OGH 10ObS11/93

OGH10ObS11/9318.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hildegard S*****, diplomierte Krankenschwester, ***** vertreten durch Dr.Heinrich Keller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.November 1992, GZ 34 Rs 124/92-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau vom 26.März 1992, GZ 8 Cgs 154/91-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 23.August 1939 geborene Klägerin hat nach dem Besuch der Krankenpflegeschule in der Zeit vom 1.Oktober 1957 bis 26.September 1960 die vorgeschriebene Schlußprüfung als Krankenpflegerin bestanden und ist seither berechtigt, die Berufsbezeichnung diplomierte Krankenschwester zu führen und die Krankenpflege berufsmäßig auszuüben. Seit 26.September 1961 war sie im allgemeinen öffentlichen Krankenhaus der Stadt Eggenburg als Diplomkrankenschwester in der chirurgischen Ambulanz beschäftigt, die auch als Unfallambulanz dient. Aufgrund gesundheitsbedingter Einschränkungen ist sie nur mehr für leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten geeignet, wenn sie einem besonderen Zeitdruck (auch im Sinne von Band- und Akkordarbeit) nicht standhalten muß, exponierte Stellen gemieden werden und ein über eine gelegentliche Einwirkung hinausgehender Einfluß von Kälte, Nässe, Staub und Abgasen unterbleibt. Darüberhinaus muß sie Arbeiten meiden, die mit dauerndem Gehen verbunden sind, wobei diese Einschränkung für den Zeitraum vom 12.März bis 31.Dezember 1991 und darüberhinaus für die Dauer eines dreiviertel Jahres für den Fall gilt, daß es an der linken unteren Extremität zu einer weiteren Hallux-Valgus-Operation kommt. Die Klägerin darf nicht dem Einfluß von bronchialschleimhautschädigenden und reizenden Gasen und Dämpfen ausgesetzt sein, weil sie unter deren Einfluß gänzlich arbeitsunfähig wird. In allen Abteilungen eines Krankenhauses - mit Ausnahme des Verwaltungsbereiches - kommt es mehr oder minder zu intensivem Einsatz von Desinfektionsmitteln, die Formaldehyd beinhalten. Insbesondere trifft dies auf die Grobdesinfektion von Böden, Wandflächen und von Wäsche zu. Die dabei auftretenden Dämpfe bzw Gase müssen zumindest als atemreizend bezeichnet werden. Die Klägerin ist daher nicht mehr in der Lage, als Krankenschwester im Betrieb einer Krankenanstalt, eines Kur-, Alten- oder Rehabilitationsheimes zu arbeiten. Auch in Ambulatorien kann sie nicht verwendet werden.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten schuldig, der Klägerin ab dem 1.Jänner 1991 eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen und eine vorläufige Leistung im Ausmaß von 6.000 S monatlich zu erbringen. Es erachtete die Klägerin als berufsunfähig im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG, weil sie nicht mehr in der Lage sei, als Diplomkrankenschwester im Betrieb einer Krankenanstalt, eines Kur-, Alten- oder Rehabilitationsheimes oder in einem Ambulatorium zu arbeiten. Auch die Tätigkeit einer Werks- und Gemeindeschwester scheide aus. Die Tätigkeit einer "Sozialschwester in der Heimhilfe" komme für die Klägerin nicht in Betracht, weil die damit verbundenen Anforderungen das Leistungskalkül "mittelschwere Arbeiten" überschritten. Überdies seien mit dieser Tätigkeit Arbeiten an exponierten Stellen verbunden.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung von der beklagten Partei erhobenen Berufung in nichtöffentlicher Sitzung statt und änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Ob die vom Erstgericht - abweichend vom berufskundlichen Gutachten - getroffenen Feststellungen über das Anforderungsprofil im Beruf einer "Sozialschwester" zutreffen würden, könne offen bleiben. Die beklagte Partei mache nämlich in der Rechtsrüge zutreffend geltend, daß für die Klägerin auch eine Tätigkeit in der Krankenhausverwaltung in Betracht komme. In diesem Bereich kämen Tätigkeiten vor, für die in der Regel nur medizinisch Vorgebildete wie Krankenpfleger bzw. Krankenschwestern herangezogen würden. Durch eine solche Verweisung würde der Berufsschutz nicht verletzt. Im Verwaltungsbereich von Krankenanstalten sei der für die Klägerin schädliche Einfluß von Desinfektionsmitteln nicht gegeben. Das Leistungskalkül der Klägerin entspreche auch den Berufsanforderungen im Verwaltungsdienst einer Krankenanstalt. Deshalb sei die Klägerin nicht berufsunfähig im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist berechtigt.

Die Frage, welcher Berufsgruppe ein Versicherter angehört, welche anderen Berufe in dieser Berufsgruppe zur Verfügung stehen, welche Voraussetzungen für die Ausübung dieser Berufe erforderlich sind und mit welchen Anforderungen diese verbunden sind, ist eine Tatfrage. Sind diese Umstände nicht offenkundig (wovon für den Bereich der Krankenpflege nicht ausgegangen werden kann), so sind hierüber von den Tatsacheninstanzen Feststellungen zu treffen. Ausgehend von diesen Feststellungen, deren Überprüfung dem Revisionsgericht verwehrt ist, ist dann die Frage zu prüfen, ob die Verweisung eines Versicherten auf einen in Frage kommenden Beruf seiner Berufsgruppe zulässig ist.

Es trifft zu, daß der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung SSV-NF 5/94 die Verweisung eines Diplomkrankenpflegers auf Tätigkeiten in der Krankenhausverwaltung - Eintragung verschlüsselter Daten auf Diagnosezettel nach einem Codierungskatalog - für zulässig erachte. Dieser Entscheidung lag jedoch die dort von den Vorinstanzen getroffene Feststellung zugrunde, daß für diese Aufgaben in der Regel nur medizinisch Vorgebildete wie diplomierte Krankenpfleger bzw Krankenschwestern herangezogen werden; der Kläger hatte in diesem Fall diese Tätigkeit auch tatsächlich ausgeübt. Aus der Begründung dieser Entscheidung ist jedoch für die beklagte Partei nichts gewonnen. Solange eine Tatsache nicht aufgrund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen als offenkundig anzusehen ist, muß sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und aufgrund der von ihnen aufgenommenen Beweise neu festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung der Beweise zum Tragen kommen können (SSV-NF 5/38). Der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 29.September 1992, 10 Ob S 223/92, lagen die Feststellungen zugrunde, daß in Krankenanstalten strikt zwischen Verwaltungs- und Pflegepersonen unterschieden wird. Diplomiertes Krankenpflegepersonal ist demnach für die Tätigkeiten der Krankenhausverwaltung, auch für die Eintragung auf Diagnosezetteln nicht ausgebildet und wird hiefür auch nicht eingesetzt. Aus diesen Feststellungen, die der Entscheidung in der genannten Rechtssache zugrundezulegen waren, ergab sich, daß die in Frage stehende Tätigkeit in der Krankenhausverwaltung nicht der Berufsgruppe der diplomierten Krankenpfleger zuzuzählen sei. Daß auch diplomierte Krankenpfleger im Rahmen ihrer Tätigkeit bestimmte Aufzeichnungen zu führen haben, stehe dem nicht entgegen. Die Besorgung dieser Nebenaufgaben könne im Hinblick auf den Inhalt der Ausbildung und die Gesamtheit der Aufgaben des praktischen Krankenpflegedienstes nicht zur Folge haben, daß die Berufsgruppe der in dieser Sparte Beschäftigten mit der Berufsgruppe der ausschließlich mit administrativen Aufgaben befaßten Dienstnehmer gleichgestellt werde. Die Verweisung einer diplomierten Krankenschwester auf die Tätigkeit in der Krankenhausverwaltung wurde daher abgelehnt.

Die in der zuletzt genannten Entscheidung dargelegten Grundsätze gelten auch für den vorliegenden Fall. Nach den unbekämpft gebliebenen, jedoch vom Berufungsgericht nicht berücksichtigten Feststellungen des Erstgerichtes wäre die Tätigkeit einer Verwaltungsschwester der Klägerin zwar grundsätzlich zumutbar, jedoch erfordert eine solche Tätigkeit Ausbildungsinhalte, die mit der Berufsausbildung einer Diplomkrankenschwester nicht vermittelt werden. Darüber hinaus bedeutet eine derartige Verwendung eine Berufsentfremdung, weil die eigentlichen Inhalte der Tätigkeit einer diplomierten Krankenschwester nahezu völlig ausgeklammert sind. Eine derartige Tätigkeit muß im Sinne einer völligen Umstellung auf ein anderes Berufsbild betrachtet werden (Seite 9 des erstgerichtlichen Urteiles). Von diesen den Obersten Gerichtshof bindenden Tatsachenfeststellungen ausgehend, kommt ebenso wie im Fall der Entscheidung 10 Ob S 223/92 eine Verweisung der nunmehrigen Klägerin auf eine Tätigkeit in der Krankenhausverwaltung nicht in Betracht.

Der vom Erstgericht vernommene berufskundliche Sachverständige hat die Verweisung der Klägerin auf die Tätigkeit einer "Sozialschwester in der Heimhilfe" in Erwägung gezogen, weil bei dieser Tätigkeit der Einsatz von Desinfektionsmitteln so gestaltet werden könne, daß die in Krankenhäusern und Heimen auftretende gesundheitliche Beeinträchtigung, wie sie bei der Klägerin hiedurch manifest sei, ausgeschaltet werden könnte. In freier Beweiswürdigung von diesem Gutachten teilweise abweichend stellte das Erstgericht fest, daß auch eine "Sozialschwester in der Heimhilfe" exponierte Stellen ebensowenig ausschließen könne wie schwere körperliche Belastungen beim Aufrichten, Umbetten und bei der Mobilisierung von pflegebedürftigen Patienten. Entgegen dem Sachverständigengutachten werde bei der Tätigkeit einer solchen "Sozialschwester" das Limit von 25 kg Hebe- und Trageleistung überschritten. Es sei nicht einzusehen, warum eine "Sozialschwester" mit jenen muskulären Belastungen nicht konfrontiert sein solle, die auch eine diplomierte Krankenschwester regelmäßig und wiederkehrend auf sich zu nehmen habe, zumal pflegebedürftige Menschen noch viel weniger mobilisierbar seien als "Normalpatienten". Dieses vom Erstgericht angenommene Anforderungsprofil wurde von der beklagten Partei unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung bekämpft. Das Berufungsgericht setzte sich mit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung und deren Bekämpfung nicht inhaltlich auseinander, weil es das Anforderungsprofil im Beruf einer "Sozialschwester" für rechtlich unbeachtlich ansah. Diese Auffassung kann jedoch nicht geteilt werden, weil es vom Anforderungsprofil in diesem Beruf abhängt, ob die Klägerin darauf verwiesen werden kann. Das Urteil des Berufungsgerichtes leidet daher an einem Feststellungsmangel, der die rechtliche Beurteilung der Frage, ob die Klägerin als diplomierte Krankenschwester auf die Tätigkeit einer "Sozialschwester in der Heimhilfe" verwiesen werden kann, nicht zuläßt. Bei der Feststellung des Anforderungsprofils wird auch darauf Bedacht zu nehmen sein, daß die medizinische Hauskrankenpflege (§ 151 ASVG) durch diplomierte Krankenschwestern (bzw. diplomierte Krankenpfleger) erbracht wird, die auch "mobile Krankenschwestern" genannt werden und worunter diplomierte Krankenschwestern zu verstehen sind, die ihren Dienst nicht in einem Krankenhaus, sondern am jeweiligen Aufenthaltsort der Patienten (in Hauspflege) versehen (vgl. Berufslexikon Band 2 "Ausgewählte Berufe" 11.Auflage, 387 Stichwort "Mobile Krankenschwester"). Erst wenn das Anforderungsprofil auch einer solchen Krankenschwester feststeht, kann die rechtliche Zumutbarkeit der Verweisbarkeit der Klägerin auf eine solche Tätigkeit beurteilt werden.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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