OGH 2Ob75/94

OGH2Ob75/9410.11.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach dem am 21. Dezember 1992 verstorbenen Dr.***** A*****, vertreten durch Dr.Hans Gradischnig, Rechtsanwalt in Villach, wider die beklagte Partei Alois I*****, vertreten durch Dr.Josef Pollan, Rechtsanwalt in Villach, wegen 80.000 S sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 31.März 1994, GZ 3 R 207/93-22, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 23.August 1993, GZ 24 Cg 290/92-12, zum Teil abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben; das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Am 20.5.1992 ereignete sich in V***** auf einem unbenannten Waldweg ein Unfall zwischen dem den Waldweg als Fußgänger benützenden Dr.***** A***** und dem Beklagten, der den Waldweg mit seinem Mountainbike befuhr. Dr.A***** wurde dabei schwer verletzt, er ist während des Verfahrens verstorben.

Gestützt auf das Alleinverschulden des Beklagten begehrt die klagende Partei Schmerzengeld von 80.000 S. Der Beklagte habe den als Wanderweg gekennzeichneten Waldweg vorschriftswidrig mit dem Rad benutzt und eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten; auch der Sicherheitsabstand sei zu gering gewesen.

Der Beklagte wendete ein, den Fußgänger habe das Alleinverschulden am Unfall getroffen. Während er (der Beklagte) mit geringer Geschwindigkeit rechts gefahren sei und Sichtkontakt zum Fußgänger bestanden habe, habe dieser ohne Grund einen Schritt nach links in seine Fahrlinie gemacht; dies sei zu einem Zeitpunkt geschehen, als eine kollisionsverhindernde Reaktion nicht mehr möglich gewesen sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren hinsichtlich eines Betrages von S 40.000 statt, das darüber hinausgehende Begehren wurde abgewiesen.

Dabei ging das Erstgericht im wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:

Die Unfallstelle befindet sich nord-westlich des Auffangbeckens des M*****baches in *****V***** auf einem unbenannten Waldweg, der von J***** in Richtung Westen führt. Der Weg verläuft im Bereich der Unfallstelle - in Fahrtrichtung des Beklagten gesehen - im wesentlichen in West-Ost-Richtung. Der unbefestigte Weg weist eine begeh- bzw mit einem Fahrrad befahrbare Breite von 2 bis 2,5 m auf. Als Fixpunkt wurde ein Punkt ca 200 m westlich des M*****baches gewählt.

Bei Annäherung an die Unfallstelle aus Osten fällt der Waldweg vorerst mit einem Gefälle von bis zu 10 % ab und verflacht dann ca 40 m westlich des Fixpunktes. Von dieser Position bis ca 20 m westlich des Fixpunktes bildet der Waldweg eine Senke und steigt dann mit ca 4 bis 5 % wieder an und bildet ca 13 bis 14 m östlich des Fixpunktes eine Kuppe. Im Bereich des Gefälles steigt nördlich eine zum Teil felsige Böschung an, die sich im Bereich der beschriebenen Senke und der darauffolgenden Kuppe verflacht.

Die Unfallstelle kann über den Zugang zum M*****bach von der J*****-Straße erreicht werden. Diese Straße ist mit einem Fahrverbot belegt, welches bei der Abzweigung von der J*****-Straße kundgemacht ist. Der Waldweg, auf dem sich der Unfall ereignete, mündet ca 40 m westlich des Fixpunktes in die am M*****bach vorbeiführende Straße ein. In weiterer Verlängerung des Waldweges gelangt man nach etwa 300 m wiederum auf die J*****-Straße. Der Wanderweg ist im dortigen Bereich abgeschrankt, er weist eine Markierung als Wanderweg auf.

Der Beklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h äußerst rechts. Ca 40 m vor der Unfallstelle (13 m östlich der Bezugslinie) nahm er den Fußgänger das erste Mal wahr. Dieser ging zu diesem Zeitpunkt in der Mitte des Waldweges. Das bedeutet, daß zwischen der linken Schulter des Dr.A***** und dem für den Beklagten rechten Fahrbahnrand ein Abstand von 0,7 m war. Der Seitenabstand zwischen der linken Schulter des Dr.A***** und der linken Schulter des Beklagten betrug ca 0,4 m. Als der Beklagte etwa 3 m vor Dr.A***** war, machte dieser einen Ausfallsschritt nach links. Der Zeitaufwand für einen derartigen Schritt, der eine Seitenversetzung von 0,5 bis 0,6 m zur Folge hatte, liegt unter einer Sekunde; zum Erfassen dieser Situation wäre aber ein Zeitaufwand von mindestens 0,5 Sekunden erforderlich gewesen und bis zum Wirksamwerden einer Rettungshandlung noch weitere 0,8 Sekunden. Der Beklagte hätte daher selbst bei optimaler Reaktion keine Lenkbewegung mehr durchführen können, bevor es zum Kontakt mit Dr.A***** kam.

Bei Befahren eines unbefestigten Waldweges ist mit nicht einwandfrei erkennbaren Bodenunebenheiten, die die Fahrlinie wesentlich beeinträchtigen können, zu rechnen. Darauf ist beim Vorbeifahren an einem Fußgänger Rücksicht zu nehmen, weshalb der Mindestseitenabstand mit 0,5 m angesetzt werden muß. Dieser Abstand bezieht sich auf die Außenkante des Fahrrades, also den rechten Lenkergriff. Auch Fußgänger halten nicht immer eine genaue geradlinige Gehlinie ein, insbesonders weisen ältere Menschen eine größere Schwankungsbreite auf, welche mit zunehmendem Alter bis zu 0,5 m betragen kann.

Dr.A***** erlitt durch den Unfall eine Milzruptur, welche sieben Tage schwere, vierzehn Tage mittelschwere und vierzehn Tage leichte Schmerzen zur Folge hatte.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, es seien die Regeln der StVO anzuwenden, weil der gegenständliche Wanderweg als Straße mit öffentlichem Verkehr im Sinne des § 1 Abs 1 StVO anzusehen sei. Das Verhalten der beiden Unfallsbeteiligten rechtfertige eine Verschuldensteilung von 1 : 1. Der Fußgänger hätte nach rechts ausweichen müssen, weil er vom Radfahrer nicht überrascht worden sei und genügend Zeit gehabt hätte, zu reagieren. Der Beklagte hingegen habe den Wanderweg mit seinem Rad unzulässig benutzt und keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Ausgehend von einem angemessenen Schmerzengeld von 80.000 S sprach daher das Erstgericht der klagenden Partei S 40.000 zu.

Dagegen erhoben beide Teile Berufung. Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung dahingehend ab, daß es dem Klagebegehren zur Gänze stattgab; die ordentliche Revision wurde nicht für zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, den Beklagten treffe das Alleinverschulden am Unfall. Die vom Beklagten vermißte Feststellung, er sei bei Annäherung an den Fußgänger "immer Aug in Aug mit ihm" gewesen, sei vom Erstgericht zu Recht nicht getroffen worden, weil aus dem Verhalten des Dr.A***** zu schließen sei, daß er den Beklagten während seiner Annäherung nicht beobachtete; ansonst wäre die von Dr.A***** gesetzte Reaktion, also eine Bewegung zur Gefahr hin, statt von dieser weg, unverständlich. Das Erstgericht habe somit zu Recht die vom Beklagten vermißte Feststellung, bei Annäherung habe er ständig Sichtkontakt mit Dr.A***** gehabt, nicht getroffen.

Beim gegenständlichen Wanderweg handle es sich zwar um eine Straße mit öffentlichem Verkehr im Sinne des § 1 Abs 1 StVO, doch dürfe dieser Weg gemäß § 33 Abs 1 ForstG nur von Fußgängern benützt werden; eine darüber hinausgehende Benützung wäre nur mit Zustimmung des Waldeigentümers zulässig gewesen (§ 33 Abs 3 ForstG). Als allgemein erteilt gelte die Zustimmung zu einer besonderen Nutzung des Waldes erst dann, wenn diese besondere Nutzung gemäß § 34 Abs 10 ForstG durch entsprechende Tafeln im Sinne des § 1 Abs 7 der forstlichen Kennzeichnungsverordnung ersichtlich gemacht worden sei; dies sei hier nicht der Fall. Eine ihm erteilte individuelle Genehmigung zum Befahren des Waldes habe der Beklagte gar nicht behauptet. Es sei daher davon auszugehen, daß der Beklagte verbotswidrig den Waldweg mit seinem Mountainbike benutzt habe, die Übertretung dieser Schutznorm diene auch dem Schutz erholungssuchender Fußgänger. Weiters sei dem Beklagten die Einhaltung eines zu geringen Sicherheitsabstandes vorzuwerfen.

Demgegenüber sei dem Dr.A***** kein Verschulden anzulasten. Daß er den Beklagten bewußt wahrgenommen hätte und in diesem Bewußtsein dennoch nach links in dessen Fahrlinie gegangen wäre, stehe nicht fest. Eine Verpflichtung für ihn als Fußgänger, in seine Gehrichtung zu blicken und den Weg zu beobachten, habe nicht bestanden. Dr.A***** habe nicht mit einer Begegnung mit einem unzulässig den Wanderweg benutzenden Radfahrer rechnen müssen. Aus seiner objektiv falschen Reaktion könne ihm kein Vorwurf einer Sorglosigkeit in eigener Sache gemacht werden, weil er von dem ihm begegnenden Radfahrer überrascht worden sei. Es treffe zwar zu, daß Dr.A***** objektiv genügend Zeit gehabt hätte, auf den Beklagten zu reagieren, wenn er ihn entsprechend früh wahrgenommen hätte. Es stehe aber gerade nicht fest, daß Dr.A***** den Radfahrer bereits vor dem Zeitpunkt, als er seine Fehlreaktion setzte, tatsächlich gesehen hatte.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung dahingehend, daß das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Zur Zulässigkeit der Revision macht der Beklagte unter anderem geltend, es fehle eine Rechtsprechung zur Frage, ob es sich bei der Bestimmung des § 33 ForstG um ein Schutzgesetz im Sinne des § 1311 ABGB handle und ob diese auch dem Schutz der Fußgänger vor Radfahrern diene.

Rechtliche Beurteilung

Es trifft zu, daß zur Frage, welche Rechtsgüter durch die Bestimmung des § 33 ForstG geschützt werden sollen, keine Judikatur des Obersten Gerichtshofes vorliegt, so daß die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO gegeben sind.

Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung macht der Beklagte geltend, die Vorinstanzen hätten das Erfordernis eines Rechtswidrigkeitszusammenhanges völlig außer acht gelassen. Der Zweck des Forstgesetzes und insbesondere seines § 33 sei der Schutz und die Erhaltung des Waldes, seines Bewuchses und seiner zahlreichen Funktionen. Keinesfalls könne dem § 33 ForstG jedoch der Schutzzweck unterstellt werden, Konfliktfälle mehrerer Erholungssuchender, so den Begegnungsverkehr zwischen Radfahrern und Fußgängern zugunsten einer Seite regeln zu wollen. Schäden anderer Personen als des Waldeigentümers seien außerhalb des Schutzbereiches des § 33 ForstG und könne aus dieser Bestimmung kein Schuldvorwurf wegen Schutzgesetzverletzung abgeleitet werden.

Weiters sei an das Verhalten Dris.A***** der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 1297 ABGB anzulegen, mangelnde subjektive Fähigkeiten zur Beachtung der objektiv gebotenen Sorgfalt könnten einen Schuldvorwurf an den Beklagten nicht rechtfertigen.

Was den Schuldvorwurf eines zu geringen Sicherheitsabstandes betreffe, treffe die Beweislast für eine diesbezügliche objektive Sorgfaltswidrigkeit des Beklagten den Kläger, so daß dieser den Nachteil zu tragen habe, wenn das Gericht die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen nicht feststellen könne.

Diesen Ausführungen kommt lediglich im Ergebnis eine gewisse Berechtigung zu:

Ohne Zweifel hat der Kläger den Waldweg unbefugt benutzt. Aus § 33 Abs 3 ForstG ergibt sich das grundsätzliche Verbot des Befahrens des Waldes mit Fahrzeugen, dieses gilt auch für Fahrräder (Messiner, Radfahren im Wald, ZVR 1991, 262 [263 f];

Wohanka/Stürzenbecher/Blauensteiner/Jäger, Forstrecht, 129; 2 Ob 23/94).

Auch bei der Vorschrift des § 33 Abs 3 ForstG handelt es sich um eine Schutzvorschrift im Sinne des § 1311 ABGB, jedoch macht die Übertretung einer Schutznorm nur insoferne für den durch die Übertretung verursachten Schaden haftbar, als durch die Schutznorm gerade dieser Zweck verhindert werden sollte. Der Schutzzweck einer Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den im konkreten Fall eingetretenen Schaden verhindern wollte, ist das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren (ZVR 1991/130; 2 Ob 61/94). Dabei genügt es, daß die Verhinderung des Schadens bloß mitbezweckt ist; die Norm muß aber die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen intendiert haben (JBl 1993, 788; SZ 61/189; ecolex 1994, 534). Durch § 33 ForstG wurde im öffentlichen Interesse, welches im Erholungszweck des Waldes liegt, eine Legalservitut begründet, die im grundsätzlichen das Begehen des Waldes vorsieht (RV 1266 BlgNR 13.GP, 95). Dem Erholungszweck dient es auch, gegenseitige Beeinträchtigungen der verschiedenen Gruppen von (potentiellen) Waldbenützern hintanzuhalten (VfGH 27.2.1992, B 617/91-12). Die Strafsanktion des § 174 Abs 4 ForstG ist daher auch im Interesse der Erholungssuchenden selbst (RV, aaO). Es sind daher - entgegen der vom Beklagten vertretenen Ansicht - auch Fußgänger vom Schutzzweck der Norm des § 33 ForstG mitumfaßt.

Ausgehend von den Feststellungen der Vorinstanzen ist daher dem Beklagten sowohl ein Verstoß gegen das Forstgesetz als auch die Einhaltung eines zu geringen Seitenabstandes vorzuwerfen.

Dessenungeachtet kann aber noch nicht gesagt werden, ob nicht auch Dr.A***** eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten vorzuwerfen ist. Der Beklagte hat nämlich bereits in der Klagebeantwortung behauptet, er hätte mit dem Fußgänger Sichtkontakt gehabt. Während das Erstgericht darüber keine Feststellung getroffen hat, hat das Berufungsgericht - ohne eine Beweisergänzung durchzuführen - die negative Feststellung getroffen, es hätte kein Sichtkontakt bestanden. Das Berufungsgericht hat dadurch den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt. Will das Rechtsmittelgericht von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes abgehen, muß es alle zur Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen erforderlichen Beweise, die das Erstgericht unmittelbar aufgenommen hat, selbst wiederholen (SZ 53/117; EvBl 1978/194; EvBl 1974/72 uva) oder das Protokoll über die Beweisaufnahme in erster Instanz unter den Voraussetzungen des § 281a ZPO verlesen (2 Ob 134/88). Auch ergänzende Feststellungen sind nur nach Beweiswiederholung zulässig (2 Ob 39/91 Kodek in Rechberger, ZPO Rz 4 zu § 488). Die vom Berufungsgericht ergänzend getroffene Feststellung ist für die Entscheidung auch relevant, weil ein Mitverschulden des getöteten Fußgängers anzunehmen wäre, wenn ein längerer Blickkontakt stattgefunden haben sollte. Sollte der Fußgänger trotz Blickkontaktes mit dem ihm entgegenkommenden Radfahrer einen Schritt nach links in dessen Fahrlinie gemacht haben, würde dies eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten darstellen, die nicht vernachlässigt werden könnte.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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