erstrecken hat. Auf dieser Grundlage sind sodann Feststellungen über die MdE aus medizinischer Sicht zu treffen. Solche Feststellungen fehlen im vorliegenden Fall. Die Sache ist daher nicht spruchreif und in diesem Punkt ergänzungsbedürftig (ähnlich 10 ObS 248/94).

Auch mit den Ausführungen zur Frage des Härtefalles sind die Vorinstanzen von der herrschenden Rechtsprechung abgewichen. Nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofes könnte vom Vorliegen eines Härtefalles nur ausgegangen werden, wenn den Kläger infolge der Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen würden und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich wäre oder ganz erheblich schwerfallen würde. Dabei ist im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen (SSV-NF 6/44). Die Vorgangsweise der Vorinstanzen, die die MdE ausgehend vom Verdienst in dem vom Kläger ausgeübten Beruf prüften, entspricht einer konkreten berufsbezogenen Bemessung der MdE, die aber verfehlt ist. Die Bestimmungen über den Berufsschutz haben im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zur Anwendung zu kommen (SSV-NF 1/64). Der Umstand, daß der Versicherte seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann und damit allenfalls ein Einkommensentfall einhergeht, bildet für sich keine Grundlage für die Annahme eines Härtefalles (vgl 10 ObS 248/94).

Die Frage, welche Berufe dem Versicherten im Hinblick auf die Unfallverletzungen noch offenstehen, kann auch nicht allein ausgehend vom derzeitigen Ausbildungsstand beurteilt werden. Wesentlich sind vielmehr die Fähigkeiten, sich auch neue Kenntnisse anzueignen und in bisher fremden Berufen tätig zu sein. Der Umstand, daß der Kläger bisher über eine kaufmännische Ausbildung nicht verfügt, spricht nicht dagegen, daß er in solchen Berufen tätig sein kann. Die umfangreichen Bestimmungen über Rehabilitationsmaßnahmen in der gesetzlichen Unfallversicherung treffen für eine berufliche Umstellung Vorsorge, und es muß insbesondere von einem jüngeren Versicherten verlangt werden, daß er sich einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Umschulung unterzieht und sein berufliches Betätigungsfeld auch wechselt. Die Feststellung, daß der Kläger nur mehr für Aufsichtstätigkeiten eingesetzt werden könnte, widerspricht überdies geradezu der Lebenserfahrung, zumal auf dem Arbeitsmarkt darüberhinaus eine sehr große Zahl von Tätigkeiten zur Verfügung steht, die schädliche Einwirkungen, die der Kläger vermeiden muß, nicht mit sich bringen.

Das Erstgericht wird daher das Verfahren durch Feststellung des medizinischen Grades der MdE zu ergänzen und auf dieser Grundlage unter Beachtung der dargestellten Grundsätze über das Begehren des Klägers neuerlich zu entscheiden haben. Bei dieser Entscheidung wird auch zu beachten sein, daß der Kläger ein Begehren auf Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente erhoben hat und sich die gerichtliche Entscheidung im Rahmen dieses Begehrens zu halten hat.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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