OGH 14Os149/94

OGH14Os149/944.10.1994

Der Oberste Gerichtshof hat am 4.Oktober 1994 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Ebner als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Massauer und Dr.E.Adamovic als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag.Kamptner als Schriftführer, in der Strafsache gegen Dr.Gerhard M***** wegen des Verbrechens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB sowie wegen eines Finanzvergehens, AZ 26 c Vr 7.790/93 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 26. August 1994, AZ 23 Bs 356/94 (= ON 98), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Durch den angefochtenen Beschluß wurde Dr.Gerhard M***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Dr.Gerhard M***** ist dringend verdächtig, als Rechtsanwalt Treuhandgelder in der Größenordnung von mehr als 100 Mio S veruntreut und als Masseverwalter eines im Konkurs fortgeführten Betriebes Abgabenverkürzungen von rd 3 Mio S bewirkt zu haben. Wegen eines vergleichsweise minderbedeutenden Teiles dieser Tatvorwürfe liegt bereits eine rechtskräftige Anklageschrift vor, doch wurden die Akten vom Vorsitzenden des Schöffengerichtes im Hinblick auf den weitergehenden Tatverdacht an den Untersuchungsrichter rückgeleitet, sodaß sich das Verfahren seit dem 22.Juni 1994 wieder im Stadium der Voruntersuchung befindet.

Am 1.April 1994 war Dr.M***** auf Grund eines Haftbefehles festgenommen und über ihn am 3.April 1994 aus den Haftgründen der Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO die Untersuchungshaft verhängt worden. Nachdem bereits drei Haftverhandlungen stattgefunden hatten, nach welchen jeweils die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem erwähnten Haftgrund angeordnet worden war, beantragte die Staatsanwaltschaft am 28.Juli 1994 die Fortsetzung der Untersuchungshaft auch aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 1 StPO, worüber am 3.August 1994 eine weitere Haftverhandlung durchgeführt wurde. Als deren Ergebnis nahm der Untersuchungsrichter zwar Fluchtgefahr an, vertrat jedoch die Auffassung, daß die Haftzwecke insoweit auch durch die gelinderen Mittel entsprechender Gelöbnisse und Weisungen sowie durch die vorübergehende Abnahme von Reisepaß und Führerschein erreicht werden könnten. Tatbegehungsgefahr verneinte er nunmehr überhaupt und verfügte daher am 3.August 1994 die Enthaftung des Beschuldigten.

Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft, in der sie die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr beantragte, gab das Oberlandesgericht Wien mit dem Beschluß vom 26.August 1994 Folge, ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft allerdings nur aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO an. Fluchtgefahr hielt es zwar der Sache nach gleichfalls für gegeben und es sprach auch aus, daß diese nur durch die Leistung einer Sicherheit nach §§ 190 ff StPO in Verbindung mit den schon vom Untersuchungsrichter angeordneten gelinderen Mitteln gebannt werden könnte, wofür es aber an der Voraussetzung eines Kautionsangebots des Beschuldigten fehle. Die daraus zwingend resultierende Konsequenz, Fluchtgefahr auch spruchmäßig als Haftgrund anzunehmen, hat das Oberlandesgericht Wien allerdings nicht gezogen.

Auf Grund dieser Beschwerdeentscheidung erließ der Untersuchungsrichter am 31.August 1994 neuerlich einen Haftbefehl, worauf sich Dr.M***** am 2.September 1994 selbst stellte. Seit 3. September 1994 wird er aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO wieder in Untersuchungshaft angehalten.

In der gegen die erwähnte Entscheidung des Gerichtshofes zweiter Instanz rechtzeitig erhobenen Grundrechtsbeschwerde macht der Beschuldigte - ohne die Dringlichkeit des Tatverdachtes in Zweifel zu ziehen - eine Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit durch unrichtige Beurteilung des herangezogenen Haftgrundes geltend.

Hierin ist dem Beschwerdeführer zwar beizupflichten, weil nicht außer acht gelassen werden darf, daß er die ihm zur Last gelegten Malversationen ausschließlich in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt begangen haben soll und sich insoweit durch die Konkurseröffnung über sein Vermögen am 8.Juni 1994 und die Zurücklegung der Rechtsanwaltschaft am 28.Juni 1994 die Tatbegehungsverhältnisse grundlegend geändert haben (§ 180 Abs 3 letzter Satz StPO). Demgegenüber mißt der Oberste Gerichtshof den vom Oberlandesgericht Wien angeführten Umständen nicht die für die Annahme dieses Haftgrundes maßgebende Bestimmtheit bei (§ 180 Abs 2 StPO).

Zu Recht hat die Beschwerdeinstanz allerdings auch zum Ausdruck gebracht, daß die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde auf freiem Fuße wegen der Größe der ihm mutmaßlich bevorstehenden Strafe flüchten oder sich verborgen halten (§ 180 Abs 2 Z 1 StPO). Die Tatsache, daß Dr.M***** seine berufliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung weitgehend verloren hat, in Verbindung mit dem Umstand, daß der Verbleib der ihm anvertraut gewesenen Gelder von ihm nicht aufgeklärt wurde, sodaß davon auszugehen ist, daß sie ihm noch in irgendeiner Form zur Verfügung stehen, läßt es auch unter Berücksichtigung seiner sonstigen persönlichen Verhältnisse naheliegend erscheinen, daß er sich zur Flucht entschließen könnte. Auch durch die Selbststellung ist diese Gefahr nur in einem solchen Maße abgeschwächt, daß sie - wie das Beschwerdegericht zutreffend erkannt hat - erst durch die Leistung einer anzubietenden Sicherheit nach §§ 190 ff StPO beseitigt werden könnte.

Im Ergebnis wurde Dr.M***** daher im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb seine Beschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

In der Frage der weiteren Haftbefristung geben die hier eingehaltenen Vorgänge allerdings noch Anlaß zu folgenden Bemerkungen:

Aus der Textierung des § 182 Abs 4 StPO ergibt sich ganz klar, daß das Gesetz eine reformatorische Beschwerdeentscheidung des Gerichtshofes zweiter Instanz auf Grund einer Haftbeschwerde des Staatsanwaltes gegen einen Beschluß des Untersuchungsrichters auf Aufhebung der Untersuchungshaft (§ 182 Abs 3 vorl Satz StPO) ebenso als Beschluß auf Fortsetzung der Untersuchungshaft bezeichnet, wie eine bestätigende Beschwerdeentscheidung auf Grund einer Haftbeschwerde des Beschuldigten gegen einen Beschluß, mit dem schon der Untersuchungsrichter die Fortsetzung der Untersuchungshaft (§ 182 Abs 3 vorl Satz StPO) angeordnet hat. Dem steht nicht entgegen, daß sich der Beschuldigte im Falle einer erfolgreichen Haftbeschwerde des Staatsanwaltes - mangels aufschiebender Wirkung der Beschwerde (§ 114 Abs 1 StPO) - bereits auf freiem Fuß befindet, und daher eine unmittelbare Fortsetzung der Haft nicht mehr möglich ist. Der Begriff der Fortsetzung ist nämlich entsprechend seiner Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch weder hier noch sonst im Gesetz (vgl §§ 276 a, 363 StPO) darauf beschränkt, daß das Fortzusetzende unmittelbar an das zuvor (vorläufig) Beendete zeitlich anschließt.

Gemäß § 181 Abs 1 StPO gilt auch für Beschlüsse des Gerichtshofes zweiter Instanz auf Fortsetzung der Untersuchungshaft (§ 182 Abs 4 StPO) - also gleichermaßen für Beschwerdeentscheidungen in beiden eben beschriebenen Fällen -, daß sie längstens für einen bestimmten Zeitraum wirksam sind (Haftfrist), und daß der Ablauftag im Beschluß anzuführen ist. Da das Gesetz die - allein problematische - Wirksamkeitsbefristung für einen Fortsetzungsbeschluß nach Enthaftung nicht ausdrücklich regelt, können die Bestimmungen des § 181 Abs 1 und Abs 2 StPO insoweit nur sinngemäß angewendet werden, ein Maßstab übrigens, den das Gesetz hinsichtlich des Inhalts von Fortsetzungsbeschlüssen und gerade auch in Ansehung einer Mitteilung über die Haftfrist selbst vorgibt (§ 182 Abs 4 aE StPO).

Darnach stellen sich bei Fortsetzungsbeschlüssen nach Enthaftung drei Fragen: 1. nach der Dauer der konkret zur Anwendung kommenden Wirksamkeitsfrist des Beschlusses (Haftfrist); 2. nach deren Beginn und 3. nach der Form deren (deklarativer - s 14 Os 57/94) Mitteilung.

Die Antworten auf alle drei Fragen lassen sich aus dem Zweck jeder reformatorischen Beschwerdeentscheidung ableiten, der in der Herstellung jenes Rechtszustandes besteht, der mit der Entscheidung der Unterinstanz verfehlt worden ist. Demnach ist als Haftfrist bei einem Fortsetzungsbeschluß der in Rede stehenden Art jene heranzuziehen, die ausgelöst worden wäre, wenn schon der Untersuchungsrichter (recte) auf Fortsetzung der Haft erkannt hätte. Gegen einen Neubeginn des Fristensystems spricht gerade auch die für die Einführung der Haftfristen maßgebend gewesene ratio legis, wie der Oberste Gerichtshof schon in Beziehung auf den durchaus vergleichbaren Fall einer Sistierung der Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 4 StPO ausführlich dargelegt hat (15 Os 84,85/94).

Der Beginn der Haftfrist bei der in Betrachtung gezogenen Konstellation läßt sich sinnvoll ebenfalls aus dem Wesen einer Beschwerdeentscheidung einerseits und aus dem Zweck der Haftfristen andererseits ableiten. Mit der Beschränkung der Wirksamkeit eines Haftbeschlusses auf einen bestimmten Zeitraum soll - wie sich nicht nur aus der Bezeichnung "Haftfrist" ergibt - die Haft (dem Verfahrensfortgang entsprechend) zeitlich beschränkt werden. Da der Beschuldigte im Zeitpunkt der Fassung des Fortsetzungsbeschlusses (noch) nicht (wieder) in Haft ist, wäre es sinnwidrig, die Haftfrist - wie sonst (vgl § 181 Abs 2 Z 2 und 3 StPO) - ab Beschlußfassung zu berechnen. Vielmehr wird die Haftfrist erst mit der neuerlichen Festnahme in Gang gesetzt, also in jenem Zeitpunkt, in dem der der Auffassung des Gerichtshofes zweiter Instanz entsprechende Rechtszustand wiederhergestellt ist.

Damit ist aber auch die dritte Frage beantwortet: die Mitteilung der Haftfrist kann sinnvollerweise erst im (auf die neuerliche Festnahme folgenden) Beschluß des Untersuchungsrichters erfolgen, mit der er die auf Fortsetzung der Untersuchungshaft lautende Beschwerdeentscheidung des Gerichtshofes zweiter Instanz effektuiert.

Im vorliegenden Fall wäre daher in dem auf die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien gegründeten Beschluß des Untersuchungsrichters auf (neuerliche) Verhängung der Untersuchungshaft über Dr.M***** vom 3.September 1994 (ON 103) im Hinblick auf dessen Wiederfestnahme am 2.September 1994 das Ende der Haftfrist erst mit 2.November 1994 (und nicht mit 16.September 1994) zu deklarieren gewesen.

Daß ein Fortsetzungsbeschluß des Gerichtshofes zweiter Instanz nach Enthaftung des Beschuldigten im übrigen nur bei unveränderter Sachlage seine Wirkung entfalten kann, bedarf keiner besonderen Betonung. Haftrelevante neue Umstände, die im Beschwerdeverfahren nicht berücksichtigt werden konnten, sind vom Untersuchungsrichter jederzeit ohne Rücksicht auf die Beschwerdeentscheidung zu beachten, was gegebenenfalls dazu führen kann, daß schon die neuerliche Ausstellung eines Haftbefehles zu unterbleiben hat.

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