OGH 10ObS45/92

OGH10ObS45/9210.3.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Werner Jeitschko (Arbeitgeber) und Peter Pulkrab (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Vehbi K*****, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (Landesstelle Wien), 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram und Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Dezember 1991, GZ 32 Rs 161/91-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 14. März 1991, GZ 13 Cgs 72/90-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen die einschließlich 301,92 S Umsatzsteuer mit 1.811,52 S bestimmten halben Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Während eines von ihm gegen die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter beim Arbeits- und Sozialgericht Wien zu 5 Cgs 195/88 geführten Rechtsstreites wegen Invaliditätspension wurde dem Kläger aufgetragen, sich am 12. Juni 1989 um 16 Uhr bei einem ärztlichen Sachverständigen in 1080 Wien, Josefstädter Straße 7/15, zu einer vom Vorsitzenden angeordneten Untersuchung einzufinden. Der Kläger war damals bei einem Dienstgeber in der Shopping City Süd in Vösendorf beschäftigt, der ihm (für den Nachmittag des Untersuchungstages) freigab, weil ihm der Kläger nachweisen konnte, daß er zu der vom Gericht angeordneten Untersuchung beim Sachverständigen erscheinen müsse. Der Kläger verließ seinen Arbeitsplatz etwa um 13.15 Uhr, fuhr mit der Lokalbahn nach Meidling, von dort mit der Straßenbahnlinie 8 zur Josefstädter Straße und begab sich dann nach einer kurzen Essenspause in die Ordination des Sachverständigen. Nach der um 17.00 Uhr beendeten Untersuchung ging er durch die Josefstädter Straße zum Gürtel, von wo er mit der Straßenbahnlinie 8 und dann mit der Straßenbahnlinie 62 in seine in der Breitenfurter Straße gelegene Wohnung fahren wollte. Beim Überqueren des Gürtels wurde er von einem PKW niedergestoßen, wodurch er einen Bruch des linken Schienbeinkopfes, einen Wiederholungsbruch der rechten Speiche und eine Rißquetschwunde über dem rechten Auge erlitt. Die dadurch verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug bis Ende 1989 20 vH und beträgt seither 0 vH.

Mit Bescheid vom 4. April 1990 lehnte die beklagte Partei den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus Anlaß des Unfalles vom 12. Juni 1989 ab, weil die Voraussetzungen des § 175 Abs 2 Z 2 ASVG nicht vorlägen.

Schon in der dagegen rechtzeitig erhobenen, nach Ergänzung auf Feststellung, daß der Unfall vom 12. Juni 1989 ein Arbeitsunfall iS des Gesetzes sei, und Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß von mindestens 20 vH der Vollrente ab Antragstag gerichteten Klage vertrat der Kläger die Rechtsansicht, daß es sich um einen Arbeitsunfall iS des 2. Halbsatzes der zit. Gesetzesstelle handle.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht stellte fest, daß die Gesundheitsstörung des Klägers nicht Folge eines von ihm am 12. Juni 1989 erlittenen Arbeitsunfalles iS des Gesetzes sei und wies das Leistungsbegehren ab.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei der Unfall vom 12. Juni 1989 kein Arbeitsunfall iS des § 175 Abs 2 Z 2

2. Fall ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge.

Nach der Rechtsmeinung der zweiten Instanz sei ein Unfall auf dem Weg zum oder vom im Zuge eines Sozialrechtsverfahrens bestellten Sachverständigen in der zit. Gesetzesbestimmung nicht geregelt, ohne daß eine teleologische (unechte) Gesetzeslücke vorliege. Die im Abs 2 des § 175 ASVG aufgezählten Tatbestände hätten alle einen Zusammenhang iS der Definition des Abs 1 der zit Gesetzesstelle, also mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung. Das Sozialrechtsverfahren des Klägers wegen Invaliditätspension stehe nur insoweit in einem solchen Zusammenhang, als jede Leistung eines Sozialversicherungsträgers eine Folge von aufgrund der Erwerbstätigkeit erworbener Versicherungszeiten sei. Ein so loser Zusammenhang könne jedoch keinen Versicherungsschutz iS des § 175 ASVG bewirken.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinne abzuändern oder allenfalls die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Nach § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen.

Nach Abs 2 Z 2 2. Fall leg cit in der auf diesen Fall anzuwendenden (§ 547 Abs 6 ASVG idF der 50. ASVG-Nov), bis 31. Dezember 1991 geltenden Fassung vor dieser Novelle sind Arbeitsunfälle auch Unfälle, die sich ereignen: "..... ferner auf dem Weg von der Arbeits- und Ausbildungsstätte oder von der Wohnung zu einer ärztlichen Untersuchungsstelle, wenn sich der Versicherte der Untersuchung auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift oder einer Anordnung des Versicherungsträgers oder des Dienstgebers unterziehen muß und anschließend auf dem Weg zurück zur Arbeits(Ausbildungs)stätte oder zur Wohnung."

Der zit Gesetzeswortlaut blieb von der Stammfassung des ASVG bis 31. Dezember 1991 unverändert; erst durch Art III Z 1 der

50. ASVGNov BGBl 1991/676 wurde er dadurch geändert, daß das Eigenschaftswort "ärztlichen" vor Untersuchungsstelle aus dem Gesetzestext ausgeschieden wurde.

Tomandl, Der Schutzbereich der Unfallversicherung in ZAS 1975, 123 (129), weist zutreffend darauf hin, aus der Stammfassung des § 175 leuchte noch ganz deutlich hervor, daß in diesem Paragraphen - ungeachtet sonstiger systematischer

Mängel - ausschließlich Tatbestände Aufnahme fanden, die mit der versicherten Erwerbstätigkeit in Zusammenhang stehen; wo zumindest Zweifel bestanden, habe man Tatbestände in § 176 Abs 1 eingeordnet. Der Schutz der Z 2 könne daher nur solche Arztwege erfassen, bei denen ein solcher Zusammenhang bestehe. Tomandl ist auch darin zuzustimmen, daß das auch für den zweiten Fall dieser Ziffer, nämlich die Wege zu Untersuchungen auf Grund gesetzlicher Vorschrift oder Anordnung des Versicherungsträgers bzw Dienstgebers gelte. Angeordnete Untersuchungen könnten, müßten aber nicht im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit stehen. Unfälle auf Wegen zu Untersuchungen, die nicht mit der Erwerbstätigkeit zusammenhingen, könnten nicht mehr als Arbeitsunfälle im weitesten Sinne aufgefaßt werden und würden auch nicht geschützt. Das Gesetz schütze Arztwege nur bei Versicherten; überdies müsse die Einordnung dieser Fallgruppe in § 175 Abs 2 (also unter jene Tatbestände, die "auch" noch Arbeitsunfälle sein sollen) irgendeinen Sinn haben. Daraus ergebe sich zwingend, daß § 175 Abs 2 Z 2 zweite Fallgruppe nur solche Untersuchungen versicherter Personen erfasse, die mit der versicherten Beschäftigung in Zusammenhang stünden (aaO 130; ders, das Leistungsrecht der österr. UV 42).

Tomandl weist auch zutreffend darauf hin (am erstgen O 130 FN 78), daß sich das für (die Bundesrepublik) Deutschland gemäß § 539 Abs 1 Nr 11 RVO schon aus dem Gesetz ergebe. Durch diese Bestimmung wurde nämlich der Versicherungsschutz für Personen eingeführt, die auf Grund von Arbeitsschutz- oder Unfallverhütungsvorschriften ärztlich untersucht oder behandelt werden. Der Entwurf des UVNG idF der Regierungsvorlage (BT-Drucks IV/120) sah Versicherungsschutz nur für Personen vor, die auf Grund von Arbeitsschutzvorschriften ärztlich untersucht werden. In der amtlichen Begründung wurde dazu ausgeführt, nach neueren Arbeitsschutzvorschriften hätten sich beschäftigte Personen einer wiederkehrenden ärztlichen Untersuchung im Hinblick auf die Beschäftigung zu unterziehen. Es erscheine erforderlich, die bei der Erfüllung dieser gesetzlichen Verpflichtungen entstehenden Unfälle als Arbeitsunfälle zu bezeichnen, weil sie mit der unfallversicherten Beschäftigung in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Auf Vorschlag des Ausschusses des Bundestages wurde der Entwurf durch Einbeziehung der Unfallverhütungsvorschriften und Erstreckung auch auf die ärztlichen Behandlungen erweitert. Dem Ausschuß erschien es berechtigt, wenn Personen bei ärztlichen Untersuchungen auf Grund von Arbeitsschutzvorschriften Unfallversicherungsschutz genießen sollten, auch die Personen bei den auf Grund von Unfallverhütungsvorschriften durchgeführten ärztlichen Untersuchungen unter Versicherungsschutz zu stellen. Mit der Einfügung der Worte "oder behandelt" solle erreicht werden, daß bestimmte Behandlungsmaßnahmen, wie zB vorgeschriebene Impfungen vor Aufnahme einer Tätigkeit im Ausland, den ärztlichen Untersuchungen auf Grund von Arbeitsschutz- oder Unfallverhütungsvorschriften gleichgestellt werden. Die Vorschrift bezieht sich nur auf Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften (Brackmann, Handbuch der SV II 71. Nachtrag 474 f, g).

Das Besorgen von persönlichen Vermögensangelegenheiten des Beschäftigten zählt zu dessen persönlichem, nicht versichertem Lebensbereich (Brackmann, aaO 72. Nachtrag 485 f); dazu zählt zB auch die Geltendmachung eigener Leistungsansprüche bei einem Sozialversicherungsträger (Brackmann, aaO 485 h; Ricke in Kasseler Komm, SVR Rz 73 zu § 548 RVO) oder in einem Prozeß vor einem Sozialgericht (Ricke aaO Rz 69 zu § 548 RVO).

Deshalb zählte sowohl die gesamte Beteiligung des Klägers am Verfahren in Leistungssachen vor der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter zur Feststellung seines Anspruches auf eine Invaliditätspension als auch seine gesamte Beteiligung am nachfolgenden Verfahren vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien wegen Invaliditätspension zum nicht unfallversicherten eigenwirtschaftlichen Lebensbereich.

Es ist zwar richtig, daß u.a. ein Anspruchswerber auf Invaliditätspension nach § 366 Abs 1 ASVG verpflichtet ist, sich einer ärztlichen Untersuchung oder einer Beobachtung in einer Krankenanstalt zu unterziehen, die der zuständige Versicherungsträger anordnet, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf die beantragte Leistung sind, wobei der Versicherungsträger, wenn einer solchen Anordnung nicht entsprochen wird, der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen kann (Abs 2 der zit Gesetzesstelle), und daß die Weigerung eines Klägers, an einer vom Arbeits- und Sozialgericht, zB vom Vorsitzenden nach § 88 ASGG, angeordneten Beweisaufnahme durch ärztliche Sachverständige mitzuwirken, zu für seinen Prozeßstandpunkt ungünstigen Feststellungen führen kann. Das ändert aber nichts daran, daß die gesamte Beteiligung des Anspruchswerbers bzw. Klägers am Verfahren zur Feststellung seines Anspruches auf eine Invaliditätspension vor dem Pensionsversicherungsträger bzw vor dem Arbeits- und Sozialgericht in keinem solchen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung steht, der es rechtfertigen könnte, bei der Beteiligung an diesen Verfahren eingetretene Unfälle vom nicht unfallversicherten eigenwirtschaftlichen Bereich auszunehmen und als "Auch"-Arbeitsunfälle zu behandeln.

Daß in Verfahren über Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit - unter mehr oder weniger starker Berücksichtigung der bisher ausgeübten Tätigkeiten - u.a. zu prüfen ist, ob und allenfalls welche Tätigkeiten dem Versicherten noch zumutbar sind, stellt - entgegen der Meinung des Revisionswerbers - noch keinen ausreichenden Zusammenhang zwischen der Beteiligung des Anspruchswerbers bzw Klägers an diesen Leistungsverfahren und der die Unfallversicherung begründenden Beschäftigung her.

Im übrigen wäre nicht einzusehen, warum bei gegenteiliger Auslegung nur Teilbereiche der Beteiligung des Anspruchswerbers bzw Klägers an den genannten Leistungsverfahren, nämlich die Wege zu oder von einer ärztlichen Untersuchungsstelle, nicht aber auch die Wege zum oder vom Versicherungsträger bzw. zum Gericht, zB zur Stellung des Leistungsantrages, zur Erhebung einer Protokollarklage oder zu einer Tagsatzung, unfallversichert wären.

Zusammenfassend ergibt sich daher, daß sich der Unfall des Klägers vom 12. Juni 1989 nicht auf dem Rückweg von einer ärztlichen Untersuchung, der sich der Kläger auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift oder einer Anordnung des Versicherungsträgers oder des Dienstgebers unterziehen mußte, zur Wohnung ereignet hat und daher kein Arbeitsunfall iS des hier allein in Frage kommenden § 175 Abs 2 Z 2 2. Fall ASVG ist.

Deshalb war der Revision nicht Folge zu geben.

Wegen der rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens war dem auch im Revisionsverfahren zur Gänze unterlegenen Kläger nach § 77 Abs 1 Z 2 lit b der Ersatz der halben Kosten der Revision zuzubilligen (SSV-NF 1/66, 2/29 ua).

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