OGH 15Os169/94

OGH15Os169/9412.1.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 12.Jänner 1995 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Strieder und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Köttner als Schriftführerin, in der beim Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 26 a Vr 10967/94 anhängigen Strafsache gegen Peter P***** wegen der Verbrechen nach §§ 3 a Z 2, 3 b und 3 g VG und anderer strafbarer Handlungen über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 21.Oktober 1994, AZ 22 Bs 463-465/94 (= ON 43 des Vr-Aktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Durch den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 21.Oktober 1994, AZ 22 Bs 463-465/94, wurde Peter P***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Dieser Beschluß wird aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 8.000 S, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, aufgetragen.

Text

Gründe:

Am 5.April 1993 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien ua die Einleitung der Voruntersuchung gegen den am 5.Juni 1971 geborenen Starkstrommonteur Peter P***** wegen "§ 3 lit b VG, in eventu § 3 lit g VG sowie wegen §§ 15, 269 Abs 1 StGB", weil er im Verdacht stand, am 7.Februar 1992 als Mitglied - offenbar in der Rolle eines Kameradschaftsführers einer in Wien eingerichteten Kameradschaft - der Volktreuen Außerparlamentarischen Opposition (VAPO) an einer Veranstaltung der VAPO teilgenommen, Mietkosten für ein VAPO-Lokal mitfinanziert und Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet zu haben (3 c iVm 3 q/I des Antrags- und Verfügungsbogens). Am 19.April 1993 beschloß der Untersuchungsrichter die Einleitung der Voruntersuchung "wegen §§ 3 lit b, 3 lit g VG" (3 g/I) und machte am 16. November 1993 dem Beschuldigten den "Beschluß auf Einleitung der VU wegen §§ 3 b, g VG, 15, 269 StGB" kund (214/I). Im Verlauf der daran anschließenden Vernehmung gab Peter P***** die gegen ihn erhobenen Vorwürfe - obgleich teilweise verharmlosend - zu (214 ff/I).

Noch bevor der Untersuchungsrichter den weiteren Antrag des Staatsanwaltes vom 8.September 1994 auf Ausscheidung des Verfahrens gegen Peter P***** und andere Beschuldigte gemäß § 57 StPO, Aktenneubildung und Aktenübermittlung "unter Schließung der Voruntersuchung" (3 iii/I) entsprochen hatte, verhängte die Vorsitzende des Geschworenengerichtes in der Strafsache gegen Gottfried K***** wegen § 3 VG in der Hauptverhandlung vom 27. September 1994 "gemäß §§ 277, 175 Abs 1 Z 1, 3 StPO" über den zuvor als Zeugen vernommenen Peter P***** die "Verwahrungshaft, nachdem ein abgesondertes Protokoll angefertigt wird" und ließ ihn (in die Justizanstalt) abführen (87/II). Noch am selben Tag machte ihm der Journalrichter (antragsgemäß) den Beschluß auf Einleitung (gemeint: Ausdehnung) der Voruntersuchung wegen § 3 g VG (§§ 288 Abs 1 und [richtig] 299 Abs 1 StGB) kund (220/I) und bezog dieses Verfahren in das beim Landesgericht für Strafsachen Wien zu 26 a Vr 1552/92 anhängige Verfahren gemäß § 56 StPO ein (3qqq/I). Dieses (neu hervorgekommene) Verbrechen stützte der öffentliche Ankläger auf den Verdacht, Peter P***** und andere namentlich genannte Zeugen hätten "aus nationalsozialistischer Motivation und unter Begünstigung des Angeklagten Gottfried K***** falsche Beweisaussagen abgelegt" (3 mmm/I). Am Ende der tags darauf vom Untersuchungsrichter durchgeführten Vernehmung des Beschuldigten, bei welcher dieser ein ausführliches Geständnis ablegte (321 ff/I), wurde ihm der Beschluß auf Verhängung der Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO (mit Wirksamkeit bis längstens 11.Oktober 1994) eröffnet (225/I iVm ON 24).

Gegen die Verhängung der Untersuchungshaft erhob der Beschuldigte durch seinen Verteidiger Haftbeschwerde, die er mit einem Enthaftungsantrag verband (ON 33). Darin führte er gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr im wesentlichen ins Treffen, der Beschuldigte habe bereits im Frühjahr 1992 seine rechtsextremen Ansichten abgelegt, seither eine Wandlung seiner Einstellung und einen persönlichen Reifeprozeß durchgemacht; die Falschaussage sei keinesfalls als Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinn zu verstehen und stelle keinen Verstoß gegen das Verbotsgesetz dar; Hitler werde von ihm auch nicht mehr geschätzt, vielmehr sei er (nunmehr) von den Werten der Demokratie überzeugt und habe Hitler als Diktator und Verbrecher erkannt, weshalb ein vom Untersuchungsrichter - im gegenteiligen Sinn - protokollierter Passus lediglich auf ein Mißverständnis zurückzuführen sei.

In der Haftverhandlung vom 10.Oktober 1994 beantragte der Staatsanwalt die "Einleitung [abermals gemeint: Ausdehnung] der VU gegen Peter P***** auch wegen § 3 a Z 2 Verbotsgesetz hinsichtlich seiner führenden Betätigung als Kameradschaftsführer Wien-West und die Verhängung der U-Haft gemäß § 180/7 StPO wobei keiner der gesetzlichen Haftgründe ausgeschlossen werden kann" (129/II). Ungeachtet dessen, daß der Verteidiger das Vorbringen des Enthaftungsantrages in der Haftverhandlung wiederholte und hervorhob, daß sich der Beschuldigte jetzt im klaren darüber sei, daß seine Täterschaft im rechtsextremen Freundeskreis ein "Unsinn" gewesen und er lediglich dem "politischen rechtsextremen Sektenführer K***** auf den Leim gegangen" sei, er es nunmehr zutiefst bedauere, daß er sich in diese Runde habe hineinziehen lassen, ferner durch die Verhaftung K*****s die Runde von Gesinnungsfreunden zerschlagen worden sei und seither kein neuer Sachverhalt gegen den Beschuldigten vorliege, lehnte der Untersuchungsrichter die unter einem beantragte Vernehmung des - ohnedies anwesenden - Peter P***** zum Beweis seiner (vom Untersuchungsrichter als Schutzbehauptung gewerteten) gewandelten Einstellung ab und beschloß - antragsgemäß - die Ausdehnung der Voruntersuchung gegen den Beschuldigten wegen § 3 a Z 2 VG sowie die Fortsetzung der Untersuchungshaft - mit Wirkung bis längstens 10. November 1994 - gemäß § 180 Abs 7 StPO, weil "auch die Gefahr weiterer Betätigung im nationalsozialistischen Sinn auf freiem Fuß besteht" (ON 35 und 36).

In seiner dagegen ergriffenen Beschwerde, in der Peter P***** sowohl die Verhängung der Untersuchungshaft (am 28.September 1994) als auch die Ausdehnung der Voruntersuchung auf § 3 a Z 2 VG und die Fortsetzung der Untersuchungshaft bekämpfte (ON 40), gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluß vom 21.Oktober 1994, AZ 22 Bs 463-465/94 (= ON 43 des Vr-Aktes), nicht Folge und sprach aus, daß der Beschluß auf Verhängung der Untersuchungshaft dem Gesetz entspricht, die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO fortzusetzen ist und die Haftfrist gemäß § 181 Abs 2 Z 3 StPO am 21. Dezember 1994 endet.

Rechtliche Beurteilung

Durch diese Beschwerdeentscheidung des Gerichtshofes zweiter Instanz erachtet sich Peter P*****, der - nach einer vom Obersten Gerichtshof beim Erstgericht eingeholten Information vom 18.November 1994 - am 17. November 1994 (vom Untersuchungsrichter) enthaftet worden ist, in seiner (fristgerecht erhobenen) Grundrechtsbeschwerde (ON 49) im Grundrecht auf persönliche Freiheit in zweifacher Hinsicht verletzt, und zwar

1. "weil der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr weder beim Beschluß über die Verhängung der Untersuchungshaft am 28.9.1994, noch beim Beschluß auf Fortsetzung der Untersuchungshaft vom 10.10.1994 noch beim angeführten Beschluß des OLG Wien vom 21.10.1994 vorgelegen ist", und

2. "daß der Beschuldigte nicht ausdrücklich zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft vernommen wurde und insbesondere trotz Antrag des Beschuldigten auf seine Vernehmung in seinem Enthaftungsantrag vom 7.10.1994 ON 33 und weiters in der Haftverhandlung vom 10.10.1994, die beantragte Vernehmung des Beschuldigten zum Fehlen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, insbesondere über den bei ihm im Frühjahr 1992 eingetretenen Gesinnungswandel und die dargelegten Mißverständnisse bei der Protokollierung seiner Vernehmung vom 28.9.1994 unterblieb".

Die Beschwerde ist - soweit sie sich gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO wendet - begründet.

Die Verhängung und/oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aus dem zitierten Haftgrund setzt - neben anderen Erfordernissen, insbesondere dem (in der Grundrechtsbeschwerde nicht bestrittenen) Tatverdacht - voraus, daß auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde auf freiem Fuß ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens (abermals) eine gegen dasselbe Rechtsgut wie die ihm angelastete strafbare Handlung gerichtete Straftat mit schweren (lit a) oder mit nicht bloß leichten (lit b) Folgen begehen, wenn er (im Fall der lit b) entweder wegen einer solchen strafbaren Handlung bereits verurteilt worden ist oder wenn ihm nunmehr wiederholte oder fortgesetzte Handlungen angelastet werden.

Eine solche Gefahr bestand jedoch bei Peter P***** weder bei Verhängung noch bei Fortsetzung der Untersuchungshaft, zumal Anhaltspunkte für das Vorliegen der - vom Gesetz geforderten - bestimmten Tatsachen, die befürchten lassen, er könnte trotz des laufenden Strafverfahrens in Freiheit neuerlich vergleichbare Taten mit schweren oder mit nicht bloß leichten Folgen begehen, weder der bekämpften Beschwerdeentscheidung noch der Aktenlage zu entnehmen sind.

Auszugehen ist nämlich von der Tatsache, daß schon nach Ansicht des Oberlandesgerichtes die vom Beschwerdeführer eingestandene (hier zur Verhängung der Untersuchungshaft führende) Falschaussage und die Begünstigung keinen Bezug zu § 3 VG herzustellen, somit auch keine Tatbegehungsgefahr zu begründen vermögen und demnach Peter P***** - in Ansehung der Haftfrage - bloß dringend verdächtig ist, bis zum Frühjahr 1992 Tathandlungen begangen zu haben, die als Verbrechen nach § 3 lit b bzw 3 lit g VG inkriminiert werden. Für einen Verdacht - noch viel weniger einen dringenden -, daß er auch nach dieser Zeit in diesem Sinne tätig geworden wäre, bietet die vorliegende Aktenlage kein Substrat.

Der bloße (allgemeine) Hinweis in der Beschwerdeentscheidung, es sei als bekannt vorauszusetzen, daß die einmal in der Neonaziszene integrierten Personen in der Regel ihrer Einstellung nicht abschwören und ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und das Ziel hätten, "neue Kameradschaften aus dem Boden zu stampfen", was aus einer transkribierten Rede Gottfried K*****s hervorgehe, ist bei der aktuellen Fallgestaltung weder für sich allein noch im Zusammenhang mit der vom Beschwerdeführer dem Untersuchungsrichter gegenüber gemachten (sinngemäßen) Äußerung, Hitler werde von ihm geschätzt, er sei einer der führenden Revolutionäre gewesen, die leider gescheitert sind (224 unten/I), geeignet, "die Gefahr einer weiteren Teilnahme des Peter P***** an der VAPO und deren weiterer finanziellen Unterstützung durch den Beschuldigten", mithin den herangezogenen Haftgrund der Tatbegehungsgefahr, zu begründen, zumal in einer Äußerung K*****s nicht eo ipso ein Indiz für eine mögliche künftige Wiederbetätigung des Beschwerdeführers im nationalsozialistischen Sinn erblickt werden kann. Dies umsoweniger, als sich der Beschuldigte - wie schon gesagt - unwiderlegt seit Frühjahr 1992 im nationalsozialistischen Sinn nicht mehr betätigt hat, seine Meinung über Hitler in verschiedenen Eingaben seines Verteidigers (zumindest nach außen hin) entscheidend revidiert hat und auch nach Ansicht des Beschwerdegerichtes der - wohl schwerwiegenste - Verdacht "einer auch de facto führenden Betätigung in einer Verbindung nationalsozialistischer Gesinnungsart (§ 3 a Z 2 VG)" durch die Erhebungsergebnisse bisher nicht erhärtet wurde.

Hinzu kommt, daß auch die in der Beschwerdeentscheidung zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht des Gerichtshofes zweiter Instanz verfehlt ist, derzufolge - was der Beschwerdeführer zutreffend rügt - "Taten im Sinne (nicht nur des § 3 b VG, sondern auch) des § 3 g VG wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit in den Augen der sensibilisierten Bevölkerung als strafbare Handlungen mit schweren Folgen [im Sinne der lit a des § 180 Abs 2 Z 3 StPO] anzusehen sind".

Nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 9.Juli 1992, GZ 12 Os 29/92-7 (= NRsp 1992/252, 253), ist nämlich die Frage, was unter einer strafbaren Handlung mit schweren Folgen im Sinne des § 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO zu verstehen ist, auch bei den (hier inkriminierten) Tatbeständen nach § 3 b in eventu § 3 g VG nicht am abstrakten Gewicht des im Tatbestand der betreffenden Strafnorm vertypten Erfolges oder der aus ihr abstrakt denkbaren Konsequenzen zu beurteilen, sondern in Beachtung aller nach den konkreten Umständen eines Einzelfalles drohenden Auswirkungen einer aktuell zu befürchtenden Tat (EBRV 1971, 105), also stets auf der Grundlage der konkreten Fallkonstellation. Dabei kann eine Betrachtung mit "den Augen der sensibilisierten Bevölkerung" kein Kriterium für die Verhängung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sein. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß bereits § 3 des - nunmehr durch das PersFrG 1988 ersetzte - Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, RGBl 1862/87, dem "großen öffentlichen Ärgernis" als Grund für eine Untersuchungshaft eine Absage erteilt hat.

Von den dargestellten rechtlichen Erwägungen ausgehend hat es das Beschwerdegericht auch verabsäumt zu prüfen, inwiefern durch die dem Beschwerdeführer angelasteten Tätigkeiten schwere oder (unter den weiteren Voraussetzungen des § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO) nicht bloß leichte Folgen für das durch die §§ 3 b und 3 g VG geschützte Rechtsgut (kurz: den Schutz des Rechtsstaates) konkret entstehen könnten.

Sonach wurde Peter P***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt (§ 2 Abs 1 GRBG), weil der herangezogene Haftgrund von den Untergerichten unrichtig beurteilt wurde, weshalb das Oberlandesgericht die Enthaftung des Beschwerdeführers hätte verfügen müssen.

Auf das weitere Vorbringen der Beschwerdeschrift mußte demnach gar nicht mehr eingangen werden.

Der der Rechtsanschauung des Obersten Gerichtshofes entsprechende Rechtszustand wurde im vorliegenden Fall bereits durch die vom Untersuchungsrichter angeordnete Enthaftung des Peter P***** am 17. November 1994 hergestellt (§ 7 Abs 2 GRBG).

Die Kostenentscheidung gründet sich dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf die Verordnung des Bundesministers für Justiz, BGBl 35/93.

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