OGH 10ObS206/92

OGH10ObS206/9229.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Friedrich Weinke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Wilhelm Patzold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Waltraud H*****, Pensionistin, ***** vertreten durch den Sachwalter Mag.Josef Haller, 2100 Korneuburg, Kwizdastraße 13/12, dieser vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Waisenpension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30.April 1992, GZ 32 Rs 140/91-10, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 28.Mai 1991, GZ 12 Cgs 52/91-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß:

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 31.Mai 1957 geborene Klägerin begann im Jahr 1972 eine Friseurlehre, die sie jedoch nicht abschloß. Auf Grund einer Geisteskrankheit (Legierungspsychose, manisch-depressive Krankheit) wurde ihr mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 24.September 1975 ab 1.September 1975 eine Invaliditätspension wegen vorübergehender Invalidität gemäß § 254 ASVG zuerkannt. Eine Entziehung dieser Invaliditätspension erfolgte bis zum heutigen Tag nicht. Eine Besserung des Gesundheitszustandes der Klägerin ist nicht in Sicht. Am 8.Februar 1991 wurde ihr Vater, Josef H*****, tot aufgefunden. Als Todestag wurde der 8.Februar 1991 festgesetzt.

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 13.März 1991 wurde der Antrag der Klägerin vom 27. Februar 1991 auf Gewährung der Waisenpension über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus gemäß § 260 ASVG in Verbindung mit § 252 Abs 2 ASVG abgewiesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren auf Gewährung der Waisenpension über das 18. Lebensjahr hinaus. Die Klägerin sei seit ihrem 15.Lebensjahr infolge Krankheit nur beschränkt arbeitsfähig gewesen und seit ihrem 18.Lebensjahr vollkommen erwerbsunfähig gewesen. Auf Grund ihres Krankheitsbildes (Depressionen, Manie, Debilität, Ängstlichkeit usw.) habe die Berufsausbildung abgebrochen werden müssen. Die Klägerin sei nicht in der Lage gewesen, einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen. Im Jahr 1977 sei sie wegen Geistesschwäche bzw. -krankheit entmündigt worden.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Die Klägerin beziehe seit 1.September 1975, also drei Monate nach Vollendung des 18. Lebensjahres, eine Invaliditätspension und sie sei zum Zeitpunkt der Vollendung des 18.Lebensjahres noch nicht dauernd erwerbsunfähig gewesen. Sobald die Erwerbsunfähigkeit erst nach dem 18.Lebensjahr auftrete, lebe die Kindeseigenschaft nicht mehr auf.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach dem klaren Wortlaut des § 252 Abs 2 Z 2 ASVG müsse die Erwerbsunfähigkeit seit der Vollendung des 18.Lebensjahres bestehen. Die Klägerin habe das 18. Lebensjahr am 31.Mai 1975 vollendet, die Invaliditätspension sei ihr aber erst ab dem 1.September 1975 zugesprochen worden. Daraus ergebe sich eindeutig, daß sie zum Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres noch nicht dauernd erwerbsunfähig gewesen sei. Aus dem Gewährungsdatum der Invaliditätspension mit 1.September 1975 ergebe sich, daß vor diesem Zeitpunkt keine um mehr als 50 % geminderte Arbeitsfähigkeit vorgelegen sei und damit auch keine dauernde Erwerbsunfähigkeit. Trete die Erwerbsunfähigkeit erst nach Vollendung des 18.Lebensjahres ein, komme es nicht zu einem Wiederaufleben der Kindeseigenschaft.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Invaliditätspension stelle einen Ersatz des Erwerbseinkommens dar. Ein Wiederaufleben der Kindeseigenschaft wegen späteren Wegfalls der Selbsterhaltungsfähigkeit infolge mit ihrem Beginn in die Zeit vor Vollendung des 18.Lebensjahres zurückreichender Krankheit oder Gebrechens sei im Gesetz nicht vorgesehen. Der Anspruch auf Waisenpension neben der Invaliditätspension sei daher zu verneinen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Nach § 260 ASVG haben die Kinder im Sinn des § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG Anspruch auf Waisenpension nach dem Tod des (der) Versicherten. Über das vollendete 18.Lebensjahr hinaus wird Waisenpension nur auf besonderen Antrag gewährt. Nach § 252 Abs 2 Z 2 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in Ziffer 1 genannten Zeitraumes (Schul- oder Berufsausbildung) infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist. Diese seit 1.Jänner 1973 geltende Fassung der zitierten Bestimmung nach der 29.ASVG-Novelle BGBl. 1973/31 unterscheidet sich wesentlich von jener des Stammgesetzes und der späteren Fassung durch die 9.ASVG-Novelle BGBl. 1962/13: Danach bestand Kindeseigenschaft über das 18.Lebensjahr, wenn das Kind "wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen dauernd außerstande" war, "sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ...........". Dieser Wortlaut ließ noch eine deutliche Annäherung an die zivilrechtliche Unterhaltsregelung erkennen. In den Erläuterungen der Regierungsvorlage zur 29.ASVG-Novelle hieß es denn auch: "Nach gegenwärtiger Rechtslage gilt das Kind nur dann als Angehöriger des oder der Versicherten, wenn eine Unterhaltsberechtigung nach bürgerlichem Recht gegeben ist. Die Feststellung der Angehörigeneigenschaft erfordert daher in allen Fällen die Prüfung der Einkommensverhältnisse beider (versicherter) Elternteile. Dies bedeutet nicht nur eine administrative Erschwernis und unter Umständen eine Verzögerung in der Leistungsgewährung, sondern führt auch in vielen Fällen zu unbilligen Härten. Dies vor allem, wenn die Unterhaltsleistung des nicht versicherten Elternteiles überwiegt" (404 BlgNR 13. GP 88). Wenngleich die Motivation des Gesetzgebers für die Waisenpension darin erblickt werden kann, jenen Kindern, deren Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern infolge deren Todes weggefallen ist, einen angemessenen Ersatz zu verschaffen (vgl SSV-NF 4/29), sind bürgerlich-rechtliche Vorschriften über die Unterhaltsberechtigung des Kindes zur Auslegung des § 252 Abs 2 Z 2 ASVG nicht heranzuziehen, weil das Gesetz bewußt die Kindeseigenschaft als Voraussetzung für die Gewährung der Waisenpension anders regelt. Voraussetzung für die Annahme der Kindeseigenschaft über das 18.Lebensjahr hinaus ist nach der zitierten Gesetzesstelle die Erwerbsunfähigkeit auf Grund geistiger oder körperlicher Gebrechen. Diese liegt vor, wenn jemand wegen des nicht nur vorübergehenden Zustandes der körperlichen und geistigen Kräfte und nicht etwa nur wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarktes oder wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen (Teschner in MGA ASVG 49. ErgLfg. 742/4 Anm 20 a zu § 123). Hiebei muß es sich keineswegs um eine "dauernde" Erwerbsunfähigkeit im Sinn des Versicherungsfalles der dauernden Erwerbsunfähigkeit nach § 133 GSVG handeln (dazu SSV-NF 5/63). Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach der hier maßgeblichen Gesetzesstelle kommt es also darauf an, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen kann. Ob dies infolge Krankheit oder Gebrechens unmöglich ist, muß ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten und ohne Bedachtnahme darauf beurteilt werden, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch - etwa auf Kosten seiner Gesundheit - weiterhin ein Einkommen aus unselbständiger oder selbständiger Tätigkeit bezieht (vgl. OLG Wien SSV 24/137; OLG Linz SVSlg 33.001 = 33.045; OLG Innsbruck SVSlg 33.046).

Im vorliegenden Fall wurde nicht hinreichend geprüft, ob die Klägerin seit der Vollendung des 18.Lebensjahres infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist. Die Ansicht der Vorinstanzen, aus der Gewährung der Invaliditätspension erst ab einem Zeitpunkt, der drei Monate nach Vollendung des 18.Lebensjahres liegt, ergebe sich, daß die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin nicht seit der Vollendung des 18. Lebensjahres vorliegen könne, sondern erst später eingetreten sein müsse, stellt sich als ein Tatsachenschluß von dem Zeitpunkt der gewährten Invaliditätspension auf die Erwerbsfähigkeit vor diesem Zeitpunkt dar, der in dieser Form nicht zulässig ist (vgl OLG Wien SSV 19/139). Ist eine Erwerbstätigkeit nur möglich, wenn dadurch der Leidenszustand negativ beeinflußt wird, oder wenn etwa der Dienstgeber dem Erwerbstätigen über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen entgegenkommt, so kann dennoch Erwerbsunfähigkeit vorliegen, wenn die Erwerbstätigkeit dem Versicherten unter Berücksichtigung seines Leidenszustandes nicht zumutbar ist. Die Beschäftigung der Klägerin vor dem 18.Lebensjahr mag daher ein Indiz für ihre Erwerbsfähigkeit darstellen, ein direkter Schluß ist hier aber schon deshalb nicht zulässig, weil die Klägerin behauptet hat, sie habe ihre Berufsausbildung auf Grund ihres Krankheitsbildes abbrechen müssen und sei auch danach nie in der Lage gewesen, einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen, befinde sich vielmehr seit ihrem 15.Lebensjahr ständig in psychiatrischer Behandlung. Diesem Vorbringen haben die Vorinstanzen lediglich entgegengehalten, daß die Klägerin seit 1.September 1975 eine Invaliditätspension beziehe und daraus den Schluß gezogen, daß sie vor diesem Zeitpunkt erwerbsfähig gewesen sein müsse. Dieser Schluß ist aber, wie bereits oben dargelegt, unzulässig.

Dem Gesetz läßt sich nicht entnehmen, daß der Bezug einer Invaliditätspension die Gewährung einer Waisenpension überhaupt ausschlösse (zutreffend OLG Wien SSV 19/139, 24/137). Wie der erkennende Senat etwa bereits in der zu § 252 Abs 2 Z 1 ASVG ergangenen Entscheidung SSV-NF 1/39 ausgeführt hat, berühren neben der die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte jeglicher Art weder den Grund noch die Höhe des Anspruches auf Waisenpension, sondern wirken sich allenfalls darauf aus, ob das waisenpensionsberechtigte Kind Anspruch auf die Ausgleichszulage hat. An dieser Ansicht wurde in der Folge festgehalten und zuletzt ausgesprochen, daß (nur) dann kein Anspruch auf Waisenpension über das 18.Lebensjahr hinaus bestehe, wenn die Nettolehrlingsentschädigung deutlich über dem Ausgleichszulagenrichtsatz liege (SSV-NF 5/56 mit weiteren Nachweisen). Anderseits wäre es auch durchaus denkbar, daß der Klägerin die Invaliditätspension zu Unrecht gewährt worden wäre, weil sie möglicherweise niemals in der Lage war, durch eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§ 255 Abs 3 ASVG). Bestand nämlich schon bei Antritt der Arbeit die Gewißheit, daß durch diese schon nach kürzester Zeit Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Invalidität oder Berufsunfähigkeit eintreten wird, so entsteht kein Anspruch auf die Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension, wenn dieser Zustand in der Folge tatsächlich eintritt (SSV-NF 4/60 = SZ 63/61). Auch diese Erwägung zeigt, daß der bloße Bezug der Invaliditätspension ab 1.September 1975 die Kindeseigenschaft der Klägerin über das 18.Lebensjahr hinaus nicht auszuschließen vermag, ganz unabhängig davon, daß ihr diese Invaliditätspension wegen vorübergehender Invalidität gewährt wurde, was nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG erst ab der 27.Woche ihres Bestandes möglich war. In diesem Fall muß die Invalidität der Klägerin lange vor Vollendung ihres 18.Lebensjahres eingetreten sein.

Da Feststellungen über die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin infolge Krankheit oder Gebrechens seit der Vollendung des 18.Lebensjahres fehlen, ist die Sache nicht spruchreif. Da es offensichtlich einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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