OGH 1Ob602/91

OGH1Ob602/919.10.1991

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Harald L*****, geboren am 11. August 1982, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Ingrid P*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Grohmann, Dr. Helmut Paul, Rechtsanwälte in Krems an der Donau, gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Krems an der Donau als Rekursgericht vom 28. August 1991, GZ 2 R 182/91-56, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Horn vom 10. Juli 1991, GZ P 33/84-47, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die angefochtenen Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.

Text

Begründung

Der Minderjährige ist das uneheliche Kind der Revisionsrekurswerberin, einer Witwe, die mit dem Vater des Kindes Werner L***** bis September 1989 in Lebensgemeinschaft in einem dem Vater gehörigen Reihenhaus in H***** wohnte. Aus der Ehe der Mutter entstammen zwei Mädchen. Der Vater wurde zu einem monatlichen Unterhalt von S 1.860,-- verpflichtet (ON 21); ihm wurde über seinen Antrag ein Besuchsrecht eingeräumt (ON 25, 31 und 39).

Am 19.6.1991 beantragte der Vater, ihm die Obsorge für das Kind zu übertragen. Das Wohl des Kindes sei gefährdet, da über seinen Antrag am 5.7.1991 die Räumung der von der Mutter und den Kindern benützten Wohnung bewilligt worden sei. Die Mutter kümmere sich auch nicht ausreichend um den Sohn, er soll oft am Tag und auch des Abends allein zu Hause sein oder von seinen Halbschwestern beaufsichtigt werden. Der Sohn habe auch erklärt, er wolle nicht mehr bei der Mutter bleiben, sie belege ihn ständig mit Verboten und Strafen anstatt sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen und sie mit ihm zu besprechen. Es soll verhindert werden, daß die Mutter die Entwicklung des Kindes hemmt und ihm durch ständige psychische Belastung Schaden zufügt.

Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus, sie sei nach G***** übersiedelt, ihr stünden zwei Garconnieren zur Verfügung. Der Vater habe den Sohn nach Ausübung seines Besuchsrechtes am 7.7.1991 nicht mehr zurückgebracht und die Herausgabe trotz einer Intervention der Gendarmerie verweigert. Sie ersuche das Gericht um Abhilfe.

Dazu vernommen beantragte der uneheliche Vater am 8.7.1991 die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, daß bis zur rechtskräftigen Erledigung seines Antrages auf Zuweisung des Kindes in die alleinige Obsorge dieses einstweilen in seine alleinige Obsorge eingewiesen werde.

In einem Amtsvermerk vom selben Tag hielt das Erstgericht fest, daß die Mutter nach Mitteilung des Richters, daß im Wege einer vorläufigen Anordnung das Kind beim Vater zu bleiben habe, nach Verlassen des Dienstzimmers auf den im Vorraum wartenden Sohn zugeht und diesen im vorwurfsvollen Ton fragt, ob er wisse, was er ihr angetan habe.

Am 10.7.1991 erließ das Erstgericht die vorläufige Anordnung, das Kind werde in die alleinige Obsorge des unehelichen Vaters eingewiesen, bis über dessen Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge für das Kind an ihn rechtskräftig entschieden werde. Es stellte fest, das Kind habe sich am 28.6.1991 bei der Familie Rudolf und Gerlinde T***** in H***** aufgehalten. Die dritte Klasse Volksschule habe es problemlos absolviert. Es sei mit dem jüngeren Sohn der Familie, in der sich zwei Kinder befinden, gut befreundet, er verbringe dort eine Woche, um mit den Kindern ständig spielen zu können. Die Unterbringung des Kindes bei dieser Familie sei von der Mutter wohl auch deshalb veranlaßt worden, weil sie ihre Wohnung bis zum Räumungstermin, dem 5.7.1991, zu räumen hatte. Angeblich sei es der Mutter mit Hilfe ihres nunmehrigen Lebensgefährten gelungen, in G***** ein Ersatzquartier aufzutreiben. Eine Überprüfung dieser angeblichen Wohnmöglichkeit habe aus Zeitmangel bisher noch nicht erfolgen können. Aus der Begutachtung des Sachverständigen Dr. SCH***** ergebe sich, daß das Kind zu seiner Mutter derzeit Beziehungsschwierigkeiten habe und sich in der Zuwendung vernachlässigt fühle, weil sich die Mutter nach dem Eindruck des Kindes fast ausschließlich mit der älteren Halbschwester Pamela abgebe. Außerdem zeige das Kind Angstgefühle durch den bevorstehenden Schul- bzw. Wohnungswechsel nach G*****. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, daß dem Wunsch des Kindes, unbedingt beim Vater zu bleiben, einige Bedeutung zukomme. Mit Rücksicht auf die dargelegte Situation wäre eine zwangsweise Rückführung des Kindes zu seiner Mutter zweifellos mit der Gefahr verbunden, schwere Entwicklungs- und Verhaltensstörungen herbeizuführen. Es entspreche daher dem dringenden Erfordernis des Kindeswohls, wenn das Kind beim Vater und damit in der vertrauten Umgebung zumindet so lange, bis über den Antrag des Vaters auf Zuweisung der Obsorge entschieden sei, verbleiben könne.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Den ordentlichen Revisionsrekurs erklärte es für nicht zulässig. Das Wohl des Kindes erfordere dringlich die Einweisung in die vorläufige Obsorge des Vaters, weil nur damit eine Kontinuität sowohl in bezug auf die Zeit seit 7.7.1991 wie überhaupt der bisherigen Lebenssituation des Kindes gewährleistet sei und vor allem verhindert werden könne, daß das schädliche Hin- und Hergerissenwerden des Kindes zwischen den Elternteilen eintrete, sollte die Obsorge für das Kind später endgültig dem Vater übertragen werden. Zum Wohl des Kindes komme dieser Kontinuität erhebliches Gewicht bei. Ihr sei gegenüber einem vom Kind derzeit nicht gewünschten Wechsel in eine offensichtlich emotionalisierte Umgebung bei der Mutter der Vorzug zu geben.

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 166 ABGB steht der unehelichen Mutter die Obsorge für das Kind allein zu. Daran änderte sich nach Scheitern der Lebensgemeinschaft mit dem unehelichen Vater nichts. Eine Entscheidung des Gerichtes nach § 177 ABGB käme nur dann in Betracht, wenn die Eltern verheiratet waren, was hier nicht der Fall ist. Eine Verfügung des Gerichtes zur Entziehung oder Einschränkung der der Mutter allein zustehenden Obsorge ist daher nach den Vorschriften der §§ 176, 176 a und 176 b ABGB zu beurteilen. Nach der Vorschrift des § 176 b ABGB, in der sich der Grundsatz der Familienautonomie ausdrückt (7 Ob 585/90), darf das Gericht durch eine Verfügung nach den §§ 176 und 176 a ABGB die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist. Diese Beschränkung ist letztes Mittel (Schwimann in Schwimann, ABGB Rz 2 zu § 176 b). Das Gericht darf nur aus schwerwiegenden Gründen davon Gebrauch machen (RV 172 BlgNR 17.GP 17; in diesem Sinn bereits 1 Ob 571/91). Das Gericht kann zwar bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB vorläufige dringende Maßnahmen treffen (1 Ob 550/91; Pichler in Rummel2 Rz 8 zu § 176; Schlemmer/Schwimann in Schwimann, Rz 16 zu § 176). Liegt aber keine Gefahr der Verbringung des Kindes ins Ausland vor, wodurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen würde, ist Voraussetzung für eine vorläufige gerichtliche Maßnahme, daß die Belassung des Kindes in der bisherigen Umgebung eine solche Gefährdung für das Kind mit sich bringt, daß Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung des bestehenden Zustandes dringend geboten erscheinen (EFSlg. 58.477, 58.406; SZ 59/160). Es muß sich demnach um einen Fall akuter Gefährdung des Kindes handeln (EFSlg. 56.808). Sind die Voraussetzungen für eine solche vorläufige Anordnung nicht gegeben, ist in einer solchen Anordnung eine Verletzung des Kindeswohles zu erblicken (EFSlg. 58.406).

Eine akute Gefährdung des Kindeswohles durch den Verbleib des Kindes bei der allein obsorgeberechtigten Mutter liegt nicht vor. Die Ungewißheit der Wohnverhältnisse von Mutter und Kind geht auf die vom Vater beantragte Räumungsexekution zurück. Ob die Wohnverhältnisse der Mutter in ihrer neuen Wohnung dem Kindeswohl abträglich sind, hat das Erstgericht weder überprüft noch festgestellt, obwohl nach der Einvernahme der Mutter am 8.7.1991 mit der Bekanntgabe des neuen Wohnortes die vorläufige Anordnung erst am 10.7.1991 erfolgte. Der Aktenlage nach bereitete das Kind bisher keine Erziehungsschwierigkeiten. Es gibt auch keine schulischen Probleme. Ebensowenig läßt sich dem Akt entnehmen, daß die Mutter in der Erziehung ihrer beiden älteren ehelichen Kinder versagt hätte. Dagegen gab die Beamtin des Jugendwohlfahrtsträgers an, daß der inzwischen volljährig gewordene Sohn der jetzigen Lebensgefährtin des unehelichen Vaters in Fürsorgeerziehung eingewiesen werden mußte. Rechtswidrig verhielt sich bisher nur der Vater, der, obwohl keine Gründe gegen die Unterbringung des Kindes während der Übersiedlung der Mutter bei einer befreundeten Familie in H***** sprachen, das Kind nach Ausübung seines Besuchsrechtes entgegen dem Rat der Beamtin des Jugendwohlfahrtsträgers nicht dorthin zurückbrachte. Den auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen festgestellten derzeit offenbar wegen des Verhaltens seiner Eltern gegebenen Beziehungsschwierigkeiten des Kindes zur Mutter, von denen nicht fessteht, daß sie irreversiblen Charakter angenommen hätten, allein kommt kein solches Gewicht zu, daß im Rahmen eines Verfahrens nach § 176 ABGB eine vorläufige Anordnung erforderlich wäre. Wenn das Rekursgericht die Kontinuität der Erziehung durch Verbleib im Haushalt des Vaters als Rechtfertigung für die Entscheidung des Erstgerichtes heranzieht, übersieht es, daß dem unehelichen Vater bisher nur ein Besuchsrecht, nicht aber die Obsorge zustand und das Kind auch nach Trennung der Eltern im Haushaltsverband der Mutter aufwuchs.

Dem Revisionsrekurs ist Folge zu geben, die Beschlüsse der Vorinstanzen sind ersatzlos aufzuheben.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte