OGH 15Os3/93

OGH15Os3/9311.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat am 11.Februar 1993 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Steininger als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner, Dr.Hager, Dr.Schindler und Mag.Strieder als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Zawilinski als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Alfred K* wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB, AZ U 209/91 des Bezirksgerichtes Tamsweg, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Vorgang, daß

1. die Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit eines Vertreters der öffentlichen Anklage durchgeführt,

2. das Urteil vor Rechtskraft gekürzt ausgefertigt und

3. den Parteien keine Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenanspruch des Sachverständigen gegeben wurde,

nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Hauptmann, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten Alfred K* und seines Verteidigers zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1993:0150OS00003.9300000.0211.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Alfred K* wegen des Vergehens nach § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB, AZ U 209/91 des Bezirksgerichtes Tamsweg, wurde das Gesetz verletzt

1. durch die Verhandlung und Urteilsfällung am 6.April 1992 in Abwesenheit eines Vertreters der öffentlichen Anklage in den Bestimmungen der §§ 31, 2.Satz, und 457 StPO (iVm §§ 77 Abs. 1447 Abs. 1, 448 StPO und 4 Abs. 1 StAG);

2. durch die Ausfertigung des Urteils vom 6.April 1992 in gekürzter Form vor dessen Bekanntmachung an den öffentlichen Ankläger, sohin vor Eintritt der Rechtskraft, in der Bestimmung des § 458 Abs. 3 StPO (iVm Abs. 2 dieser Gesetzesstelle);

3. durch die Unterlassung, dem öffentlichen Ankläger und dem Verteidiger vor der Bestimmung der Gebühren des Sachverständigen Dr.Ernst Schauer mit Beschluß vom 7.April 1992 (ON 7) unter Aushändigung oder Beischluß einer Ausfertigung des schriftlichen Gebührenantrags Gelegenheit zur Äußerung binnen einer angemessenen, vierzehn Tage nicht übersteigenden Frist zu geben, in der Vorschrift des letzten Satzes des § 39 Abs. 1 GebAG.

Diese Gesetzesverletzungen werden festgestellt.

 

 

Gründe:

 

Über den gegen Alfred K* wegen des Vergehens nach § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB (Straßenverkehrsunfall vom 27.September 1991) erhobenen Strafantrag des öffentlichen Anklägers wurde vom Bezirksgericht Tamsweg am 6.April 1992 an Ort und Stelle (auf der Katschberghöhe) die Hauptverhandlung durchgeführt. Laut Hauptverhandlungsprotokoll ON 5 nahmen daran zwar ‑ neben dem Vorsteher des Bezirksgerichtes als Verhandlungsrichter und der Schriftführerin ‑ der Beschuldigte und sein Verteidiger sowie der Vertreter des Privatbeteiligten, ferner ein Sachverständiger für Kraftfahrzeugtechnik und Straßenverkehr teil, nicht aber ein Vertreter der Anklagebehörde. Es gelangte lediglich ihr schriftlicher Strafantrag zur Verlesung (S 49 unten, siehe auch S 46 2. Abs.). Auch das Urteil, mit welchem der Beschuldigte wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 200 Schilling (Ersatzfreiheitsstrafe 20 Tage) verurteilt und dem Privatbeteiligten ein Betrag von 5.000 S an Schmerzengeld zugesprochen wurde, wurde in Abwesenheit eines Anklagevertreters gefällt; ferner wurde der Beschluß auf Bestimmung der Pauschalkosten mit 1.200 S verkündet. Im Hauptverhandlungsprotokoll sind Rechtsmittelerklärungen zum Urteil und zum Kostenbestimmungsbeschluß nicht festgehalten (S 51). Der gekürzten Urteilsausfertigung (ON 6), die unter Heranziehung eines der Rechtslage vor Inkrafttreten des Strafrechtsänderungesetzes 1987, BGBl. 605, entsprechenden Formulars U7 (Protokolls‑ und Urteilsvermerk) hergestellt wurde, ist hingegen zu entnehmen, daß der Beschuldigte und sein Verteidiger zwar zum ‑ auch in weiterer Folge vom Beschuldigten nicht angefochtenen ‑ Urteil keine Erklärung abgaben, jedoch zum Kostenbestimmungsbeschluß "beiderseits" (womit der auch nach Inhalt der ON 6 abwesende öffentliche Ankläger jedenfalls nicht gemeint sein kann) auf Beschwerde verzichtet wurde (S 54 f). Unter die letzte Seite des Hauptverhandlungsprotokolles, welche neben dem Pauschalkostenbestimmungsbeschluß nur eine schlagwortartige Wiedergabe von die Tat nicht iS des § 260 Abs. 1 Z 1 StPO individualisierenden Teilen des Urteilsspruchs enthält ("Schuldspruch gem. § 88/1 u. 4 StGB, Geldstrafe 40 TS   S 200,‑‑, d.s. S 8.000,‑‑, im Uneinbringlichkeitsfalle 20 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, Zuspruch von S 5.000,‑- an den Pb F*"), wurde vom Bezirksanwalt am 7.April 1992 der Vermerk "Gesehen" gesetzt (S 51 unten). Ein gleichartiger Vermerk, allerdings datiert mit 19.Mai 1992, findet sich auf der letzten Seite des in gekürzter Form ausgefertigten Urteiles (S 55 unten). Wie insbesondere aus der bereits am 13.April 1992 getroffenen Endverfügung (S 56) ersichtlich ist, ging der Verhandlungsrichter schon bei Ausfertigung des Urteils (ON 6) von dessen Rechtskraft ab 10.April 1992, also drei Tage nach Einsicht des Bezirksanwaltes in das Hauptverhandlungsprotokoll (S 51 unten) ‑ welchem das Urteil allerdings nicht im Sinne des § 458 Abs. 1 StPO einverleibt oder beigelegt war ‑ aus.

Mit Beschluß vom 7.April 1992 (ON 7) wurden die Gebühren des Sachverständigen für Kraftfahrzeugtechnik und Straßenverkehr Dr.Ernst Schauer für die Teilnahme an der Hauptverhandlung vom 6.April 1992 antragsgemäß mit dem Betrag von 2.458 S bestimmt und angewiesen; aus dem Akteninhalt ergibt sich jedoch nicht, daß zuvor dem Ankläger und dem Verteidiger Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenantrag des Sachverständigen (S 58) gegeben wurde.

Der Bezirksanwalt hat auf Beschwerde gegen den ihm zur Einsicht zugestellten Gebührenbeschluß noch am 7.April 1992 verzichtet ("BV" S 57 unten). Für die in der Zustellverfügung gleichfalls ‑ ohne die nach § 40 Abs. 1 Z 2 GebAG gebotene Beachtung der Vertretung durch einen Verteidiger ‑ angeordnete Zustellung an den Beschuldigten findet sich kein Nachweis in den Akten; Strafe, Pauschalkosten und Sachverständigengebühr wurden jedoch dem am Aktendeckel befestigten Erlagscheinabschnitt der PSK zufolge am 26.Mai 1992 bezahlt.

 

Rechtliche Beurteilung

Durch das Vorgehen des Bezirksgerichtes Tamsweg wurde das Gesetz mehrfach verletzt:

Die Durchführung der Hauptverhandlung am 6.April 1992 in Abwesenheit eines Vertreters der öffentlichen Anklage verletzte das dem Staatsanwalt gemäß § 31, 2. Satz, StPO zustehende Recht, sich auch an den vor den vor die Bezirksgerichte gehörigen Verhandlungen persönlich oder durch einen Stellvertreter zu beteiligen. Die Ausübung dieses Rechtes konnte nicht durch die (gerichtliche) Verlesung des schriftlichen Strafantrages ersetzt werden, zumal gemäß § 457 StPO im bezirksgerichtlichen Verfahren dem Ankläger nicht nur der Vortrag der Anklage, sondern auch die Stellung weiterer Anträge (einschließlich des Schlußantrages) zukommt (vgl. auch §§ 3, 465 Abs. 1 StPO). Die Anwesenheit des Anklägers bei der Urteilsverkündung wurde vom Prozeßgesetzgeber als derartige Selbstverständlichkeit angesehen, daß eine ausdrückliche Regelung des Beginns des Fristenlaufes für die Rechtsmittelanmeldung nur für den bei Verkündung des Urteiles nicht anwesenden Angeklagten, nicht jedoch für den Fall der Abwesenheit des Anklägers getroffen wurde (§ 466 Abs. 2 StPO). Ist daher ein Vertreter der öffentlichen Anklage zur Hauptverhandlung über ein Offizialdelikt vor dem Bezirksgericht nicht erschienen, dann darf die Verhandlung nicht durchgeführt werden. Vielmehr ist mit Vertagung vorzugehen, sofern nicht aufgrund einer Anzeige des Verhandlungsrichters nach § 27 StPO der Leiter der Staatsanwaltschaft bei dem in Strafsachen tätigen Gerichtshof erster Instanz, der gemäß § 31, 2.Satz, StPO auch die Anklagevertretung vor den Bezirksgerichten im Sprengel dieses Gerichtshofes ‑ in der Regel durch von Staatsanwälten beaufsichtigte und geleitete Bezirksanwälte (§§ 447 Abs. 1, 448 StPO, 4 StAG; siehe auch §§ 41 Abs. 1 und 44 Abs. 2 DV‑StAG) ‑ obliegt, noch rechtzeitig einen (allenfalls nach § 4 Abs. 3 StAG ad hoc bestellten) Anklagevertreter zu entsenden vermag (vgl. Foregger‑Serini‑Kodek StPO5 Erl. II; Mayerhofer‑Rieder StPO3 ENr. 4 je zu § 31; ENr. 15 zu § 276 und ENr. 2 zu § 457 mwN).

Der dem Bezirksgericht unterlaufene Verstoß brachte es ferner mit sich, daß das Urteil dem öffentlichen Ankläger nicht auf die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Art, nämlich durch mündliche Verkündung vor Gericht, bekanntgemacht wurde. Die Bekanntmachung im Sinne des § 77 Abs. 1 StPO an den öffentlichen Ankläger erfolgte vielmehr erst durch die Zustellung der Urschrift (§ 78 StPO) des allerdings nur in gekürzter Form (§ 458 Abs. 3 StPO) ausgefertigten Urteiles. Da bis dahin der Lauf der Berufungsfrist für den öffentlichen Ankläger noch gar nicht begonnen hatte, war allerdings diese Form der Ausfertigung nicht zulässig, weil sie nach § 458 Abs. 3 StPO nur bei Erfüllung der im ersten Satz des 2. Absatzes dieser Gesetzesstelle bezeichneten Voraussetzungen in Betracht kommt, zu welchen auch der Verzicht auf alle Rechtsmittel oder die Unterlassung ihrer Anmeldung innerhalb der hiefür offenstehenden Frist durch alle Parteien gehört.

Überdies wurde dadurch, daß es unterlassen wurde, vor der Bestimmung der Sachverständigengebühren dem öffentlichen Ankläger und dem Verteidiger (§ 40 Abs. 1 Z 2 GebAG) unter Aushändigung oder Beischluß von Ausfertigungen des schriftlichen Gebührenantrags Gelegenheit zur Äußerung binnen einer angemessenen, vierzehn Tage nicht übersteigenden Frist zu geben, der Vorschrift des letzten Satzes des § 39 Abs. 1 GebAG nicht entsprochen.

Da es nach der Aktenlage an Anhaltspunkten dafür fehlt, daß der Angeklagte durch die aufgezeigten Verstöße, insbesondere durch das unter selbstherrlicher Mißachtung einer Reihe von Prozeßvorschriften zustandegekommene Urteil vom 6.April 1992, das indes sachlich richtig ist, einen Nachteil erlitten haben könnte, der im Wege des letzten Satzes des § 292 StPO zu beseitigen wäre, konnte es allerdings mit der Feststellung der Gesetzesverletzungen sein Bewenden haben.

 

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