OGH 10ObS228/93

OGH10ObS228/9323.11.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dr. Manfred Lang und Dr. Heinrich Matzke in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Oskar P*****, vertreten durch Dr. Günter Philipp, Rechtsanwalt in Mattersburg, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, wegen Waisenpension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. August 1993, GZ 32 Rs 118/93-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28. April 1993, GZ 16 Cgs 421/92-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 27.Juli 1992 lehnte die Beklagte den am 20. November 1991 gestellten Antrag des am 20. August 1963 geborenen Klägers auf Waisenpension (nach seinem am 20. April 1989 verstorbenen, bei der Beklagten versichert gewesenen ehelichen Vater) mit der Begründung ab, daß die Kindeseigenschaft des Antragstellers nicht über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus bestehe.

Das auf die Waisenpension im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstag gerichtete Klagebegehren stützt sich darauf, daß der Kläger seit der Vollendung des 18. Lebensjahres infolge angeborener Taubstummheit und geistiger Behinderung erwerbsunfähig sei. Die Beschäftigung im Betrieb seiner Schwester sei nur wegen deren besonderen Entgegenkommens möglich. Eine regelmäßige Beschäftigung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sei aber seit der Vollendung des 18. Lebensjahres ausgeschlossen.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete ein, daß der Kläger zwar hochgradig schwerhörig und gehemmt sei; Sprachverständnis, Sprechfähigkeit und Intellekt seien jedoch nicht beeinträchtigt. Sein Gebrechen lasse eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchaus zu. Er sei auch seit 22. Mai 1989 im Elektrobetrieb seiner Schwester als Angestellter beschäftigt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Kläger ist seit 22. Mai 1989 in seinem Wohnort im Elektrounternehmen seiner Schwester als Angestellter beschäftigt. Er leidet an beidseitiger praktischer Taubheit, durch die die Auffassung herabgesetzt ist. Die Sprachentwicklung ist jedoch gut. Er kann von den Lippen ablesen. Er kann leichte, mittelschwere und schwere Arbeiten in jeder Körperhaltung leisten, die keine Anforderungen an das Gehör stellen und bei denen der Kontakt mit Vorgesetzten und Mitarbeitern durch Lippenablesen möglich ist. Längere als die gesetzlichen Arbeitspausen sind nicht erforderlich. Die Anmarschwege sind unter städtischen und ländlichen Bedingungen zumutbar. Anlernbarkeit, Umlernbarkeit und Unterweisbarkeit sind gegeben. "Der Kläger benötigt bei Aufsuchen einer neuen Beschäftigung etwa für einen Zeitraum von sechs Monaten besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers." Eine persönliche Beaufsichtigung und eine das durchschnittliche Ausmaß überschreitende regelmäßige Anleitung sind nicht notwendig. Er mußte nicht in einem "familiär-geschützten" Arbeitsbereich arbeiten, sondern kann auch außerhalb des familiären Bereiches und auch im Fabriksmilieu arbeiten.

Unter diesen Umständen verneinte das Erstgericht die für das Weiterbestehen der Kindeseigenschaft nach der Vollendung des 18. Lebensjahres erforderliche Erwerbsunfähigkeit des Klägers.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Es verneinte die behaupteten Verfahrensmängel und führte zur Beweis- und Rechtsrüge aus: Die vom Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie gebrauchte Formulierung, der Kläger müsse für einen Zeitraum von etwa sechs Monaten ein besonderes Entgegenkommen "im beschriebenen Sinn", das heiße, wie in der schriftlichen Frage, in Anspruch nehmen, nämlich eine überdurchschnittliche Einschulungszeit, besondere Nachsicht wegen fehlerhafter Leistungen usw, sei mißverständlich und erwecke den Eindruck, daß der Kläger nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Bei den angesprochenen Verständigungsschwierigkeiten handle es sich jedoch nur um eine verlängerte Einschulung bzw Umgewöhnungszeit. Aus der Gegenüberstellung der Versicherungsfälle der dauernden und der vorübergehenden Invalidität ergebe sich, daß eine 26 Wochen nicht übersteigende Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu bleiben habe und keinen Leistungsanspruch auslöse. Dies rechtfertige den Größenschluß, daß eine behinderungsbedingte verlängerte Einschulungszeit, während der ein Versicherter nicht schlechthin arbeitsunfähig, sondern nur in seiner Leistungsfähigkeit vermindert sei, nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließe. Der vom Kläger angestrebte besondere Schutz werde zumindest teilweise durch das Behinderteneinstellungsgesetz gewährleistet. Das Bildungsniveau des Klägers sei lediglich "etwas" vermindert, Anlernbarkeit, Umschulbarkeit und Unterweisbarkeit seien trotzdem gegeben. Daher übersteige unter dem besonderen Schutz des genannten Gesetzes die von einem Dienstgeber zu erwartende Rücksichtnahme noch nicht das Maß, das zum Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt führe. Der bei der Antragstellung bereits 28 Jahre alte Kläger habe laut Anstaltsakt zwischen Juli 1978 und der Antragstellung mit geringen Unterbrechungen Versicherungszeiten erworben, die nicht nur durch den geschützten Familienbereich ermöglicht worden seien.

In der nicht beantworteten Revision wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung beantragt der Kläger, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben oder sie allenfalls im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die schon in der Berufung behauptet, vom Berufungsgericht aber verneint wurden, können nach stRsp des erkennenden Senates (zB SSV-NF 6/28 mwN, zuletzt 24.8.1993, 10 ObS 134/93 unter Hinweis auf Ballon in Matscher-FS (1993), 15 f) auch in Sozialrechtssachen in der Revision nicht neuerlich gerügt werden.

Auch die Rechtsrüge ist nicht berechtigt.

(Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des GSVG.)

Nach § 138 haben Anspruch auf Waisenpension nach dem Tode des (der) Versicherten die Kinder im Sinne des § 128 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 (Satz 1). Über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus wird Waisenpension nur auf besonderen Antrag gewährt (Satz 2). Als Kinder iS des § 128 Abs 1 Z 1 gelten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr u.a. die ehelichen Kinder der Versicherten. Nach Abs 2 Z 2 leg cit besteht die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres ..... infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist.

Der Wortlaut der §§ 128 und 138 stimmt - abgesehen von den Paragraphenzitaten - mit dem der §§ 252 und 260 ASVG und der §§ 119 und 129 BSVG überein.

Nach der zu den zit Gesetzesstellen des ASVG ergangenen E SSV-NF 6/102 liegt Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechens iS des § 252 Abs 2 Z 2 ASVG vor, wenn jemand wegen des nicht nur vorübergehenden Zustandes der körperlichen und geistigen Kräfte und nicht nur wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarktes oder wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen. Dazu berief sich der erkennende Senat auf Teschner in MGA ASVG 49. ErgLfg 742/4 § 123 FN 20a. Hiebei müsse es sich keineswegs um eine "dauernde" Erwerbsunfähigkeit iS des Versicherungsfalles der dauernden Erwerbsunfähigkeit nach § 133 GSVG handeln. Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach der hier maßgeblichen Gesetzesstelle komme es also darauf an, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen könne. Ob dies infolge Krankheit oder Gebrechens unmöglich sei, müsse ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten und ohne Bedachtnahme darauf beurteilt werden, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch - etwa auf Kosten seiner Gesundheit - weiterhin ein Einkommen aus unselbständiger oder selbständiger Tätigkeit beziehe.

Teschner/Widlar führen in MGA ASVG 53. ErgLfg 742/4a § 123 FN 20a aus, der Begriff der Erwerbsunfähigkeit gehe der Art und dem Maß nach über die Begriffe der Invalidität (§ 255 ASVG) und der Berufsunfähigkeit (§ 273 leg cit) hinaus.

Auch Schrammel betont in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 129 f, die Judikatur habe im Bereich der Angehörigeneigenschaft einen eigenständigen Erwerbsunfähigkeitsbegriff entwickelt, der mit dem Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit in der Pensionsversicherung der Selbständigen nur den Namen gemeinsam habe. Der Gesetzgeber habe mit dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit ausdrücken wollen, daß beim Kind ein Zustand vorhanden sein müsse, der es ihm nicht gestatte, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Im Zusammenhang mit der Angehörigeneigenschaft bedeute Erwerbsunfähigkeit die infolge Ausfallens körperlicher oder geistiger Funktionen bestehende Unfähigkeit, durch rechtlich erlaubte, dem bisherigen Beruf nicht völlig wesensfremde Arbeit einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. Nicht nennenswert sei ein Entgelt, das den Betrag nicht übersteige, bis zu dem nach § 122 Abs 4 ASVG Erwerbslosigkeit anzunehmen sei.

Aus den richtig verstandenen Feststellungen der Vorinstanzen ergibt sich zweifelsfrei, daß der Kläger seit der Antragstellung imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen, und daher nicht infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig iS des § 128 Abs 2 Z 2 ist.

Die erstgerichtliche Feststellung "Der Kläger benötigt bei Aufnahme einer neuen Beschäftigung besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers etwa für einen Zeitraum von sechs Monaten" darf einerseits nicht losgelöst von den weiteren Feststellungen betrachtet werden, daß Anlernbarkeit, Umlernbarkeit und Unterweisbarkeit möglich und persönliche Beaufsichtigung sowie regelmäßige Anleitung über das durchschnittliche Ausmaß nicht notwendig sind. Anderseits ist die Grundlage der unter Anführungszeichen wiedergegebenen Feststellung zu berücksichtigen. Sie geht auf die vom Erstgericht veranlaßte schriftliche Beantwortung der im Schriftsatz des Klägers ON 13 als erörterungsbedürftig bezeichneten Frage durch den Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie zurück, ob dem Kläger für die Aufnahme jeder an sich zumutbaren Beschäftigung in einem gewissen Zeitraum ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers (wie zB Einschulungszeit über dem Durchschnitt, besondere Nachsicht wegen fehlerhafter Leistungen etc) zugestanden werden muß, wie dies unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht zu erwarten sei. Die - nicht eigens begründete - Antwort des genannten Sachverständigen lautete: "Ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers im beschriebenen Sinne ist für einen Zeitraum von etwa 6 Monaten zuzubilligen." Auf dieser Grundlage traf das Erstgericht die erwähnte Feststellung.

Ob es insbesondere unter Bedachtnahme auf das Behinderteneinstellungsgesetz einen Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt bedeutet, wenn ein danach voll arbeitsfähiger Dienstnehmer während der ersten sechs Monate seines Dienstverhältnisses wegen überdurchschnittlicher Einschulungszeit oder fehlerhafter Leistungen auf das besondere Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen ist, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Der Kläger kann nämlich alle Arbeiten verrichten, die keine Anforderungen an das Gehör stellen und bei denen der Kontakt mit Vorgesetzten und Mitarbeitern durch Lippenablesen möglich ist. Es ist offenkundig, daß seine Arbeitsfähigkeit daher auch für eine große Zahl von einfachen Hilfsarbeiten ausreicht, für die weder eine Anlernung noch eine Umschulung erforderlich sind. Für solche Arbeiten reicht in der Regel eine kurze Einweisung durch Vorgesetzte oder Arbeitskollegen aus, die nicht einmal mit Worten erfolgen muß. Oft wird es genügen, dem neuen Dienstnehmer die von ihm erwarteten einfachen Arbeitsgänge und Handgriffe vorzuzeigen. Auf diese Weise können zB auch der deutschen Sprache nicht mächtige Gastarbeiter und Personen mit Intelligenzschwächen in kurzer Zeit so eingewiesen werden, daß sie diese einfachen Hilfsarbeiten bald in der erwarteten Weise ausführen können.

Nach dem festgestellten Sachverhalt ist der Kläger zwar praktisch taub. Er ist aber der deutschen Sprache mächtig und kann sprechen. Seine Auffassung ist nicht wegen Geistesschwäche, sondern nur dadurch herabgesetzt, daß er das gesprochene Wort nicht hören, wohl aber von den Lippen ablesen kann. Unter diesen Umständen besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß er imstande ist, trotz seines schon vor der Vollendung des 18. Lebensjahres bestehenden Gebrechens der praktischen Taubheit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen. Die einschränkende Feststellung, daß er bei Aufnahme einer neuen Beschäftigung etwa für einen Zeitraum von sechs Monaten besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers braucht, kann sich bei Bedachtnahme auf ihre Grundlage im Zusammenhang mit den übrigen Feststellungen logischerweise nur auf kompliziertere Arbeitstätigkeiten beziehen. Nur solche bedürfen nämlich einer längeren Einschulung und können in den ersten Monaten zu gehäuften Fehlleistungen führen. Die erwähnte Feststellung kann hingegen nicht auf einfache Hilfsarbeitertätigkeiten bezogen werden. Diese können nämlich vom Kläger schon nach kurzer Anleitung in der erwarteten Weise ausgeführt werden, weshalb er diesbezüglich nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen ist, das ihn vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde.

Die Rechtsfrage, ob der Kläger jedenfalls seit der Antragstellung infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist, wurde daher vom Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht verneint.

Insoweit die Rechtsrüge davon ausgeht, daß der Kläger in einem "geschützten" Arbeitsbereich arbeiten muß, und nicht außerhalb eines solchen Bereiches oder im Fabriksmilieu arbeiten kann, geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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