OGH 7Ob585/91

OGH7Ob585/9126.9.1991

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Wurz als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta, Dr.Egermann, Dr.Niederreiter und Dr.Schalich als weitere Richter in der Unterbringungssache der ***** 1957 geborenen Johanna W*****, infolge Revisionsrekurses der Dr.Ingrid Scheidacker, Patientenanwältin bei der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 22.Mai 1991, GZ 44 R 429/91-13, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Klosterneuburg vom 23.April 1991, GZ Ub 162/91-6, ersatzlos aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben und dem Rekursgericht eine nach Verfahrensergänzung zu fällende neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung

Am 4.4.1991 wurde Johanna W***** über eigenes Verlangen in die Nö Landesnervenklinik Gugging aufgenommen. Bei der Aufnahme wurde ein manisch-dysphorisches Zustandsbild diagnostiziert. Dieser Aufnahme war ein Einschreiten des Pol Koat Wr.Neustadt im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen Johanna W***** und den Angehörigen ihres geschiedenen Ehemannes, welche auch Gegenstand eines Strafverfahrens ist, vorausgegangen.

Am 17.4.1991 verließ Johanna W***** - ohne Abmeldung - die Station, um einen Rechtsanwalt aufzusuchen. Sie wurde am 18.4.1991 in alkoholisiertem Zustand in Wr.Neustadt aufgegriffen und in die Anstalt zurückgebracht. Dort wurde als Befund eine manische Selbstüberschätzung und eine ängstliche dysphorische Stimmungslage erhoben und die Unterbringung wegen Selbstgefährdung im Rahmen einer Manie für notwendig erachtet.

Bei der Erstanhörung am 23.4.1991 führte der Abteilungsleiter aus, daß wiederum Selbstmordgefahr bestehen würde, wenn die Patientin ihre soziale Situation in der Zukunft erkennen werde.

Das Erstgericht kam zum Ergebnis, daß Johanna W***** derzeit kein manisches Zustandsbild biete und eine Selbstmordgefahr - selbst im Hinblick auf einen angeblichen Selbstmordversuch im Jahr 1987 - nicht gegeben sei; daher erklärte es die Unterbringung für nicht zulässig und ordnete an, sie sogleich aufzuheben. Aufgrund der Erklärung des Abteilungsleiters, gegen diese Entscheidung Rekurs zu erheben, sprach das Erstgericht aus, daß dem Rekurs keine aufschiebende Wirkung zuerkannt werde. Am gleichen Tag wurde die Patientin aus der Anstalt entlassen.

Das Rekursgericht hob den Beschluß des Erstgerichtes ersatzlos auf und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es billigte dem Rekurs des Abteilungsleiters zu, daß es dem Erstrichter als medizinischem Laien nicht möglich gewesen sei, das Vorliegen einer Manie zu beurteilen, weil die Krankheit in der Verkennung der eigenen Fähigkeiten und Probleme bestehe und unrealistische Größenideen entwickelt würden; bei Johanna W***** liege diese Fehleinschätzung darin, zu glauben, in Zukunft als Sozialarbeiterin tätig sein zu können. Es sei durchaus nicht von der Hand zu weisen, daß die Patientin bei der nach ihrer Entlassung eintretenden Konfrontation mit der Realität und der damit verbundenen Erkenntnis, daß ihr Berufswunsch nicht verwirklicht werden kann, in Selbstmordgefahr gerate. Bei dieser Sachlage wären daher die Voraussetzungen der Unterbringung gegeben gewesen. Erst nach Einholung eines (unabhängigen) psychiatrischen Gutachtens wären sichere Aussagen über die Gefährlichkeitsprognose möglich gewesen. Diese Überlegungen seien aber bloß theoretischer Natur, weil die Patientin bereits entlassen worden sei. Schon deshalb sei der Beschluß des Erstgerichtes ersatzlos aufzuheben gewesen.

Der dagegen von der Patientenanwältin, die gemäß § 14 Abs 1 UbG kraft Gesetzes Vertreterin des Kranken für das im Unterbringungsgesetz vorgesehene gerichtliche Verfahren ist, erhobene - einseitige (§ 16 Abs 3 AußStrG) - Revisionsrekurs, auf den die Vorschriften der §§ 13 ff AußStrG anzuwenden sind (RV 464 BlgN 17.GP 27) ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die im Zuge einer Anhörung gemäß § 19 UbG getroffene Entscheidung, daß eine Unterbringung mangels der im § 3 UbG genannten Voraussetzungen unzulässig ist (§ 20 Abs 2 UbG), kann, wenn das Gericht dem dagegen vom Abteilungsleiter angekündigten Rekurs keine aufschiebende Wirkung zuerkennt (§ 20 Abs 2 UbG) und der Patient daher sofort entlassen wird, abgesondert angefochten werden (§ 20 Abs 3 UbG). Auch in einem solchen Fall geht der Entscheidung über die - von einem im öffentlichen Dienst stehenden Arzt, einem Polizeiarzt oder von Organen des Sicherheitsdienstes angeordneten - Unterbringung eine Einschränkung der persönlichen Freiheit voraus, sodaß dem davon Betroffenen schon aus den verfassungsrechtlichen Normen des Art 5 Abs 4 MRK und des sich daran orientierenden (RV 134 BlgNR 17.GP 7) Art 6 Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit, das Recht auf ein Verfahren zusteht, in dem - durch ein Gericht oder durch eine andere unabhängige Behörde - über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges entschieden wird. Wie der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung (SZ 39/83; SZ 60/12; ÖAV 1988, 109 ua, zuletzt 1 Ob 549/91) ausgesprochen hat, hat in Fällen, in denen mit Gerichtsbeschluß das Grundrecht eines Menschen auf persönliche Freiheit berührt wird, der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der freiheitseinschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Anhaltung zu Recht erfolgte. Dieser Grundsatz gilt auch im Rechtsmittelverfahren gegen eine nach § 20 Abs 2 UbG ergangene Entscheidung, mit der die Unterbringung für unzulässig erklärt und sogleich auch aufgehoben wurde. Sonst bliebe nämlich die Frage offen, ob die Voraussetzungen der Unterbringung der Patientin gegeben waren. Diesem Grundsatz widerspricht die Entscheidung des Rekursgerichtes, mit der eine durch § 20 UbG zwingend vorgesehene Entscheidung des Erstgerichtes über die Unterbringung ersatzlos aufgehoben wurde.

Gelangt das Gericht bei der Anhörung des Kranken zum Ergebnis, daß die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen und hat es diese daher bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig erklärt, dann hat es eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufinden hat (§ 20 Abs 1 UbG). Dieser Beschluß ist zufolge der Anordnung in § 20 Abs 3 UbG nicht abgesondert anfechtbar; er kann nur gemeinsam mit der nach der mündlichen Verhandlung ergangenen Entscheidung angefochten werden. Für dieses Rechtsmittelverfahren ordnet § 29 Abs 2 UbG an, daß das Rekursgericht das Verfahren selbst zu ergänzen oder neu durchzuführen hat, soweit es dies für erforderlich hält; einen persönlichen Eindruck vom Kranken darf es sich auch durch ein Mitglied des Senats verschaffen. Für den abgesonderten Rekurs gegen eine im Sinne des § 20 Abs 2 UbG ergangene Entscheidung, mit der also eine Unterbringung schon im Zuge der Erstanhörung für unzulässig erklärt und sogleich aufgehoben wurde, enthält das Gesetz keine besonderen Verfahrensvorschriften. Dennoch ergeben sich aus der Systematik des Gesetzes folgende Grundsätze für dieses Rechtsmittelverfahren:

Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine Anstalt gebracht werden, wenn ein im öffentlichen Dienst stehender Arzt oder ein Polizeiarzt untersucht und bescheinigt hat, daß die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen (§ 8 UbG). Auch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt zu bringen oder diesen beizuziehen; bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine Anstalt zu bringen oder das zu veranlassen; bei Gefahr im Verzug können die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person auch ohne Untersuchung und Bescheinigung in eine Anstalt bringen (§ 9 UbG). Weitere Möglichkeiten, eine Person gegen oder ohne ihren Willen in eine Anstalt zu bringen, sieht das Gesetz nicht vor. Da die verfassungsgesetzlichen Bestimmungen über den Schutz der persönlichen Freiheit staatliche Organe noch nicht zur Anordnung von Freiheitsbeschränkungen ermächtigen, sondern mögliche Beschränkungen vielmehr durch Gesetz angeordnet werden müssen (vgl SZ 60/12 mwN), kann im Fall eines erfolgreichen Rekurses des Anstaltsleiters gegen einen Beschluß im Sinne des § 20 Abs 2 UbG die Wiederaufnahme des bereits entlassenen Patienten in eine Anstalt nicht mehr angeordnet werden; der abgesonderte Rekurs des Anstaltsleiters kann im Falle seiner Berechtigung somit nur zur Feststellung führen, daß die Voraussetzungen für eine Unterbringung gegeben waren.

Gelangt das Gericht bei der Erstanhörung des Kranken zum Ergebnis, daß die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, so hat es sie vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig zu erklären und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Gelangt das Gericht hingegen zum Ergebnis, daß die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vorliegen, so hat es diese für unzulässig zu erklären und die Unterbringung sogleich aufzuheben, es sei denn, der Abteilungsleiter erklärt, daß er gegen den Beschluß Rekurs erhebt, und das Gericht diesen Rekurs sogleich aufschiebende Wirkung zuerkennt (§ 20 Abs 2 UbG). Wegen dieser Teilung des Verfahrens und dem Umstand, daß eine endgültige Entscheidung über die vorläufige Unterbringung für einen bestimmten Zeitraum erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf erweiterter Sachgrundlage gefällt wird, kann im Verfahren über einen Rekurs des Abteilungsleiters gegen eine im Zuge der Erstanhörung getroffene Entscheidung im Sinne des § 20 Abs 2 UbG eine Entscheidung nur auf jener Grundlage gefällt werden, die das Gesetz für die vorläufige Entscheidung vorsieht, wenn auch die Entscheidung über die Entlassung des Kranken bereits endgültig ist.

Die Entscheidung gemäß § 20 UbG ergeht aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichtes, den es sich binnen vier Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung zu verschaffen hat; das Gericht hat aber auch Einsicht in die Krankengeschichte zu nehmen sowie den Abteilungsleiter, den Patientenanwalt und einen sonstigen in der Anstalt anwesenden Vertreter des Kranken zu hören (§ 19 Abs 1 und 2 UbG). Das Gericht kann der Anhörung des Kranken aber auch einen nicht der Anstalt angehörenden Facharzt als Sachverständigen beiziehen (§ 19 Abs 3 UbG). Da die Beiziehung eines "unabhängigen" Sachverständigen zur Erstanhörung nicht zwingend vorgeschrieben ist, dem Gericht aber eine Entscheidung über die Voraussetzungen der Unterbringung schon bei der Erstanhörung obliegt, kann es daher auch aufgrund seines persönlichen Eindrucks, den es vom Kranken gewonnen hat, zur Entscheidung gelangen, daß die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vorliegen, wenn sich aus der Krankengeschichte und der Anhörung des Abteilungsleiters nicht deutlich ergibt, daß eine Behandlung in der Anstalt wegen einer psychischen Erkrankung unbedingt erforderlich ist. Es obliegt bei der Erstanhörung daher im wesentlichen dem Abteilungsleiter, dem Gericht die Notwendigkeit und voraussichtliche Dauer eines Anstaltsaufenthaltes glaubhaft zu machen. Gelingt ihm das nicht, dann muß auch der geordnete, realitätsbezogene Eindruck des Patienten zu einer Entscheidung im Sinne des § 20 Abs 2 UbG führen, auch wenn das Gericht der Anhörung keinen unabhängigen Sachverständigen beigezogen hat. Die Auffassung des Rekursgerichtes, daß der Erstrichter seine Entscheidung nur nach Vorliegen eines unabhängigen psychiatrischen Sachverständigengutachtens hätte treffen dürfen, widerspricht dem durch § 19 und § 20 UbG bestimmten Entscheidungsauftrag.

Erachtet das Rekursgericht die Entscheidungsgrundlage für eine Entscheidung im Sinne des § 20 Abs 2 UbG nicht für ausreichend, dann hat es - in analoger Anwendung der Vorschriften über den Rekurs gegen die nach mündlicher Verhandlung getroffene Entscheidung (§ 29 Abs 2 UbG) - das Verfahren selbst zu ergänzen oder neu durchzuführen. War für die Entscheidung des Erstrichters der persönliche Eindruck maßgebend, dann kann es von seiner Entscheidung nur abgehen, wenn es sich auch selbst einen persönlichen Eindruck vom Patienten gemacht hat und dabei zu einem anderen Ergebnis gekommen ist; das kann auch durch ein Mitglied des Senates geschehen.

Die vom Rekursgericht selbst als "theoretische Überlegungen" bezeichneten Annahmen über die Voraussetzungen der vorliegenden Unterbringung beruhen nicht auf überprüfbaren Verfahrensergebnissen. Im Akt erliegt weder eine Abschrift der Krankengeschichte, noch sind die Umstände, die zu dem (angeblichen) Selbstmordversuch und zu Selbstmorddrohungen der Patientin geführt haben, dokumentiert. Welchen Krankenheitswert die von Johanna W***** entwickelte Größenidee hat, Sozialarbeiterin werden zu können, läßt sich dem Akt überhaupt nicht entnehmen. Ohne Erhebung der in der Vergangenheit liegenden Umstände, die die Annahme einer Selbstgefährdung begründen sollen (über den Zeitpunkt des angeblichen Selbstmordversuches enthalten der Beschluß des Erstrichters und der Rekurs des Abteilungsleiters unterschiedliche Angaben), kann auch nicht beurteilt werden, ob und aus welchen Gründen auch das Erkennen der wirklichen sozialen Situation die Selbstmordgefahr indiziert. Das Rekursgericht wird daher seine Entscheidungsgrundlagen zumindest durch Einsichtnahme in die Krankengeschichte und Anhörung der Kranken zu erweitern und neuerlich über den Rekurs des Anstaltsleiters zu entscheiden haben.

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