OGH 2Ob12/92

OGH2Ob12/9229.4.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber, Dr.Kropfitsch, Dr.Zehetner und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Bernd R*****, vertreten durch Dr.Stefan Herdey und Dr.Roland Gsellmann, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Verband *****, vertreten durch Dr.Erwin Bajc und Dr.Peter Zach, Rechtsanwälte in Bruck/Mur, wegen S 113.340 sA (Revisionsinteresse S 79.605,10 sA) infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 19.November 1991, GZ 5 R 127/91-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 11.Februar 1991, GZ 16 Cg 290/89-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 5.094 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 849 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger lenkte seinen PKW am 4.4.1989 um 9.15 Uhr mit etwa 100 km/h von einem Autobahnzubringer auf einen Beschleunigungsstreifen der Autobahn, der in einen Verzögerungsstreifen einer Autobahnausfahrt übergeht. Auf dem rechten Fahrstreifen der Autobahn bewegte sich eine Fahrzeugkolonne, unter anderem ein mit rund 70 km/h fahrendes Sattelfahrzeug mit einem Sattelaufleger mit jugoslawischem Kennzeichen. Der Kläger bewegte sich unter mäßiger Geschwindigkeitsverringerung an dieser Kolonne vorbei, verblieb auf dem Beschleunigungs- bzw Verzögerungsstreifen und beabsichtigte, die Autobahnausfahrt zu benützen. Der Lenker des Sattelkraftfahrzeuges hatte gleichfalls vor, die Ausfahrt zu benützen. Ohne den Blinker zu betätigen und ohne den Nachfolgeverkehr zu beachten, verlegte er die Fahrlinie auf den vom Kläger benützten Fahrstreifen. Der Kläger reagierte ohne Verzögerung, sein Fahrzeug stieß aber trotzdem mit einer Überdeckung von ca. 0,5 m gegen die rechte Heckecke des Sattelauflegers.

Der Kläger begehrt - gestützt auf das Alleinverschulden des Lenkers des Sattelfahrzeuges - den Ersatz von Reparatur- und Abschleppkosten in der Höhe von S 113.340 sA.

Die beklagte Partei führte aus, Ursache des Unfalles sei gewesen, daß der Kläger viel zu schnell und unaufmerksam gefahren sei, überdies habe er unzulässigerweise vom Autobahnzubringer kommend seine Fahrt auf dem Verzögerungsstreifen fortgesetzt und rechts überholt. Außerdem wendete die beklagte Partei einen ihr abgetretenen Schadenersatzbetrag von S 6.067,65 aufrechnungsweise ein, der aufgrund der Beschädigung des Sattelauflegers entstanden ist.

Das Erstgericht sprach aus, daß die eingeklagte Forderung zu Recht, die Gegenforderung hingegen nicht zu Recht bestehe und die beklagte Partei daher schuldig sei, den eingeklagten Betrag zu bezahlen. Das Erstgericht vertrat die Ansicht, der Lenker des Sattelkraftfahrzeuges habe dadurch, daß er ohne Betätigung des Blinkers und ohne Beobachtung des Nachfolgeverkehrs seine Fahrlinie auf den Verzögerungsstreifen verlegt habe, gegen die Vorschriften der §§ 7 Abs 3 sowie 11 Abs 1 und 2 StVO verstoßen. Dem Kläger sei kein Fehlverhalten anzulasten. Er habe die Fahrbahn der Autobahn nicht benützt und nicht gegen § 19 Abs 4 StVO verstoßen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Das Gericht zweiter Instanz führte aus, nach § 2 Abs 1 Z 2 StVO sei die Fahrbahn der für den Fahrzeugverkehr bestimmte Teil der Straße. Grundsätzlich seien alle befahrbaren Teile einer Straße zur Fahrbahn zu rechnen, wenn nicht die Widmung bestimmter Teile ausschließlich für andere Zwecke auffällig sei. Nach § 7 b der Bodenmarkierungsverordnung seien jedoch Begrenzungslinien unterbrochene Längsmarkierungen in weißer Farbe, die die Fahrbahn von anderen Verkehrsflächen wie Einmündungen, Ausfahrten udgl. (§ 55 Abs 3 StVO) abgrenzen. Schon aus der Zitierung des § 55 Abs 3 StVO im § 7 b der Bodenmarkierungsverordnung und der beispielsweisen Aufzählung der Verkehrsflächen in der zitierten Gesetzesstelle ergebe sich, daß ein Befahren der außerhalb der Fahrbahn gelegenen, durch Begrenzungslinien abgegrenzten anderen Verkehrsflächen grundsätzlich nicht verboten sei. Zu diesem Ergebnis führe auch eine teleologische Betrachtung, weil der Begrenzungslinie regelmäßig nur Leit- und Ordnungsfunktion zukomme (ZVR 1983/209, 8 Ob 253/82, 8 Ob 47/81, 2 Ob 238/80, ZVR 1986/26). Deshalb und auch im Einklang mit § 46 Abs 2 dritter Satz StVO habe der Kläger den Beschleunigungs- und in der Folge sich fortsetzenden Verzögerungsstreifen durchgehend befahren dürfen, der andererseits zum Einordnen in den fließenden Verkehr und in die Ausfahrt (§ 2 Abs 1 Z 6 b und 6 c StVO) nicht jedoch dem fließenden Verkehr selbst diene. Nach der durch die 10. StVO-Novelle ergänzten Begriffsbestimmung des § 2 Abs 1 Z 29 StVO gelte das Vorbeibewegen an einem auf einem Verzögerungs- oder Beschleunigungsstreifen fahrenden Fahrzeug nicht als Überholen. Nach dem Gesetzestext sei zweifelhaft, ob der Gesetzgeber auch für das sich auf den genannten Verkehrsflächen bewegende Fahrzeug eine solche Ausnahme habe schaffen wollen. Der Meinung von Benes-Messiner (StVO MGA8 Anm 31 zu § 2 StVO), das Vorbeibewegen eines Fahrzeuges auf einem Verzögerungs- und Beschleunigungsstreifen gegenüber einem auf einem Fahrstreifen der Autobahn fahrenden Fahrzeug stelle ein verbotenes Rechtsüberholen dar, sei nicht zu folgen, da den Gesetzesmaterialien mit eindeutiger Sicherheit ein anderer Wille des Gesetzgebers entnommen werden könne. Dem sei zu folgen und daher davon auszugehen, daß schon deshalb nicht von einer Schutznormübertretung des Klägers nach § 15 StVO gesprochen werden könne. Dazu komme, daß die Begriffsbestimmung des Überholens lediglich die Strecke des "Vorbeibewegens" umfasse, der Kläger jedoch mit der linken Front seines Fahrzeuges gegen die rechte Heckecke des Sattelauflegers gestoßen sei, demnach das Sattelkraftfahrzeug erst im Anstoß erreicht habe. Der sich selbst grob verkehrswidrig verhaltende Lenker des Sattelkraftfahrzeuges habe auch den Vertrauensgrundsatz nicht für sich beanspruchen können und habe solches auch nicht versucht. Zu prüfen sei, welche Auswirkungen das am Beginn des Beschleunigungsstreifens, der sich dann nahtlos in einen Verzögerungsstreifen fortsetzte, befindliche Vorschriftszeichen "Vorrang geben" gehabt habe. Der Kläger wäre nach § 19 Abs 7 StVO zwar wartepflichtig gewesen, diese Verpflichtung habe aber nur bestehen können, wenn und ab dem Zeitpunkt, als der Kläger tatsächlich in der Lage gewesen sei, zu erkennen, daß er gegenüber dem anderen Fahrzeug wartepflichtig sei. Es stehe aber fest, daß der Lenker des Sattelfahrzeuges ohne Blinkzeichen und ohne Beobachtung des Nachfolgeverkehrs seine Fahrlinie auf den vom Kläger benutzten Fahrstreifen verlegt habe. Bodenmarkierungen, die dem Kläger eine dementsprechende Weiterfahrt und ein Einfahren auf den ersten Fahrstreifen der Autobahn geboten, hätten sich nur am Beginn des Beschleunigungsstreifens befunden, der Unfall habe sich aber eindeutig im Abfahrtsbereich ereignet, weshalb der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem § 9 Abs 6 StVO und dem Unfall nicht bestehe. Ausfahrtswegweiser oder sonstige Hinweiszeichen nach § 53 StVO hätten den Kläger nicht zur Auffahrt auf die Autobahn und einen unmittelbar darauffolgenden Wechsel zurück auf den Verzögerungsstreifen zur Ausfahrt veranlassen müssen. Auch diesbezüglich sei eine Schutznormübertretung nicht gegeben.

Die Beklagte bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision, macht den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragt, die Entscheidung dahin abzuändern, daß der klagenden Partei lediglich ein Betrag von S 33.734,90 sA zugesprochen werde.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die beklagte Partei führt im wesentlichen aus, der Beschleunigungs- bzw Verzögerungsstreifen sei für den Fahrzeugverkehr bestimmt und damit gemäß § 2 Abs 1 Z 2 StVO Teil der Fahrbahn, der Kläger habe unzulässigerweise rechts überholt, außerdem hätte er dem Lenker des Sattelfahrzeuges den Vorrang einräumen müssen. Diesen Ausführungen ist folgendes zu erwidern:

Daß der Beschleunigungs- bzw Verzögerungsstreifen für den Fahrzeugverkehr bestimmt ist und daher Fahrbahn im Sinne des § 2 Abs 1 Z 2 StVO ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Der Frage, ob dieser Sreifen ein Teil der Fahrbahn der Autobahn ist oder ob er wegen der Begrenzungslinie (§ 7 b Bodenmarkierungsverordnung) als eine andere Verkehrsfläche anzusehen ist, kommt für die Entscheidung dieses Falles keine Bedeutung zu. Maßgebend dafür, ob der Kläger unzulässig rechts überholte, ist nämlich die Vorschrift des § 2 Abs 1 Z 29 StVO. Nach dieser gilt das Vorbeibewegen an einem auf einem Verzögerungs- oder Beschleunigungsstreifen fahrenden Fahrzeug nicht als Überholen. Eine rein wörtliche Auslegung könnte dazu führen, daß der auf einem Fahrstreifen der Autobahn befindliche Verkehrsteilnehmer Fahrzeuge, die sich auf dem Verzögerungs- oder Beschleunigungsstreifen befinden, nicht überholen würde, das Vorbeibewegen eines Fahrzeuges auf einem derartigen Streifen gegenüber einem auf einem Fahrstreifen der Autobahn fahrenden Fahrzeug jedoch ein Überholen darstellen würde (diese Ansicht vertreten Benes-Messiner in Anm 31 zu § 2 StVO in MGA StVO8). Eine derartige Regelung erschiene jedoch kaum sinnvoll, weshalb schon aufgrund des Wortlautes des Gesetzes bezweifelt werden müßte, ob dies tatsächlich die Absicht des Gesetzgebers gewesen ist. Dazu kommt, daß nach den EBZRV 1188 BlgNR 15. GP 21 klargestellt werden sollte, daß das Benützen eines Verzögerungs- und Beschleunigungsstreifens kein Überholen darstellt. Von einer Auslegung in diesem Sinne ist auszugehen. Ein auf dem Verzögerungs- oder Beschleunigungsstreifen befindlicher Fahrzeuglenker überholt daher ein auf einem Fahrstreifen der Autobahn befindliches Fahrzeug nicht. Aus diesem Grund kann dem Kläger ein unzulässiges Rechtsüberholen nicht angelastet werden. Es ist ihm aber auch nicht der Vorwurf zu machen, eine Vorrangverletzung begangen zu haben, da er nicht auf dem vom Sattelfahrzeug benützten Fahrstreifen gefahren ist, sondern auf dem Beschleunigungs- bzw Verzögerungsstreifen verblieb. Ob der Kläger im Hinblick auf den Vorrang des auf einem Fahrstreifen der Autobahn fahrenden Sattelfahrzeuges verpflichtet gewesen wäre, dem Lenker dieses Fahrzeuges ein Einordnen auf dem Verzögerungsstreifen zu ermöglichen, kann dahingestellt bleiben, weil eine derartige Verpflichtung jedenfalls dann nicht angenommen werden kann, wenn der bevorrangte Straßenbenützer seine Absicht, den Fahrstreifen zu wechseln, nicht anzeigt (vgl 2 Ob 16/88 = E 72 A zu § 19 StVO in MGA StVO8).

Es muß auch nicht erörtert werden, ob der Kläger dadurch gegen die Vorschriften der StVO verstoßen hat, daß er vom Beschleunigungsstreifen nicht auf den rechten Fahrstreifen der Autobahn gelenkt hat, weil er nach einem derartigen Manöver jedenfalls auf die durch die Begrenzungslinie abgegrenzte, als Verzögerungsstreifen dienende Verkehrsfläche hätte lenken dürfen. Auch die Ansicht des Berufungsgerichtes hinsichtlich des mangelnden Rechtswidrigkeitszusammenhanges bezüglich der Vorschrift des § 9 Abs 6 StVO ist daher zu teilen.

Aus diesen Gründen war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte