OGH 2Ob49/93

OGH2Ob49/939.2.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef G*****, vertreten durch Dr.Robert Eder, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagten Parteien 1. Josef W*****, 2. Helmut W*****, 3. E***** Versicherungs-AG, ***** alle vertreten durch Dr.Reinhold Glaser, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen S 60.148,39 sA, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Berufungsgerichtes vom 19.April 1993, GZ 21 R 97/93-15, womit infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Salzburg vom 15.Jänner 1993, GZ 10 C 1544/92-8, teils bestätigt, teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 5.001,12 (darin S 833,52 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29.November 1991 ereignete sich auf der Schwarzstraße in der Stadt Salzburg ein Verkehrsunfall zwischen dem vom Kläger gelenkten und gehaltenen PKW Mercedes mit dem Kennzeichen STA-CC 845 und dem vom Erstbeklagten gelenkten, vom Zweitbeklagten gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Nissan mit dem Kennzeichen S-TX 26. Der Erstbeklagte fuhr auf der Schwarzstraße Richtung stadteinwärts, der Kläger kam von der Raiffeisen-Parkgarage und beabsichtigte, nach links auf die Schwarzstraße Richtung stadtauswärts abzubiegen. Es war hell, die Fahrbahn war trocken. Die Schwarzstraße ist im Kreuzungsbereich rund 15 m breit. Sie hat vier Fahrstreifen, zwei dienen dem stadteinwärts führenden Verkehr, zwei dem stadtauswärts führenden Verkehr, beide Fahrtrichtungen sind durch eine Sperrlinie getrennt. Innerhalb der jeweiligen Fahrtrichtung sind die jeweils beiden Fahrstreifen durch eine Leitlinie getrennt. Im Bereich der Kreuzung ist für die - wie der Kläger kommenden - Linksabbieger ein Überfahren der Sperrlinie gemäß § 9 Abs.1 StVO deswegen erlaubt, weil dort neben der Sperrlinie eine 5,8 m lange Leitlinie angebracht ist. Die an sich durchgehende Sperrlinie (auf der Schwarzstraße) ist auch sonst noch mehrfach auf kurzen Strecken unterbrochen, um ein Abbiegen (zu Hauszufahrten) zu ermöglichen. Der linke der beiden stadtauswärts führenden Fahrstreifen ist im Kreuzungsbereich mit Linksabbiegepfeilen markiert.

Als sich der Kläger der Kreuzung näherte, bewegten sich auf den beiden stadteinwärts führenden Fahrstreifen der Schwarzstraße Fahrzeugkolonnen, sodaß er anhielt. Als in der Folge auf beiden Fahrstreifen die PKW anhielten, um dem Kläger das Linksabbiegen auf die Schwarzstraße zu ermöglichen, bog der Kläger nach links ab, wobei er besonders darauf achtete, daß von rechts (Richtung stadtauswärts) auf der Schwarzstraße kein Verkehr kam. Die Sicht nach links war durch die aneinandergereihten stehenden Fahrzeuge eingeschränkt. Der Kläger fuhr auf den linken der beiden stadtauswärts führenden Fahrstreifen der Schwarzstraße ein, doch kam ihm dort der Erstbeklagte, der einen Fahrgast im Taxi beförderte, entgegen, nachdem er aus der stadteinwärts stehenden Kolonne ausgeschert, über die Sperrlinie gefahren und sodann links neben den Fahrzeugkolonnen Richtung stadteinwärts gefahren war, um etwa 150 m nach der Unfallskreuzung nach links abzubiegen. Als der Erstbeklagte das Fahrzeug des Klägers sah, leitete er eine Vollbremsung ein, von der sich bis zum Zusammenstoß eine Bremsspur von rund 5 bis 6 m abzeichnete. Im Kollisionspunkt war das Fahrzeug des Klägers etwa 2 m auf den linken der beiden stadtauswärts führenden Fahrstreifen eingefahren gewesen. Am Fahrzeug des Klägers entstand ein Schaden in Höhe des Klagsbetrages.

Der Käger begehrt den der Höhe nach unstrittigen Sachschaden mit der Behauptung, der Erstbeklagte habe die zum Stillstand gekommene Kolonne unter Überfahren einer Sperrlinie unzulässigerweise "überholt".

Die beklagten Parteien wandten das überwiegende Verschulden des Klägers am vorliegenden Verkehrsunfall in Höhe von 3 : 1 ein und beantragten unter Kompensation mit einer Gegenforderung die Klagsabweisung.

Das Erstgericht ging bei seinem Urteil vom gleichteiligen Verschulden beider Fahrzeuglenker aus. Es warf dem Kläger eine Vorrangverletzung vor, weil er sich nicht in die Kreuzung hineingetastet habe, sondern in einem Zug nach links abgebogen sei, dem Erstbeklagten lastete es einen als gleichwertig angesehenen Verstoß gegen § 9 StVO an.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem Klagebegehren zur Gänze statt und erklärte die Revision für zulässig. Es vertrat folgende Rechtsansicht:

Der Grundsatz, daß sich der Vorrang auf die gesamte Fahrbahn der bevorrangten Straße bezieht, gelte nicht ausnahmslos, da auf ein verkehrswidriges Verhalten, mit dem nach dem Gesamtzusammenhang keinesfalls gerechnet werden müsse, auch ein benachrangter Verkehrsteilnehmer nicht Rücksicht nehmen müsse. Dieser Ausnahme von der Grundregel entspreche auch die Rechtsprechung, wonach der in einer Einbahnstraße entgegen der zulässigen Fahrtrichtung fahrende Verkehrsteilnehmer für sich den Vorrang nicht in Anspruch nehmen könne. Da für Sperrlinien ein absolutes Verbot des Überfahrens gelte, müsse - wie bei der vorgeschriebenen Fahrtrichtung in einer Einbahnstraße - derjenige, der die Sperrlinie überfahre, ebenfalls damit rechnen, daß die Lenker anderer Fahrzeuge darauf vertrauen, daß die durch die Sperrlinie gezogenen Grenzen beachtet werden. Ein solcher Lenker könne daher, insbesondere wenn er aus einer Kolonne ausschere und diese trotz der Sperrlinie überhole oder an ihr vorbeifahre, den Vorrang nicht beanspruchen. Daher könne auch ungeprüft bleiben, ob der Kläger - im Sinne seiner Beweisrüge - während des Linksabbiegemanövers auf der stadteinwärts führenden Fahrbahnhälfte zwischendurch angehalten habe oder im Sinne der von ihm bekämpften erstrichterlichen Feststellungen in einem Zug eingebogen sei. Soweit die beklagten Parteien meinten, der Erstbeklagte sei zulässigerweise aus der Kolonne ausgeschert, weil an einzelnen Stellen die Sperrlinie unterbrochen gewesen sei, sei er darauf zu verweisen, daß diese Unterbrechungen zum Abbiegen in Grundstückszufahrten dienten.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Urteil der zweiten Instanz erhobene Revision der beklagten Parteien ist nicht berechtigt.

Die zentrale Frage dieses Verfahrens, ob der Erstbeklagte, der für den - seiner Wartepflicht gegenüber den auf den beiden stadteinwärts führenden Fahrstreifen befindlichen und wegen Kolonnenbildung angehaltenen Fahrzeugen entsprechenden - Kläger nicht sichtbar jenseits der Sperrlinie auf dem stadtauswärts führenden linken Fahrstreifen stadteinwärts fuhr, gegenüber dem in einem Zug (jedoch - aus der Unfallsendstellung zu schließen - in langsamer Fahrt) Richtung stadtauswärts in die Schwarzstraße abbiegenden Kläger im Vorrang war, ist im Sinne der berufungsgerichtlichen Entscheidung zu verneinen.

Der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, daß sich der Vorrang auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße bezieht und auch dann nicht verlorengeht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält (ZVR 1990/155 mwN, uva, zuletzt 2 Ob 47/94), hat seine Richtigkeit in dem Fall, daß der bevorrangte Verkehr vom wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen oder schuldhaft nicht wahrgenommen wird sowie daß mit einem Verkehr auf der bevorrangten Straße gerechnet werden muß. Er verliert jedoch dann seine Wirkung, wenn der auf der bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer vom Wartepflichtigen nicht oder nicht aus dieser Annäherungsrichtung erwartet werden kann, also mit einer derartigen Fahrweise nicht gerechnet werden konnte und mußte. In der Rechtsprechung wurde der "Verlust des Vorranges" eines gegen die Fahrtrichtung einer Einbahnstraße fahrenden Verkehrsteilnehmers (ZVR 1979/34; 1974/130; auch 1974/83) und eines aus einer Verkehrsfläche mit allgemeinem Fahrverbot herausfahrenden Fahrzeuges (ZVR 1975/24) damit begründet, daß ein gegen derart gravierende Verbote verstoßender Fahrzeuglenker für sich keinen Vorrang beanspruchen könne.

Eine der für die Bewältigung des Fahrzeugverkehrs - vor allem in Großstädten - wichtigsten Vorschriften stellt das im § 9 Abs.1 StVO statuierte Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie dar, die - wie hier - regelmäßig in Fahrbahnmitte angebracht ist und dem Schutz aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie fahrenden Verkehrsteilnehmer dient (ZVR 1984/6 ua). Dies trifft aber auch auf die Verkehrsteilnehmer (wie hier den Kläger) zu, die aufgrund ihrer Wartepflicht gegenüber dem auf allen vier Fahrstreifen der bevorrangten (Schwarz-)Straße fließenden Verkehr vor der bevorrangten Straße anhalten und dann ein Linksabbiegemanöver (zunächst) über die beiden nähergelegenen, mit nach rechts stadteinwärts fahrenden Verkehr versehenen Fahrstreifen in die nach links (stadtauswärts) führenden Fahrstreifen durchführen: Kommt nämlich - wie im vorliegenden Fall - der nähergelegene, stadteinwärts fließende Verkehr ins Stocken und halten auf diesen beiden Fahrstreifen die Fahrzeuglenker in Entsprechung ihrer Verpflichtung gemäß § 18 Abs.3 StVO an, dann kann und muß sich der nach links Einbiegende darauf verlassen, daß von links und damit jenseits der sichtbar angebrachten Sperrlinie - kein Fahrzeug kommt, und bei seinem Linksabbiegemanöver grundsätzlich nur mehr auf den von rechts auf den beiden nach links (stadtauswärts) führenden Fahrstreifen kommenden Verkehr achten. Der Erstbeklagte, der in gröbster Mißachtung der Sperrlinie auf der - noch dazu mit entgegen seiner Fahrtrichtung weisenden Linksabbiegepfeilen gekennzeichneten - für seinen Gegenverkehr bestimmten Fahrbahn auf die Unfallskreuzung zufuhr, kann sich daher im vorliegenden Fall nicht auf einen Vorrang gegenüber dem Kläger berufen; ihn trifft somit das Alleinverschulden am vorliegenden Unfall.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich im Sachverhalt von dem vom erkennenden Senat zu 2 Ob 47/94 entschiedenen Fall dadurch, daß dort einer PKW-Lenkerin, die im Freiland von einer benachrangten Straße nach rechts auf die mit einer Sperrlinie versehene bevorrangte Straße einfuhr, ohne sich durch einen zumutbaren zweiten Blick über einen Verkehrsspiegel über die Annäherung eines von rechts jenseits der Sperrlinie (auf ihrer Fahrbahnhälfte) herankommenden PKWs zu vergewissern, eine Vorrangverletzung und ein Mitverschulden von 1/4 angelastet wurde, zumal dort ausgesprochen wurde, daß sie nicht unter allen Umständen damit rechnen konnte, daß die linke Fahrbahnhälfte der bevorrangten Straße frei ist.

Die Revision der beklagten Parteien bleibt daher ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.

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