OGH 10ObS179/93

OGH10ObS179/9314.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Grisha M*****, vertreten durch Dr.Walter Panzer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. April 1993, GZ 34 Rs 27/93-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 14. September 1992, GZ 17 Cgs 116/91-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 24.9.1991 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 28.3.1991 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Die auf die abgelehnte Leistung ab Antragstellung gerichtete Klage stützt sich darauf, daß der Kläger wegen des darin angeführten körperlichen und geistigen Zustandes keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen könne. Hinsichtlich des Beschäftigungsverlaufes wurde auf den erstgerichtlichen Vorakt 17 Cgs 90/88 und den Pensionsakt verwiesen und die Parteienvernehmung angeboten.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie behauptete, der Kläger hätte nach seinen eigenen Angaben im Pensionsakt während der letzten 15 Jahre vor dem Pensionsantrag als Hilfsarbeiter gearbeitet. Er könne alle Arbeiten in der üblichen Arbeitszeit ausüben, zB die eines Haus-, Magazin- und Garagenarbeiters.

Der in der Klage, aber auch in deren Beantwortung zit Vorakt wurde nicht beigeschafft, so daß daraus nichts über den Berufsverlauf des Klägers entnommen werden konnte. Im verlesenen Pensionsakt behauptete der Kläger, als "Religionsbeamter" tätig gewesen zu sein. Ein Bescheid der AUVA über die Anerkennung eines Arbeitsunfalles bezeichnet ihn als "Tempeldiener" der israel. Kultusgemeinde. Bei der Untersuchung durch den vom Erstgericht bestellten Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie gab er an, zuletzt als Religionslehrer tätig gewesen zu sein. Der Sachverständige für Chirurgie erwähnte in der Anamnese seines Gutachtens, der Kläger sei bis 1984 Tempeldiener gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die Beklagte habe dem Kläger eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.4.1991 zu gewähren ab, ohne über das Mehrbegehren für die Zeit vom 28.3. (Antragstag) bis 31.3.1991 abzusprechen. Diese Unterlassung blieb unbekämpft.

Das Erstgericht stellte fest, daß der am 27.4.1948 geborene Kläger, der in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter tätig war, mit dem seit dem Pensionsantrag bestehenden, näher dargelegten körperlichen und geistigen Zustand bei Einhalten der üblichen Arbeitspausen alle leichten bis mittelschweren Arbeiten ohne Einschränkung der Körperhaltung, aber nicht unter ständigem Zeitdruck leisten kann. Der Anmarschweg ist unter städtischen und "leicht ländlichen" Verhältnissen nicht beschränkt. "Gleichwertige" und mit einer großen Anzahl von Dienstposten ausgestattete Verweisungstätigkeiten sind: Autowäscher, Abservierer, Hubstapelfahrer, Tankwart, Aktenträger, Waschraumwärter, Fabrikswächter, Aufseher bei Ausstellungen etc, Billeteur, Portier, Hilfskraft beim Plakatieren, Bedienen von Kleinmaschinen.

Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten sei der Kläger nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge.

Es verneinte die behaupteten Verfahrensmängel, übernahm die bekämpften Feststellungen über den Gesundheitszustand des Klägers und dessen überwiegende Tätigkeit als Hilfsarbeiter und billigte auch die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Erstgericht. Im Zusammenhang mit dem Berufsverlauf führte die zweite Instanz im wesentlichen aus, der Kläger hätte weder in der Klage noch im weiteren Verfahren ein diesbezügliches Vorbringen erstattet und nicht behauptet, überwiegend eine erlernte oder angelernte Tätigkeit ausgeübt zu haben. Daß er in der Klage auf den Vorakt und den Pensionsakt verwiesen habe, ersetze ein solches Vorbringen nicht. Deshalb verstoße das Berufungsvorbringen, er habe als "Speiseaufseher und Tempeldiener in Institutionen bzw der Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde" und nicht als Hilfsarbeiter gearbeitet, diese Tätigkeiten hätten neben einer besonderen "Präsenz" und im Zusammenhang mit der Einhaltung religiöser Vorschriften und Gebote eine besondere Qualifikation erfordert, gegen das im Berufungsverfahren geltende Neuerungsverbot. Die Beklagte habe den Kläger in der Klagebeantwortung "und auch im Anstaltsakt" als Hilfsarbeiter bezeichnet. Dem habe der qualifiziert vertretene Kläger nicht widersprochen. Daher könne der Inhalt seiner Berufstätigkeit ungeprüft bleiben. Unter "Hilfsarbeiter" werde schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auch für den juristisch nicht Geschulten ein Arbeiter ohne besondere Qualifikation verstanden. Daher hätten für das Vorliegen eines Berufsschutzes keine Anhaltspunkte bestanden. Solche würden auch in der Berufung nicht aufgezeigt. Die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Erstgericht sei richtig.

Rechtliche Beurteilung

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Die im Zusammenhang mit der Unterlassung der Vernehmung von Zeugen und des Klägers als Partei geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Diese angeblichen Mängel des Verfahrens erster Instanz wurden bereits in der Berufung behauptet, vom Berufungsgericht aber verneint und dürfen daher auch in einer sozialgerichtlichen Revision nicht neuerlich gerügt werden (stRsp des erkennenden Senates, zB SSV-NF 6/28 mwN; zuletzt 24.8.1993, 10 Ob S 134/93).

Dieses Ergebnis wurde in der Lehre wiederholt in Frage gestellt. Der erkennende Senat hat die von Kuderna (Der Untersuchungsgrundsatz im Verfahren in Sozialrechtssachen, FS 100 Jahre österreichische Sozialversicherung) in SSV-NF 3/115 und die von Hoyer (JBl 1991, 448) geäußerte Kritik jeweils mit ausführlicher Begründung abgelehnt. Der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist jüngst Ballon (Zu den Verfahrensmängeln im Zivilprozeßrecht, FS Matscher, 15 ff) beigetreten. Er leitet dieses Ergebnis nach umfassender Darstellung des Meinungsstandes in Rechtsprechung und Schrifttum im wesentlichen aus einer teleologischen Interpretation des § 503 Z 2 ZPO ab und vertritt die Ansicht, daß vor allem Gründe der Verfahrensökonomie hiefür sprächen. Wesentliches Gewicht komme auch der Verfahrensdauer zu. Der Gerichtshof für Menschenrechte habe ausgesprochen, daß ein kompliziertes Rechtsmittelsystem keine Entschuldigung für eine überlange Verfahrensdauer sei. Gerade bei Verfahrensmängeln müsse daher der prozeßökonomische Gedanke dazu führen, sie nur durch die nächste Instanz überprüfen zu lassen und es dadurch zu ermöglichen oder zu erleichtern, ein Verfahren auch im Instanzenzug in angemessener Frist zu Ende zu führen. Er führt dazu umfassend aus, daß die verfassungskonforme und teleologische Interpretation unter Anwendung der Gedanken der Verfahrensökonomie und der Analogie als Leitlinie ergebe, daß Verfahrensmängel der ersten Instanz vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüft werden könnten; dies gelte sowohl für den Fall, daß die Berufungsinstanz den behaupteten Verfahrensfehler ausdrücklich verneint habe, als auch für den Fall, daß eine Anfechtung in der Berufung unterblieben sei und sich die zweite Instanz mit dieser Frage daher gar nicht befassen durfte.

Der erkennende Senat hält an seiner bisherigen vor allem aus dem Größenschluß zu den Nichtigkeitsgründen abgeleiteten Rechtsprechung fest. Ballon stellt dies mit der Begründung in Frage, daß § 519 Abs 1 ZPO nur die Nichtanfechtbarkeit von Beschlüssen statuiere, während die Entscheidung des Berufungsgerichtes in Urteilsform ergehe; § 519 Abs 1 ZPO lehnt er daher als Begründungsargument ab. Dies spricht aber nicht gegen die Zulässigkeit des Größenschlusses. Es würde geradezu einen Wertungswiderspruch bedeuten, würde man die Anfechtbarkeit von Verfahrensmängel gegenüber der - wenn auch in Beschlußform ergehenden - Entscheidung über die Frage der Nichtigkeit erweitern. Die Ausführungen Ballons zeigen jedoch im übrigen zusätzliche gewichtige Argumente für dieses Ergebnis auf.

Eine Ausnahme will Ballon nur für Verfahrensmängel erster Instanz gelten lassen, die verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte, insbesondere das rechtliche Gehör verletzen, und nicht ohnehin unter Nichtigkeitssanktion stehen - sogenannte "qualifizierte Verfahrensmängel". Solche Verfahrensmängel seien einer Überprüfung durch das Höchstgericht aufgrund ausdrücklicher Rüge zugänglich, dies allerdings auch nur dann, wenn sie nicht schon durch die zweite Instanz ausdrücklich verneint worden seien oder ihre Geltendmachung nicht möglich gewesen sei. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob für "qualifizierte Verfahrensmängel" von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Grundsätze zu gelten haben, ist hier entbehrlich, weil in der Revision Mängel gerügt werden, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat; in diesem Fall lehnt jedoch auch Ballon die Geltendmachung im Revisionsverfahren in jedem Fall ab.

Das Berufungsverfahren leidet auch nicht insofern an einem Mangel, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern geeignet war (§ 503 Z 2 ZPO), als es die Prüfung der in der Berufung bekämpften erstgerichtlichen Feststellung, daß der Kläger in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter tätig war, mit der Begründung ablehnte, der schon damals qualifiziert vertretene Kläger habe in erster Instanz kein Vorbringen über seine Berufslaufbahn erstattet und dem Vorbringen der Beklagen, er sei Hilfsarbeiter gewesen, nicht widersprochen. Damit nahm das Berufungsgericht an, daß diese Behauptung der Beklagten iS des § 267 Abs 1 ZPO als zugestanden anzusehen sei und daher wie eine ausdrücklich zugestandene Tatsache nach § 266 Abs 1 leg cit keines Beweises bedürfe. Diese Würdigung des Prozeßverhaltens des Klägers stellt einen Akt der Beweiswürdigung dar (Fasching, Komm III 248 und 249), der im Revisionsverfahren nicht geprüft werden darf. In diesem Zusammenhang liegt auch die geltend gemachte Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit; Fasching aaO IV 318f).

Die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht ist richtig (§ 48 ASGG). Selbst wenn man davon ausginge, daß der Kläger überwiegend als "Speiseaufseher und Tempeldiener" beschäftigt gewesen wäre, stünde damit noch keineswegs fest, daß er in einem angelernten Beruf iS des § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig gewesen wäre. Ein solcher liegt nämlich nur dann vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, die jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Daß ein "Speiseaufseher und Tempeldiener" eine solche Qualifikation haben müsse, wurde vom Kläger in seinen Rechtsmittel nie behauptet.

Er brachte nämlich in der Berufung dazu nur vor, daß diese Tätigkeiten eine gewisse "Präsenz" erforderten, welche nicht jede diesbezüglich unausgebildete Person zu erbringen in der Lage sei, und daß diese Tätigkeit nicht als ungelernte Arbeit qualifiziert werden könne, sondern als eine solche, die im Zusammenhang mit der Einhaltung religiöser Vorschriften und Gebote stehe und daher eine besondere Qualifikation erfordere. In der Revision führt der Kläger in diesem Zusammenhang aus, die Vorinstanzen hätten zu prüfen gehabt, ob ein Tempeldiener einer kleinen Religionsgemeinschaft tatsächlich lediglich Hilfsarbeitertätigkeiten ausführt. Tatsächlich sei die Tätigkeit eines sakralen Dieners, wenn dieser auch in untergeordneter Funktion im Rahmen der Betreuung der Gemeindemitglieder tätig sein möge, keine Tätigkeit, die schlechthin als jene eines Hilfsarbeiters zu qualifizieren sei, da sie nicht von jeder ungelernten Person ausgeübt werden könne, sondern gewisse Kenntnisse des Ritus und der Religionspflege bedürfe. Damit brachte der Rechtsmittelwerber aber lediglich zum Ausdruck, daß ein Tempeldiener nicht als einfacher Hilfsarbeiter anzusehen sei, nicht aber, daß es für diese Tätigkeit erforderlich sei, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind.

Aber selbst unter der vom Kläger nun behaupteten Annahme würde er nur dann als invalid iS des Abs 1 der zit Gesetzesstelle gelten, wenn seine festgestelltermaßen nur bezüglich schwerer Arbeiten und Arbeiten unter ständigem Zeitdruck eingeschränkte Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken wäre. Daß der Beruf eines "Speiseaufsehers und Tempeldieners" mit schweren Arbeiten und Arbeiten unter ständigem Zeitdruck verbunden wäre, wurde vom Kläger aber ebenfalls nicht behauptet.

Die geltend gemachten Revisionsgründe liegen somit nicht vor, weshalb der Revision nicht Folge zu geben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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