OGH 10ObS81/95

OGH10ObS81/959.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Meches und Dr. Felix Joklik (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Peter E*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Friedrich Flendrovsky und Dr. Thomas Pittner, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr. Karl Leitner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 1995, GZ 34 Rs 148/94-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes vom 5. Juli 1994, GZ 2 Cgs 14/94a-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab 1.7.1993 Pflegegeld der Stufe 1, also monatlich S 2.500,-- unter Berücksichtigung der seither erfolgten Anpassungen zu zahlen und die mit S 4.834,56 bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz (darin enthalten S 805,76 Ust) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Das Mehrbegehren auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes "im gesetzlichen Ausmaß" wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens hat der Kläger selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 12. 4. 1942 geborene Kläger, der zuletzt eine Gemischtwarenhandlung betrieb, bezieht seit 1.7.1993 von der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft eine Erwerbsunfähigkeitspension. Sein Antrag vom 5.8.1993 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes nach dem BPGG wurde mit Bescheid der Beklagten vom 10.1.1994 abgelehnt, weil die im Gesetz genannte Mindeststundenanzahl einer Pflege durch eine andere Person (mehr als 50 Stunden monatlich) nicht erreicht werde.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Klage mit dem Begehren, ihm das Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Er brachte dazu vor, daß sein Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich betrage, weil er an Morbus Little leide und Spastiker sei; er könne sich nicht alleine an- und auskleiden, nicht einmal einen Knopf zumachen und sei auch sonst schwer behindert. Er könne sich auch kleine Mahlzeiten nicht zubereiten und benötige beim Einnehmen von Mahlzeiten Betreuung, weil er die Nahrung nicht zerkleinern könne. Er leide an unkontrolliertem Stuhlabgang, habe dadurch vermehrte Wäsche, könne aber auch die kleine Wäsche nicht selbst waschen und benötige zur Körperreinigung, aber auch zur Reinigung der Wohnung Hilfe.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger das Pflegegeld "im gesetzlichen Ausmaß" ab 1.7.1993 zu gewähren und zwar in der Stufe 1 vom 1.7.1993 bis 31.12.1993 und in der Stufe 2 ab 1.1.1994. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Kläger kann die Mahlzeiten nicht selbst zubereiten und auch nicht selbst einnehmen: Er kann zwar vorgeschnittene Speisen mit dem Löffel einnehmen, kann aber weder ein Brot noch sonstige Lebensmittel schneiden. Mit einem Messer kann er gar nicht umgehen, mit einer Gabel mit Schwierigkeiten etwas aufspießen, mit dem Löffel kann er hingegen alles essen. Es muß ihm alles vorgeschnitten werden. Das Zubereiten von Mahlzeiten ist seit der Antragstellung auszuschließen, das Einnehmen der Mahlzeiten zumindest ab Jahresbeginn 1994. Im Hilfsbereich braucht der Kläger Hilfe beim Herbeischaffen von Nahrungsmitteln und Medikamenten, bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie bei der Pflege der Leib- und Bettwäsche.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, für die Hilfsverrichtungen sei ein fixer Zeitwert von insgesamt 30 Stunden monatlich anzunehmen. Die Zubereitung der Mahlzeiten erfordere einen Betreuungsaufwand von 30 Stunden monatlich. Daher habe der Kläger bis Jahresende 1993 Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1. Ab 1.1.1994 komme dazu, daß der Kläger auch Hilfe bei der Einnahme von Mahlzeiten benötige, was weitere 30 Stunden monatlich und insgesamt daher 90 Stunden ergebe. Ab 1.1.1994 habe der Kläger daher Anspruch auf Pfleggeld der Stufe 2.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, die sich nur gegen ein höheres Pflegegeld als ein solches der Stufe 1 wendete, nicht Folge. Die Einstufungsverordnung zum BPGG unterscheide in ihrem § 1 Abs 4 zwischen der Zubereitung und dem Einnehmen von Mahlzeiten. Solle der Tatbestand der Hilfe bei der Einnahme von Mahlzeiten nicht seines wesentlichen Inhaltes beraubt werden, so sei es erforderlich, darunter die Herstellung eines Zustandes zu verstehen, in welchem auch nichtbehinderte Personen die Nahrung üblicherweise zu sich nehmen. Der überwiegende Teil der Mahlzeiten enthalte größere Stücke, etwa Fleisch, oder Beilagen wie Kartoffeln, die ohne Zerkleinerung nicht gegessen werden könnten. Diese größeren Nahrungsbestandteile würden aber im Rahmen der Zubereitung üblicherweise in unzerkleinertem Zustand angerichtet serviert. Das mundgerechte Zerkleinern der Nahrung gehöre begrifflich zum Einnehmen der Mahlzeiten. Ansonsten wäre dieser Tatbestand auf das In-den-Mund-Führen und Schlucken der Nahrung reduziert. Die Unhaltbarkeit der Auffassung der Beklagten ergebe sich besonders daraus, daß es zahlreiche Nahrungsmittel, insbesondere Obst gebe, die zwar keiner Zubereitung bedürften, aber üblicherweise vor dem Essen mit dem Messer zerkleinert oder geschält werden würden. Ein Versicherter, der nicht in der Lage sei, seine Nahrung mundgerecht zu zerkleinern, bedürfe daher der Betreuung beim Einnehmen von Mahlzeiten; hiefür sehe die Verordnung einen Mindestwert von einer Stunde täglich vor. Das Erstgericht habe daher zu Recht einen weiteren Betreuungsaufwand von 30 Stunden monatlich für das Einnehmen von Mahlzeiten anerkannt.

Die Beklagte bekämpft dieses Urteil mit Revision insoweit, als dem Kläger ab 1.1.1994 ein höheres Pflegegeld als ein solches der Stufe 1 gewährt wurde. Sie beantragt die entsprechende Abänderung und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens bildet lediglich die Frage, ob der Kläger deshalb, weil er Speisen nicht zerkleinern kann, einen zusätzlichen Betreuungsaufwand für das Einnehmen von Mahlzeiten von einer Stunde täglich in Anschlag bringen kann (§ 1 Abs 4 EinstVO). Die Beklagte vertritt die Auffassung, das Vorschneiden und Zerkleinern von Speisen sei als ein Vorgang anzusehen, der der Speisenzubereitung zuzurechnen sei.

Diese Auffassung ist, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 27.9.1994, 10 Ob S 159/94 ausgesprochen hat, zutreffend. Nach § 1 Abs 4 der EinstVO werden einerseits für die Zubereitung von Mahlzeiten, andererseits für das Einnehmen von Mahlzeiten jeweils eine Stunde als zeitliche Mindestwerte festgelegt. Der Beklagten ist darin beizustimmen, daß das mundgerechte Vorbereiten von Speisen, also etwa das Anrichten einer vorgeschnittenen oder auch einer breiigen Nahrung, zur Zubereitung von Mahlzeiten zu zählen ist, während das Einnehmen der Mahlzeiten darin besteht, daß die Speisen vom Teller aufgenommen und zum Mund geführt werden (vergleichbar dem "Füttern" eines Kleinkindes). Die Richtigkeit dieser Überlegung ergibt sich vor allem auch daraus, daß der Verordnungsgeber für das Einnehmen von Mahlzeiten einen Mindestwert von täglich einer Stunde angenommen hat, während etwa das Vorschneiden von gekochtem oder gebratenem Fleisch nur ganz wenige Minuten in Anspruch nehmen kann. Der Senat hat daher die Auffassung vertreten, daß dann, wenn eine vorgeschnittene oder auch eine breiige Nahrung selbständig - wie hier mit dem Löffel - aufgenommen werden kann, kein gesonderter Pflegebedarf für das Einnehmen von Mahlzeiten besteht. Diese Auffassung wurde übrigens auch in ärztlichen Begutachtungsrichtlinien ("Konsensuspapier zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem BPGG") vertreten, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 26.5.1994 dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zur Kenntnisnahme und mit der Empfehlung übermittelt hat, dieses Arbeitspapier bei der ärztlichen Einstufung pflegebedürftiger Menschen anzuwenden. Unter dem Stichwort "Zubereitung von Mahlzeiten" wird dort ausgeführt, daß das Essen angemessen angerichtet sein müsse, also auch das Vorschneiden oder Passieren von Teilen der Mahlzeit oder der gesamten Mahlzeit unter diesem Punkt Berücksichtigung finden müßten. Unter dem Stichwort "Einnehmen von Mahlzeiten" heißt es, daß kein Pflegebedarf anzurechnen sei, wenn eine vorgeschnittene oder breiige Nahrung selbständig aufgenommen werden könne.

Der Senat hält an dieser Rechtsauffassung fest. Berücksichtigt man den relativ geringen Zeitaufwand, den etwa das Zerschneiden von Fleisch oder das Zerteilen von Kartoffeln erfordert, mit dem erheblichen Zeitaufwand des Fütterns eines bewegungsunfähigen Patienten, dann wird ersichtlich, daß die Ausführungen des Berufungsgerichtes nicht überzeugen können. Gerade das Füttern eines Menschen, also das Aufnehmen der Speisen vom Teller mit einer Gabel oder einem Löffel und das Führen zum Mund während der gesamten Dauer der Nahrungsaufnahme erfordert einen hohen Zeitaufwand, der vom Verordnungsgeber mit Recht ebenso hoch angesehen wird wie die eigentliche Zubereitung der Mahlzeiten. Daß bei dieser Auslegung der Tatbestand des Einnehmens von Mahlzeiten "seines wesentlichen Inhaltes beraubt" würde, ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes nicht ersichtlich. Der Kläger kann nach den Feststellungen mit dem Löffel, unter Umständen auch mit der Gabel alle Speisen selbst aufnehmen und zum Mund führen. Damit entfällt aber ein Betreuungsaufwand für das Einnehmen von Mahlzeiten.

Es soll nicht verkannt werden, daß es sich bei den in § 1 Abs 4 EinstV genannten Zeitwerten um Mindestwerte handelt; Abweichungen von diesen Zeitwerten sind nur (aber auch immer) dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet. Unmittelbare Hinweise, was als "erheblich" anzusehen ist, enthält freilich weder die EinstV noch das BPGG selbst. Dem Senat scheint die Auffassung zutreffend, daß von einer erheblichen Überschreitung des Betreuungsaufwandes grundsätzlich dann die Rede sein kann, wenn die Überschreitung um annähernd die Hälfte vorliegt (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 184 f). Es ist nun ohne Zweifel richtig, daß das Zerkleinern der Nahrung den zeitlichen Aufwand für die Zubereitung der Mahlzeiten grundsätzlich erhöht. Wie oben ausgeführt, ist dieser erhöhte Zeitaufwand nur mit wenigen Minuten anzusetzen, auf keinen Fall mit einer halben Stunde täglich. Der Pflegebedarf des Klägers bleibt auch unter diesem Aspekt hinter dem für die Stufe 2 erforderlichen Ausmaß erheblich zurück.

Der Revision der Beklagten war daher Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Im Rechtsmittelverfahren ist der Kläger hingegen zur Gänze unterlegen; Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit wurden nicht dargetan und sind auch nicht ersichtlich (§ 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG).

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