OGH 15Os19/95

OGH15Os19/959.3.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. März 1995 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch, Mag. Strieder, Dr. Mayrhofer und Dr. Rouschal als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Rohrböck als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Sündüz K* wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Hernals vom 10. April 1992, GZ 9 U 897/91‑6, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Zehetner, jedoch in Abwesenheit der Verurteilten Sündüz K*, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1995:0150OS00019.9500000.0309.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Hernals vom 10. April 1992, GZ 9 U 897/91‑6, verletzt das Gesetz in der Bestimmung des § 460 Abs 1 StPO.

Diese Strafverfügung und die darauf beruhenden Verfügungen des Bezirksgerichtes Hernals werden aufgehoben. Dem Bezirksgericht Hernals wird die Einleitung des ordentlichen Verfahrens (§ 462 Abs 1 StPO) aufgetragen.

 

 

Gründe:

 

 

Rechtliche Beurteilung

Die türkische Staatsangehörige Sündüz K* wurde mit der im Spruch angeführten Strafverfügung des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt, weil sie am 25. Juni 1991 in Wien durch "Verletzung der elterlichen Überwachungs‑ und Sorgfaltspflichten", weshalb ihr zehnjähriger (richtig: am 29. September 1982 geborener) Sohn Muhammet K* unbeaufsichtigt außer Haus gehen konnte, sodann auf der Fahrbahn der Thaliastraße gegen einen Personenkraftwagen lief, von diesem niedergestoßen und von dessen linkem Hinterrad überfahren wurde, wodurch Muhammet K* ein Schädelhintertrauma erlitt, ihren Sohn fahrlässig am Körper schwer verletzte.

Nachdem diese Strafverfügung vom Bezirksanwalt mit der Erklärung, daß kein Einspruch erhoben werde, zur Kenntnis genommen und der Beschuldigten zugestellt worden war, erwuchs sie am 6. Mai 1992 in Rechtskraft (78).

Diese Strafverfügung steht jedoch ‑ wie der Generalprokurator in seiner deswegen gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt ‑ in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1. Gemäß § 460 Abs 1 StPO kann der Richter eine (90 Tagessätze nicht übersteigende Geld‑)Strafe ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung festsetzen, wenn ein auf freiem Fuß befindlicher Beschuldigter von einer Behörde oder von einem Sicherheitsorgan auf Grund eigener dienstlicher Wahrnehmung oder eines Geständnisses angezeigt wird oder wenn die durchgeführten Erhebungen zur Beurteilung aller für die Entscheidung maßgebenden Umstände ausreichen.

Schon diesen formellen Erfordernissen wird die zitierte Strafverfügung nicht gerecht.

Die Prüfung der Frage, ob die durchgeführten Erhebungen zur Beurteilung aller für die Entscheidung maßgebenden Umstände ausreichen, unterliegt zwar grundsätzlich der freien Beweiswürdigung durch den Richter des Bezirksgerichtes; sie findet jedoch dort ihre Grenze, wo der ‑ das ganze Strafverfahren beherrschende ‑ Grundsatz des beiderseitigen Gehörs nicht in einer der Erforschung der materiellen Wahrheit dienlichen Weise gewahrt worden ist (Mayerhofer/Rieder StPO3 § 460 E 9).

Da die Verurteilte Sündüz K* vor Erlassung der Strafverfügung nach der Aktenlage weder von Polizeibeamten noch vom Gericht zur Sache gehört worden war, wurde der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt.

2. Jede Strafverfügung muß aber auch materiell‑rechtlich durch den Inhalt der Anzeige gedeckt sein; demnach müssen nach der Aktenlage sämtliche Tatbestandserfordernisse des dem Beschuldigten zur Last gelegten Vergehens verwirklicht sein. Wenn sich Umstände, die für die rechtliche Beurteilung einer Tat von entscheidender Bedeutung sind, nicht dem Gerichtsakt entnehmen lassen, darf das Gericht keine Strafverfügung erlassen; vielmehr ist es in solchen Fällen verpflichtet, eine Hauptverhandlung anzuordnen und den Sachverhalt durch Vernehmung des Beschuldigten und durch Aufnahme der nötigen Beweise zu klären (Mayerhofer/Rieder aaO E 12 bis 14).

Im konkreten Fall könnte der Beschuldigten als Mutter ihres unmündigen Kindes das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nur dann angelastet werden, wenn sie es fahrlässig unterlassen hätte, die Herbeiführung des Erfolges abzuwenden, obwohl sie zufolge einer sie im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten gewesen (Garantenpflicht) und die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleichzuhalten wäre (§ 2 StGB). Die Obsorgepflichten der Eltern ergeben sich in diesem Zusammenhang vornehmlich aus den §§ 137, 144, 146 ABGB, denen zufolge Vater und Mutter gleich verpflichtet sind, die Pflege ihres Kindes zu besorgen, welche vor allem die Wahrung des körperlichen Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht umfaßt.

Strafbare Fahrlässigkeit iS des § 6 StGB erfordert einen doppelten Sorgfaltsverstoß: erstens, daß der Täter einer objektiven, das heißt allgemein verbindlichen Sorgfaltspflicht zuwiderhandelt, und zweitens, daß dem Handelnden die Einhaltung dieser Sorgfaltspflicht nach seinen individuellen Verhältnissen auch subjektiv möglich und zumutbar ist (Burgstaller in WK Rz 23 zu § 6).

Den allgemeinen Maßstab dafür, ob die mit einem bestimmten Verhalten verbundene Gefahr einer Tatbildverwirklichung als sozialinadäquat und damit das betreffende Verhalten als objektiv sorgfaltswidrig einzustufen ist, bildet das gedachte Verhalten einer "Modellfigur", die als "Personifizierung der Rechtsordnung in der konkreten Situation" fungiert. Objektiv sorgfaltswidrig ist ein Verhalten dann, wenn es nicht dem entspricht, das ‑ bei identischer Tatsituation ‑ "ein mit den rechtlich geschützten Werten angemessen verbundener, besonnener und einsichtiger Mensch" gesetzt hätte (Burgstaller aaO Rz 38). Die Ermittlung des maßgebenden Verhaltens der Leitfigur im Einzelfall setzt aber stets die komplexe Zusammenschau einer Vielzahl von Faktoren voraus. Die wichtigsten dabei sind der Gefährlichkeitsgrad des zu beurteilenden Verhaltens, der Wert des allenfalls betroffenen Gutes, der Umfang seiner drohenden Beeinträchtigung sowie sozialer Wert und soziale Üblichkeit des Verhaltens (Burgstaller aaO Rz 50).

Zur verläßlichen Beurteilung eines etwaigen objektiv und subjektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens der Sündüz K* im Sinne der vorgenannten Kriterien wäre daher zunächst zu klären gewesen, ob das Kind die Wohnung mit oder ohne Wissen seiner Mutter verlassen hat und ‑ vor allem ‑ ob es bereits reif genug war, sich alleine im Straßenverkehr zu bewegen, zumal es als fast neunjähriges Schulkind bei entsprechender Entwicklung in Verbindung mit elterlicher und schulischer Erziehung gemeiniglich bereits in der Lage gewesen sein müßte, die wichtigsten Verhaltensregeln im Straßenverkehr zu beherrschen und auch zu befolgen. Für den Fall aber, daß das Kind damals die Wohnung ohne Wissen der Mutter verlassen haben sollte, wäre zur sicheren Beurteilung eines Fahrlässigkeitsvorwurfes auch zu klären, ob und inwieweit durch eine allfällige Abwesenheit der Mutter oder eine mangelnde Aufsicht ein ihr zurechenbarer objektiver und subjektiver Sorgfaltsverstoß vorlag.

Erst nach Feststellung all dieser für die Abklärung der Schuldfrage wesentlichen Sachverhaltsvoraussetzungen kann abschließend beurteilt werden, ob eine gedachte Maßfigur in der konkreten Situation so wie die Beschuldigte ein anderes Maß an Sorgfalt aufgewendet hätte.

Da somit insbesondere die subjektiven Tatbestandserfordernisse der angezeigten Straftat aus dem Akteninhalt nicht beantwortet werden können, lagen auch aus diesem Grunde die Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Mandatsverfahrens (§§ 460 ff StPO) nicht vor.

Demnach war spruchgemäß zu erkennen.

 

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte