OGH 10ObS248/94

OGH10ObS248/941.3.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Friedrich Stefan (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Anton Wladar (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria Henriette P*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr.Heinz Robathin, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Vesehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18.Mai 1994, GZ 31 Rs 41/94-48, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2.Juli 1993, GZ 25 Cgs 58/93i-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden in ihren stattgebenden Teilen aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Mit Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 16.10.1990 wurde der Anspruch der Klägerin auf Entschädigung aus Anlaß der Erkrankung, die sie sich als Sekretärin in einer Schule zugezogen habe, abgelehnt, weil keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 1 ASVG, insbesondere keine Hauterkrankung nach laufender Nummer 19 der Anlage 1 zum ASVG bestehe.

Die Klägerin stellte das Begehren, ihr ab 12.6.1990 eine Versehrtenrente in Höhe der Vollrente samt Zusatzrente zu gewähren. Die Beklagte beantragt die Abweisung dieses Begehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin auf Grund der behaupteten Berufskrankheit ab 1.7.1991 eine Versehrtenrente in Höhe von 80 von 100 der Vollrente samt Zusatzrente für Schwerversehrte zu gewähren und eine vorläufige Zahlung von monatlich 6.000 S zu erbringen. Es stellte fest, daß die am 22.7.1934 geborene Klägerin seit 1983 als Sekretärin in einem Bundesrealgymnasium gearbeitet habe. Sie leide an einem chronisch-toxisch degenerativen Handekzem ohne Hinweis auf ein allergisches Geschehen; die Ekzeme würden durch den Kontakt mit beruflich vewendeten Papieren verschlechtert. Die primäre Reaktion sei mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 80 % berufsbedingt. Der Papierkontakt sei grundsätzlich zu vermeiden, wenn er berufsbedingt regelmäßig notwendig sei. Der Papierkontakt, der für das durchschnittliche Alltagsleben erforderlich sei, sei tolerabel. Eine Umschulung in einen anderen Büroberuf sei nicht zu empfehlen. Auch Tätigkeiten wie die einer Telefonistin oder Schreibarbeiten mittels Computer, bei denen lediglich sporadisch Papierkontakt erfordert werde, seien nicht empfehlenswert. Ausgehend von der Beschäftigung der Klägerin als qualifizierte Sekretärin könnten für sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt keine Bürotätigkeiten angeführt werden, bei denen Papierkontakt zu vermeiden sei. Für die Klägerin würden daher sämtliche sich aus ihrem Berufsverlauf ergebenden Berufstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausscheiden. Wegen des zu meidenden Papierkontaktes kämen für sie auch ohne Berücksichtigung ihres Berufsverlaufes nur mehr sehr wenige Arten von Berufstätigkeiten in Frage, vor allem nur mehr körperlich betonte Hilfstätigkeiten in der Industrie. Es blieben für sie maximal 20 % von Tätigkeiten im Rahmen körperlicher Hilfstätigkeiten übrig. Ihr Dienstverhältnis sei zum 30.6.1991 gekündigt worden. Sie beziehe seit 1.3.1992 eine Pension von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten.

In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht davon aus, daß der Kausalzusammenhang zwischen der Berufstätigkeit und dem Hautleiden gegeben sei. Da dem berufskundlichen Gutachten folgend nur 20 % von Tätigkeiten im Sinne körperlicher Hilfstätigkeiten übrig blieben, sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 80 von 100 zu bemessen. Die "Härtefalljudikatur" sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und bestätigte das erstgerichtliche Urteil mit der Maßgabe, daß es das Mehrbegehren abwies. In rechtlicher Hinsicht meinte es, der vorliegende Fall rechtfertige ein Abweichen von der medizinischen Einschätzung, weil hier ein besonderes berufliches Betroffensein der Klägerin vorliege: Sie sei überwiegend vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen dieses Urteil von der Beklagten erhobene Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Die Versehrtenrente wird nach dem Grade der durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessen (§ 205 Abs 1 ASVG). Nach § 203 Abs 1 ASVG besteht Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 von 100 vermindert ist. Wie der Senat wiederholt ausgeführt hat, ist der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Erwerbsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen (SSV-NF 7/130 mwN). Der Senat hat daran festgehalten, daß Grundlage zur Annahme der Minderung der Erwerbsfähigkeit regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen oder die Folgen der Berufskrankheit und deren Auswirkungen ist. Diese medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit, die auch auf die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bedacht nimmt, ist im allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (StR seit SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 = JBl 1988, 259 = DRdA 1989, 128; zuletzt 10 ObS 13/95 unter Hinweis auch auf SSV-NF 7/52 und 7/127).

Den Entscheidungen der Vorinstanzen ist nicht zu entnehmen, wie hoch der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von einem ärztlichen Sachverständigen eingeschätzt wurde. Allein deshalb erweist sich die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht als notwendig. Das Erstgericht überging das dermatologische Gutachten (ON 12), wonach eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 vH "durchaus gegeben" sei, mit Stillschweigen und stützte sich lediglich auf ein berufskundliches Gutachten, wonach für die Klägerin nur 20 % von Tätigkeiten im Rahmen körperlicher Hilfstätigkeiten übrig blieben, daß sie also von 80 % der Tätigkeiten ausgeschlossen sei. Allein aus dieser Überlegung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 von 100 anzunehmen, ist aber bereits vom Ansatz her verfehlt. Nicht die Zahl der noch ausübbaren Berufe bringt den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit in Prozenten zum Ausdruck; maßgeblich ist vielmehr, daß nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten vor und nach dem Arbeitsunfall (der Berufskrankheit) entschädigt wird (zuletzt 10 ObS 13/95). Ob und in welcher Höhe eine Versehrtenrente gebührt, richtet sich auch bei Krankheiten, die zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen, nicht etwa nach der Unfähigkeit, den zuletzt ausgeübten Beruf weiter auszuüben, sondern nach der durch die Krankheit bewirkten Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (SSV-NF 5/93 ua).

Das Berufungsgericht meinte zu Unrecht, die erstgerichtliche Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Heranziehung der sogenannten Härteklausel (SSV-NF 6/44 ua) stützen zu können. Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, daß es im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall möglich sei, auch die Ausbildung und den bisherigen Beruf des Versicherten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen und den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von der medizinischen Einschätzung höher festzusetzen. Damit ein Härtefall vorläge, müßten den Versicherten infolge der Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen, und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich sein oder ganz erheblich schwerfallen, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen wäre. Allfällige künftige Schäden dieser Art, zB der Verlust von Aufstiegsmöglichkeiten müßten dabei unbeachtlich sein. Dies entspricht auch der in der Bundesrepublik Deutschland vertretenen Auffassung zu der ausdrücklich im Gesetz enthaltenen Härteklausel des § 581 Abs 2 RVO über die Berücksichtigung erworbener besonderer beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen (Nachweise in SSV-NF 6/44). Im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO liegen die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile dann vor, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob dies der Fall ist, hat das Bundessozialgericht insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, daß die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete. Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles kann sich eine höhere Bewertung der MdE ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann. Dabei wurde aber betont, daß allein die unfallbedingte Aufgabe des erlernten Berufs ebensowenig eine Erhöhung der MdE zu begründen vermag, wie allein der Umstand, daß erst unter Heranziehung der Erhöhungsvorschrift ein Anspruch auf Versehrtenrente ermöglicht werden kann. Das Bundessozialgericht hat stets betont, daß aus diesen Umständen nicht allein bzw nicht zwangsläufig auf das Vorliegen einer unbilligen Härte geschlossen werden könne; das gleiche gelte für den erheblichen Minderverdienst, den ein Betroffener wegen des Berufsverlustes hinzunehmen habe, und zwar wegen des im Unfallsversicherungsrecht herrschenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung (BSGE 70, 47 = SGb 1993, 317). Als Beispiele für eine Anwendung der Härteklausel dienen unter anderem die Bewegungseinschränkung der linken Hand bei einem Geiger oder der Verlust des Geruchssinns bei einem Unternehmer einer Kaffeerösterei, also Fälle mit angeborenen und nicht nur erlernten Fähigkeiten (Musikalität, besonderer Geruchssinn; vgl die Nachweise bei Nehls, SGb 1993, 319). Ebenso wurde auch ein Härtefall ausnahmsweise in der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit eines Flugkapitäns gesehen, wobei darauf hingewiesen wurde, daß der Versicherte nicht zuletzt dadurch gravierend benachteiligt war, daß seine Berufskrankheit trotz ihrer einschneidenden beruflichen Auswirkungen keine MdE in rentenberechtigender Höhe zur Folge hatte; in einem solchen Fall sei es zur Beseitigung dieser unbilligen Härte unter Berücksichtigung der übrigen Umstände (Ausübung des hochqualifizierten und auch besonders hoch dotierten Berufes über 20 Jahre lang, Alter des Klägers) angemessen, die Rentenleistung durch eine Erhöhung der MdE auf den Grad von 20 vH zu ermöglichen (BSGE 70, 47 = SGb 1993, 317 mit ablehnender Anmerkung von Nehls).

Die Umstände der Klägerin sind mit diesen beispielsweise genannten Fällen der Anwendung der Härteklausel nicht zu vergleichen. Abgesehen davon, daß es sich bei einer Sekretärin im Schuldienst nicht um eine besonders hoch qualifizierte und hoch dotierte Anstellung handelt, hat sie diesen Beruf nur von September 1983 bis Juni 1991 ausgeübt. Sie war zwar von 1953 bis 1960 als Sekretärin bei einer Import/Exportfirma tätig, dann jedoch etwa zwei Jahre lang Groundhostess bei einer Fluglinie und von 1961 bis 1969 an einem Flugscheinverkaufsschalter tätig. Von 1969 bis 1983 war sie nach den Aktenunterlagen nicht berufstätig und im Haushalt tätig. Der Versicherungsverlauf weist von Dezember 1968 bis März 1969 und von April bis Juli 1971 Wochengeldbezug und von Juni 1972 bis August 1983 135 Monate der (freiwilligen) Weiterversicherung aus (Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 3.10.1989, VersNr 281622o734). Wenngleich nun die Klägerin auf Grund ihres degenerativen Handekzems den "regelmäßig notwendigen" Kontakt mit Papier vermeiden muß (Papierkontakt im durchschnittlichen Alltagsleben ist ja tolerabel), liegt darin kein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne der oben dargestellten Härteklausel. Insoweit ist dem Erstgericht beizupflichten, daß die sogenannte Härtefalljudikatur auf die Klägerin nicht anwendbar ist. Den Schlußfolgerungen des Berufungsgerichtes kann daher nicht beigetreten werden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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