OGH 4Ob543/92

OGH4Ob543/9229.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof. Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr.Gamerith, Dr.Kodek, Dr.Niederreiter und Dr.Redl als weitere Richter in der Familienrechtssache (Scheidung nach § 55 a EheG) des Erstantragstellers Reinhard H*****, vertreten durch Dr.Rose-Marie Rath, Rechtsanwältin in Wien, und der Zweitantragstellerin Mag.Gerlinde ***** H*****, vertreten durch Dr.Helene Klaar, Rechtsanwältin in Wien als einstweilige Sachwalterin, infolge Revisionsrekurses des Erstantragstellers gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 11.März 1992, GZ 47 R 109/92-45, womit infolge Rekurses der Zweitanstragstellerin der Beschluß des Bezirksgerichtes Klosterneuburg vom 4.September 1984, GZ Sch 37/84-2, einschließlich des gesamten vorangegangenen Verfahrens als nichtig aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben; dem Rekursgericht wird die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Zweitantragstellerin aufgetragen.

Text

B e g r ü n d u n g:

Die Ehe zwischen dem Revisionsrekurswerber ("Erstantragsteller" =

geschiedener Ehemann) und seiner Frau ("Zweitantragstellerin" =

geschiedene Ehefrau) wurde nach Abschluß einer Vereinbarung im Sinne des § 55a Abs 2 EheG mit Beschluß des Erstgerichtes vom 4.9.1984 gemäß § 55a Abs 1 EheG geschieden. Der Beschluß wurde in Anwesenheit beider Parteien mündlich verkündet. Die Antragsteller verzichteten auf Rechtsmittel. Die für die Zweitantragstellerin bestimmte Beschlußausfertigung wurde am 20.9.1984 dem Erstantragsteller zugestellt; daß sie der Zweitantragstellerin noch vor dem 1.10.1984 zugekommen ist, ergibt sich aus dem Personalakt der Zweitantragstellerin, wonach die Direktion des Akademischen Gymnasiums in Wien am 1.10.1984 die von der Zweitantragstellerin vorgelegte Scheidungsurkunde an den Stadtschulrat für Wien weitergeleitet hat.

Am 14.10.1990 - also mehr als sechs Jahre später - erhob die Zweitantragstellerin gegen den Scheidungsbeschluß des Erstgerichtes Rekurs. Sie sei im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung infolge eines schweren psychischen Leidens (chronische rezidivierende Depressionen mit massivem Zwangssyndrom und teilweiser schizoider Affekte) weder prozeß- noch handlungsfähig gewesen; der erstgerichtliche Beschluß sei daher nichtig. Der Rekurs sei rechtzeitig.

Mit Beschluß vom 3.12.1991 bestellte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien für die Zweitantragstellerin eine einstweilige Sachwalterin, welche dem Rekurs der Zweitantragstellerin beigetreten ist.

Das Rekursgericht hob den Beschluß des Erstgerichtes und das diesem Beschluß vorangegangene Verfahren als nichtig auf; es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Das Rekursgericht folgte dem Gutachten des vom Erstgericht (im Zwischenverfahren) bestellten Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie, wonach die Zweitantragstellerin seit dem 7.Lebensjahr leicht und seit dem 12.Lebensjahr immer wieder schwer psychisch krank war. Dies habe zu wiederholten stationären Aufenthalten an der psychiatrischen Universitätsklinik des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien geführt. Im Zeitpunkt der Scheidung habe sich die Zweitantragstellerin in einer leichten manischen Phase befunden; dadurch sei sie krankhaft sorglos-optimistisch geworden. In dieser Zeit sei sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in der Lage gewesen, die Sachverhalt ihrer Scheidung zu erfassen und gehörig zu verarbeiten.

Die Ehefrau sei daher im Zeitpunkt des Scheidungsverfahrens (Protokollarantrag vom 4.9.1984, über welchen am selben Tag entschieden wurde) nicht prozeßfähig gewesen; daher sei die Entscheidung nichtig. Auch die Zustellung der Entscheidung an die Zweitantragstellerin sei somit rechtsunwirksam gewesen und habe die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt. Daran hätte sich auch dann nichts mehr ändern können, wenn die Rekurswerberin später wieder prozeßfähig geworden wäre.

Der Erstantragsteller bekämpft diesen Beschluß mit außerordentlichem Revisionsrekurs wegen Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens. Er beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und der zweiten Instanz eine neuerliche Entscheidung aufzutragen; hilfsweise stellt er den Antrag, die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Die Zweitantragstellerin beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Rechtsansicht der zweiten Instanz, daß die Prozeßunfähigkeit der Ehefrau im Zeitpunkt des Ausspruches der Ehescheidung auch die Rechtsunwirksamkeit der Zustellung der Entscheidung an sie nach sich ziehe, unrichtig ist.

Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die zweite Instanz hat sich darauf beschränkt, die Prozeßfähigkeit der geschiedenen Ehefrau im Zeitpunkt der Ehescheidung (4.9.1984) und im gegenwärtigen Zeitpunkt durch Einholen eines schriftlichen Gutachtens eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie (im Zwischenverfahren) zu klären. Gegen dieses Gutachten hat der geschiedene Ehemann umfangreiche Einwendungen erhoben; er hat dabei angebliche Widersprüche aufgezeigt und eine Ergänzung des Gutachtens durch denselben Sachverständigen oder die Bestellung eines anderen Sachverständigen beantragt. Das Rekursgericht hat sich mit den behaupteten Mängeln des Gutachtens überhaupt nicht auseinandergesetzt, obwohl dies im Hinblick auf die schwerwiegenden Konsequenzen der Annahme einer (vor sieben Jahren eingetretenen!) Prozeßunfähigkeit dringend geboten gewesen wäre. Der Sachverständige hat aus dem Vorliegen einer (nur!) leichten manischen Phase der geschiedenen Ehefrau den Schluß gezogen, daß sie "krankhaft sorglos-optimistisch wurde und in diesem Rahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich nicht mehr in der Lage war, die Sachverhalte ihrer Scheidung gehörig zu erfassen und gehörig zu verarbeiten".

Der als Zeuge vernommene Eheberater Dr.Karl Panzenbeck (ebenfalls Facharzt für Psychiatrie und Neurologie), welcher als psychiatrischer Berater der Familienberatungsstelle der Stadt Wien mit den Streitteilen in der Zeit zwischen dem 9.5. und dem 1.8.1984 eine Ehetherapie durchführte und daher den damaligen Geisteszustand der Zweitantragstellerin aus eigener Wahrnehmung kannte, meinte hingegen, daß die Ehefrau in der Lage gewesen sei, die Tragweite von Entscheidungen und insbesondere von Vereinbarungen im Zusammenhang mit der Ehescheidung abzuschätzen und danach zu handeln. Mit dieser Meinung hat sich der bestellte Sachverständige nicht auseinandergesetzt. Die Beurteilung des Geisteszustandes der Ehefrau durch den sachverständigen Zeugen läßt sich mit der Tatsache, daß sie von 1983 bis 1986 - wenn auch mit krankheitsbedingten Unterbrechungen - als Vertragslehrerin an einer allgemein bildenden höheren Schule unterrichtete, und mit dem Eindruck, den die vom Erstgericht vernommenen Auskunftspersonen (welche allerdings Laien sind) von ihrem Geisteszustand gewonnen haben, viel eher in Einklang bringen als das Gutachten des Sachverständigen. Diesem Gutachten ist auch nicht zu entnehmen, was er unter den "Sachverhalten der Scheidung", welche die Ehefrau nicht gehörig erfaßt haben soll, versteht. Davon, daß die Ehefrau die tatsächlichen Vorgänge während der Scheidungsverhandlung nicht erfaßt hätte, kann schon nach ihrem eigenen Vorbringen keine Rede sein. Eine Fehlbeurteilung der Rechtsfolgen, die ja auch geistig gesunden Parteien häufig unterläuft ("Rechtsfolgenirrtum"), könnte aber die Annahme der Prozeßunfähigkeit nur rechtfertigen, wenn sie entscheidend durch einen regelwidrigen Geisteszustand ausgelöst worden wäre.

Angesichts dieser Auffälligkeiten ist die Beiziehung eines zweiten medizinischen Sachverständigen erforderlich. Das Rekursverfahren leidet damit an einem Mangel, welcher, ohne Nichtigkeit zu begründen, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern geeignet ist (§ 15 Z 1 AußStrG).

Sollte die zweite Instanz die Prozeßunfähigkeit der geschiedenen Ehefrau am 4.9.1984 annehmen, dann wird sie auch zu prüfen haben, ob dieser Mangel nicht bereits bei der Zustellung der Entscheidung oder später weggefallen ist und dadurch die Rekursfrist in Lauf gesetzt wurde. Falls der von der Zweitantragstellerin erklärte Rechtsmittelverzicht wegen Prozeßunfähigkeit unwirksam war, stand ihr für die Anfechtung des Beschlusses des Erstgerichtes die 14tägige Rekursfrist ab Zustellung des Scheidungsbeschlusses (§ 11 Abs 3 AußStrG) offen, da dieser mangels Verzichtes auf die Zustellung einer Beschlußausfertigung jedenfalls noch nicht mit der mündlichen Verkündung wirksam geworden war (vgl für das Streitverfahren RZ 1980/56 = SZ 52/68).

Auch wenn die Ersatzzustellung an den geschiedenen Ehemann nicht zulässig gewesen wäre - § 16 Abs 4 ZustG enthält diesbezüglich nur unzureichende Bestimmungen, welche entgegen dem früheren § 103 Abs 3 ZPO, der im Außerstreitverfahren sinngemäß anzuwenden war (Fasching II 586) eine Verfügung der Zustellbehörde voraussetzen (vgl Walter-Mayer, Zustellrecht 95) -, ist der Scheidungsbeschluß der Zweitantragstellerin jedenfalls zwischen dem 20.9. und dem 1.10.1984 tatsächlich zugekommen. Da sich das Gutachten des Sachverständigen entsprechend dem Auftrag des Gerichtes nur auf den Zeitpunkt der Ehescheidung bezieht, steht nicht fest, ob die leichte manische Störung - welche ja nach dem gesamten Krankheitsbild des in Schüben verlaufenden Leidens der geschiedenen Ehefrau bereits abgeklungen gewesen sein konnte - in der fraglichen Zeit überhaupt noch bestanden hat. Es läßt sich daher nicht beurteilen, ob der Scheidungsbeschluß der Zweitantragstellerin nicht ohnehin wirksam zugestellt worden ist.

War hingegen die geschiedene Ehefrau im Zeitpunkt der Zustellung noch prozeßunfähig, dann war auch die Zustellung der Entscheidung an sie unwirksam. Zu prüfen ist aber, ob eine Heilung möglich war. Unterlaufen bei einer Zustellung Mängel, so gilt sie gemäß § 7 ZustG (der an die Stelle des früheren ähnlich gefaßten § 108 ZPO getreten ist) als in dem Zeitpunkt vollzogen, in dem das Schriftstück der Person, für die es bestimmt ist (Empfänger), tatsächlich zugekommen ist. Während der Oberste Gerichtshof im Fall der Zustellung eines Schriftstücks an einen Minderjährigen eine Sanierung der Zustellung im Zeitpunkt der Volljährigkeit des Empfängers mit der Begründung abgelehnt hat, daß es sich nicht um eine mangelhafte, sondern um eine Falschzustellung gehandelt habe (SZ 46/13; vgl auch Fasching II 598), hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 21.6.1957, Zl 1294/55 (siehe Walter-Mayer aaO 42) ausgesprochen, daß eine Zustellung an einen geisteskranken Adressaten nach Wegfall der Geisteskrankheit saniert wird.

Dem kann in dieser Allgemeinheit freilich nicht gefolgt werden: Der Gesetzgeber begnügt sich bei Zustellungen mit dem tatsächlichen Zukommen des Schriftstücks, weil er es für die Wirkung der Zustellung nicht in das Belieben des Empfängers stellen kann, ob dieser gewillt ist, davon auch tatsächlich Kenntnis zu nehmen. Im Regelfall wird mit dem tatsächlichen Zukommen die Möglichkeit der Kenntnisnahme geschaffen. Im Fall der Zustellung an einen Prozeßunfähigen ist hingegen diesem zwar das Schriftstück "tatsächlich zugekommen", die Zustellung aber deshalb unwirksam, weil sie vom Prozeßunfähigen (wegen seines Geisteszustandes) nicht zur Kenntnis genommen werden kann. Mit dem Wegfall der Prozeßunfähigkeit besteht beim Empfänger der Sendung wiederum die Möglichkeit der Kenntnisnahme; sie setzt jedoch das Bewußtsein voraus, daß ihm die betreffende Sendung bereits zugekommen ist. An das Wiedererlangen der Prozeßfähigkeit wird daher nicht ohne weiteres die Rechtsfolge des Beginns des Laufes der Rechtsmittelfrist zu knüpfen sein. Bei der Rekurswerberin könnte aber diese Voraussetzung durchaus gegeben sein: Die vom Rekursgericht angenommene Prozeßunfähigkeit beruht ja nur darauf, daß sie die Folgen der Ehescheidung wegen der leichten manischen Störung "krankhaft sorglos-optimistisch" beurteilte. Daß sie die tatsächlichen Vorgänge während der Scheidungsverhandlung nicht erfaßt hätte, behauptet sie - wie bereits erwähnt - gar nicht. Daß eine Scheidung ausgesprochen wurde, dürfte ihr stets bewußt gewesen sein, hat sie doch die Scheidungsurkunde (Ende September 1984) ihrem Dienstgeber vorgelegt, in mehreren Bewerbungen (19.9.1984; 18.2.1985) auf das Datum ihrer Ehescheidung verwiesen, am 7.1.1985 wegen der finanziellen Krise, in die sie infolge ihrer einvernehmlichen Ehescheidung (Anschaffung von Wohnung und Mobiliar) geraten sei, um Zuteilung weiterer Unterrichtsstunden gebeten und die mit dem geschiedenen Ehemann getroffenen Vereinbarungen auch tatsächlich vollzogen.

Damit konnte aber die Rekursfrist nach Abklingen der leichten manischen Störung in Lauf gesetzt und vor einem neuerlichen, Prozeßunfähigkeit bewirkenden Krankheitsschub abgelaufen sein. Auch zu dieser Frage wird das Rekursgericht gegebenenfalls die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.

Die Entscheidung der zweiten Instanz war daher aufzuheben.

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