OGH 4Ob506/94

OGH4Ob506/9415.2.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Gamerith als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kodek, Dr.Niederreiter, Dr.Redl und Dr.Griß als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen Olivia und Viktor S*****, infolge Revisionsrekurses des ehelichen Vaters Dipl.Ing.Andrzej S*****, vertreten durch Josef Peissl und Dr.Gisulf Konrad, Rechtsanwälte in Köflach, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 20. Oktober 1993, GZ 47 R 592, 593/93-59, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Fünfhaus, GZ 1 P 47/91-54, teilweise ersatzlos aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Minderjährigen und ihre Eltern sind polnische Staatsbürger. Die Ehe der Eltern ist aufrecht, sie leben aber getrennt. Die Kinder befinden sich bei der Mutter in Wien; der Vater hält sich derzeit wieder in Polen auf.

Am 30.7.1990 beantragte die Mutter beim Bezirksgericht für ZRS Graz, in dessen Sprengel sie damals mit ihren Kindern gewohnt hatte, (ua) ihr die Obsorge für die beiden Kinder zuzuweisen (ON 1).

Der Vater beantragte demgegenüber am 24.8.1990, ihm die Obsorge für die Kinder zuzuteilen (ON 3).

Am 12.6.1991 legte der Vater dem Erstgericht - dem das Bezirksgericht für ZRS Graz die Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 und 2 JN übertragen hatte (ON 14; Übernahme ON 23) - den Bescheid des Amtsgerichtes Warschau vom 24.Mai 1991, RXNsm 246/91, in Ablichtung samt beglaubigter Übersetzung vor, dessen Spruch lautete:

"Kraft des Art. 569 § 2 der Zivilordnung sollen die Minderjährigen Olivia Sarah S***** und Viktor Stefan S***** bis zum Schluß des Verfahrens beim Vater Andrzej S***** untergebracht werden; die Mutter der Kinder, Katarzyna S***** wird aufgefordert, die Kinder dem Vater herauszugeben."

Mit der Behauptung, daß der Vater beim zuständigen Gericht in Warschau eine Scheidungsklage und den Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge für die Minderjährigen beantragt habe, obwohl eine entsprechende Betreuung der Kinder beim Vater nicht in dem Umfang gewährleistet sei wie bei der Mutter und bei Übergabe der erst 15 Monate alten Zwillinge an den Vater eine Entfremdung zur Mutter drohe, so daß Gefahr im Verzug bestehe, beantragte die Mutter am 20. August 1991 eine vorläufige Anordnung, mit der ihr bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Obsorge das alleinige Recht eingeräumt werden möge, die beiden Kinder zu pflegen und zu erziehen. Weiters beantragte sie (neuerlich), ihr die Obsorge zu übertragen (ON 28).

Am 17.Oktober 1991 legte die Mutter (in Ablichtung und beglaubigter Übersetzung) die "Bestimmung" des Amtsgerichtes Warschau vom 17. September 1991, RXNsm 246/91, vor, wonach die Ausführung der Bestimmung vom 24.5.1991 eingestellt werde (ON 29).

Mit Beschluß vom 26.Juli 1993 wies das Erstgericht - soweit für das Revisionsrekursverfahren noch von Bedeutung - die Anträge der Mutter vom 20.8.1991 auf vorläufige Übertragung von Pflege und Erziehung und auf Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten über die Minderjährigen zurück. Da gemäß Art 32 des österreichisch-polnischen Rechtshilfevertrages BGBl 1974/79 die Zuständigkeit der Heimatbehörden der Kinder gegeben sei, fehle es an der inländischen Gerichtsbarkeit. Da die Mutter nur behauptet habe, daß der Vater seinerzeit in Polen die Übertragung der elterlichen Rechte bis zur Rechtskraft der Scheidung beantragt habe und die Kinder möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt den Bezug zur Mutter verlieren könnten, seien auch die Voraussetzungen des Art 34 dieses Vertrages nicht erfüllt. Das Bemühen eines Elternteils, die elterlichen Rechte auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg zu erlangen, rechtfertige nicht die Erlassung einstweiliger Maßnahmen durch die Gerichte des Aufenthaltsstaates.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluß ersatzlos auf und trug dem Erstgericht die Sachentscheidung über den Obsorgeantrag der Mutter unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund auf; es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Wenngleich entgegen den Rekursausführungen der Mutter davon auszugehen sei, daß in Polen weiterhin ein Pflegschaftsverfahren anhängig ist, sei dennoch die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen. Im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Minderjährigen in Österreich sei sowohl nach Art 31 als auch nach Art 34 des genannten Rechtshilfevertrages grundsätzlich die österreichische Gerichtsbarkeit gegeben. Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen der Art 32 und 34 dieses Vertrages läge die inländische Gerichtsbarkeit vor. Die Gerichte des Heimatstaates könnten dann ihrerseits Maßnahmen treffen, die an die Stelle jener des Aufenthaltsstaates treten. Auch dann würde aber weder die grundsätzliche Jurisdiktion des Aufenthaltsstaates rückwirkend beseitigt noch künftig für allfällige weitere Maßnahmen zur Sicherung des Wohls der Pflegebefohlenen ausgeschlossen. Da bisher eine Verständigung durch polnische Gerichte im Sinn des Art 32 des Vertrages an die österreichischen Behörden nicht ergangen ist, bestehe auch kein Hindernis, in Österreich die für nötig erachteten Maßnahmen zu treffen. Daran ändere auch die Verpflichtung des Gerichtes des Aufenthaltsstaates, jenes des Heimatstaates von bereits getroffenen oder beabsichtigten derartigen Maßnahmen zu verständigen, nichts.

Der gegen diesen Beschluß erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach Art 31 Abs 1 des Vertrages vom 11.Dezember 1963 zwischen der Republik Österreich und der Volksrepublik Polen über die wechselseitigen Beziehungen in bürgerlichen Rechtssachen und über Urkundenwesen BGBl 1974/79 sind dann, wenn ein minderjähriger Angehöriger eines Vertragsstaates seinen gewöhnlichen Aufenthalt im anderen Vertragsstaat hat, dessen Gerichte vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 32 und 34 zuständig, nach dem für sie geltenden Rechte Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. (Von diesen Maßnahmen ist dann nach Art 31 Abs 2 des Vertrages die diplomatische oder die zuständige konsularische Vertretungsbehörde des Heimatstaates des Minderjährigen zu verständigen). Nach Art 32 Abs 1 des Vertrages können die Gerichte des Heimatstaates des Minderjährigen nach dem für sie geltenden Recht unter Verständigung der Gerichte des Aufenthaltsstaates zum Schutz der Person oder des Vermögens des Minderjährigen Maßnahmen treffen, welche dann - nach Abs 2 dieses Artikels - an die Stelle der Maßnahmen treten, die allenfalls von den Gerichten des Aufenthaltsstaates getroffen worden sind. Die Gerichte des Aufenthaltsstaates haben nach Art 34 Abs 1 des Vertrages im Falle der Dringlichkeit die erforderlichen vorläufigen, bei unbedingter Notwendigkeit auch andere Maßnahmen zu treffen und von einer solchen (beabsichtigten) Maßnahme die diplomatische oder zuständige konsularische Vertretungsbehörde des Heimatstaates unverzüglich zu verständigen. Die getroffenen vorläufigen Maßnahmen treten nach Art 34 Abs 2 des Vertrages außer Kraft, wenn sie von den nach den Art 31, 32 oder 33 zuständigen Gerichten durch andere Maßnahmen ersetzt worden sind.

Diese Vorschriften sind - wie der Revisionsrekurswerber richtig erkennt - weitgehend dem Haager Minderjährigenschutzabkommen BGBl 1975/446 (MSA) nachgebildet, nach dessen Art 1 die Behörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 dafür zuständig sind, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Nach Art 4 Abs 1 MSA können die Behörden des Heimatstaates des Minderjährigen nach ihrem innerstaatlichen Recht zum Schutz der Person oder des Vermögens des Minderjährigen Maßnahmen treffen, nachdem sie die Behörden des Staates verständigt haben, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Der Rechtshilfevertrag zwischen Österreich und Polen verteilt - wie das Haager Minderjährigenschutzabkommen - die "internationalen Zuständigkeiten" für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art 31, 34 Abs 1) und den Heimatstaat (Art 32, 34 Abs 2). Diese Zuständigkeiten der Behörden des Aufenthalts- und des Heimatstaates bestehen - wie im Fall des MSA (EvBl 1978/128; RZ 1988/41 ua) - nebeneinander. Aus dem Wortlaut des Rechtshilfevertrages ergibt sich - wie aus dem MSA (Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen und seine Anwendung in Österreich, JBl 1976, 233 [241]) -, daß in erster Linie mit der Zuständigkeit der Gerichte des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes gerechnet wird. Art 31 Abs 1 bestimmt nämlich, daß die Gerichte des Aufenthaltsstaates "zuständig sind", wogegen die Behörden des Heimatstaates nach Art 32 Abs 1 lediglich Schutzmaßnahmen "treffen können", deren Wirkungen dann freilich ein eindeutiger Vorrang gegenüber den Maßnahmen der Behörden des Aufenthaltsstaates zukommt (Schwimann aaO; SZ 55/153; RZ 1988/41). Die Zuständigkeit der Gerichte des Aufenthaltsstaates greift - wie nach Art 1 MSA (Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechts 250; SZ 55/153) - insoweit nicht (mehr) ein, als Schutzmaßnahmen der Gerichte des Heimatstaates des Kindes (Art 32 des Vertrages) vorliegen. In solchen Fällen bleibt den Gerichten am gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen nur die Eil- und Notzuständigkeit nach Art 34 des Vertrages (vgl zum MSA: Schwimann aaO; SZ 55/153; RZ 1988/41).

Voraussetzung für die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Heimatstaates ist nach Art 32 Abs 1 des Vertrages, daß dessen Gerichte "unter Verständigung" der Gerichte des Aufenthaltsstaates die Maßnahmen treffen. Diese Worte bedeuten nichts anderes als die in Art 4 MSA gewählte Formulierung (" ... nachdem sie die Behörden des Staates verständigt haben, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat"). Welche Wirkungen die Verletzung der Verständigungspflicht hat, ist im Rechtshilfevertrag - wie im MSA (Schwimann JBl 1976, 242; EvBl 1978/128; SZ 55/153; RZ 1988/41) - nicht ausdrücklich geregelt. Ob die Verständigung bedingende Voraussetzung für die Zuständigkeit der Behörden des Heimatstaates ist, ob ihre Verletzung nur einen Verfahrensmangel begründet (vgl zum MSA EvBl 1978/128) oder ob etwa die Wirkung der getroffenen Maßnahme bei zunächst unterbliebener Verständigung (erst) mit der nachgeholten Verständigung eintritt (Schwimann JBl 1976, 242; SZ 55/153; RZ 1988/41), kann hier offenbleiben Im vorliegenden Fall ist nicht zu beurteilen, wie weit derzeit ein polnisches Gericht dafür zuständig ist, Maßnahmen zum Schutze der in Österreich wohnenden Minderjährigen zu treffen. Keinesfalls könnte die Meinung vertreten werden, daß die internationale Zuständigkeit des Erstgerichtes als eines Gerichtes des Staates, in welchem sich die Minderjährigen aufhalten, derzeit nicht mehr gegeben sei, weil das Amtsgericht Warschau ohne Verständigung des österreichischen Gerichtes - was durch die von den Beteiligten vorgelegten Ablichtungen nahegelegt wird - einmal eine vorläufige Maßnahme zum Schutz der Kinder getroffen, in der Folge aber wieder aufgehoben hat. Da jedenfalls derzeit keine Verständigung durch das polnische Gericht von einer getroffenen Maßnahme vorliegt und auch auf anderem Wege keine (noch wirksame) Schutzmaßnahme dieser Behörde bekannt geworden ist, besteht weiterhin die internationale Zuständigkeit des Erstgerichtes.

Ist sohin die inländische Gerichtsbarkeit schon im Hinblick auf Art 31 Abs 1 des Vertrages zu bejahen, dann braucht nicht mehr auf die Frage eingegangen zu werden, ob sie auch auf Grund der "Eilzuständigkeit" des Art 34 (vgl Art 9 MSA; Schwimann Grundriß des internationalen Privatrechts 250; SZ 55/153) - zu bejahen wäre.

Aus Art 29 Abs 2 des Vertrages läßt sich entgegen den Revisionsrekursausführungen für die hier zu lösende Frage nichts gewinnen, wird doch dort nur die Frage behandelt, welche Rechtsordnung bei der Beurteilung der Rechtsbeziehungen zwischen Eltern und einem ehelichen Kind anzuwenden ist, nicht aber die Frage der inländischen Gerichtsbarkeit. Die Auslegung, daß die internationale Zuständigkeit nach Art 31 nur für dringende unaufschiebbare Maßnahmen gelte, steht somit nicht nur mit dem insoweit klaren Wortlaut dieser Bestimmung in Widerspruch, sondern kann auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang des Vertragstextes abgeleitet werden.

Dem Revisionsrekurs mußte somit ein Erfolg versagt bleiben.

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