OGH 13Os79/91 (13Os80/91)

OGH13Os79/91 (13Os80/91)25.9.1991

Der Oberste Gerichtshof hat am 25.September 1991 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Hörburger als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Felzmann, Dr. Kuch, Dr. Massauer und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kandera als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Karl und Estella G***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach dem § 81 Z 2 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 19. Jänner 1989, AZ 6 E Vr 2525/88, S 3 kk verso und den Vorgang, daß im gleichen Verfahren über den Antrag des Staatsanwaltes vom 14. Juni 1989, S 91/II nicht entschieden wurde, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Kodek, der Angeklagten Estella G***** und der Verteidigerin Dr. Annemarie Schreiner, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten Karl G***** zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 19. Jänner 1989 (S 3 kk verso) verletzt den § 56 StPO, das Unterbleiben eines Zwischenerkenntnisses über den Antrag des Staatsanwaltes vom 14.Juni 1989 (S 91/II) auf "Ausscheidung des Verfahrens gegen Estella G***** den § 238 StPO iVm dem § 488 StPO.

Text

Gründe:

I./ Aus den Akten 6 E Vr 2525/88, 6 E Vr 136/89 und 6 E Vr 312/90, je des Landesgerichtes für Strafsachen Graz ergibt sich folgender Sachverhalt:

Am 9.Oktober 1988 ereignete sich im Gemeindegebiet von Zwaring-Pöls ein schwerer Verkehrsunfall. Die beteiligten Fahrzeuge waren einerseits ein PKW Mercedes 230 E, in dem sich die Eheleute Karl und Estella G***** sowie deren Sohn Andreas befanden, andererseits ein PKW Fiat 131, gelenkt von Franz K*****, in dem noch dessen Ehegattin Evelin sowie die gemeinsamen Kinder Birgit, Tanja und Martin, ferner Manfred F***** mitfuhren. Der Frontalzusammenstoß wurde durch die Fahrweise des PKW Mercedes herbeigeführt. Franz K***** starb an der Unfallstelle, seine Familienmitglieder wurden lebensgefährlich, F***** und Estella G***** schwer, Karl und Andreas G***** leicht verletzt (ON 2).

Karl G***** bestritt schon an der Unfallstelle, den Mercedes gelenkt zu haben, seine Ehegattin bekannte sich zur Lenkung dieses Fahrzeugs. Dennoch wurde offenbar aufgrund der Angaben der Unfallzeugen und vor allem des gerichtsmedizinischen Gutachtens über die Verletzungen des Ehepaares G***** sowie der Auswertung der Spuren im Fahrzeug Mercedes gegen Karl G***** Strafantrag nach den §§ 81 Z 2, 88 Abs. 1, 3 (81 Z 2) und 4 zweiter Fall (81 Z 2) StGB sowie auch wegen des Vergehens der Verleumdung nach dem § 297 Abs. 1 erster Fall StGB, begangen an Estella G***** erhoben. Unter einem beantragte die Staatsanwaltschaft Anlegung eines neuen Strafaktes gegen Estella G***** wegen Vergehens nach dem § 288 Abs. 1 StGB - begangen am 17.Oktober 1988 - und dessen Übermittlung zur weiteren Antragstellung. In Entsprechung dieses Antrags wurde der Akt 6 E Vr 136/89 angelegt, zu dem die Staatsanwaltschaft sodann Strafantrag gegen Estella G***** wegen des § 288 Abs. 1 StGB erhob. Gleichzeitig beantragte sie, die Akten gemäß dem § 56 StPO mit dem Verfahren 6 E Vr 2525/88 zur gemeinsamen Verhandlung zu verbinden. Diesem Antrag entsprach der Einzelrichter mit Beschluß vom 19.Jänner 1991 (Antrags- und Verfügungsbogen S 3 kk verso in 6 E Vr 2525/88).

Die Hauptverhandlung am 22.März 1989 wurde demgemäß gegen beide Beschuldigte gemeinsam geführt. In der darauf folgenden Hauptverhandlung am 14.Juni 1989 erklärte sich der Beschuldigte Karl G***** in keinem Punkt für schuldig, ebenso Estella G***** hinsichtlich der ihr vorgeworfenen falschen Beweisaussage; sie erklärte jedoch, sie fühle sich im Sinne des gegen ihren Ehegatten gestellten Strafantrags nach den §§ 80, 88 StGB, nicht aber hinsichtlich der Qualifikation des § 81 Z 2 StGB schuldig. In der Folge beantragte der Staatsanwalt die "Ausscheidung des Verfahrens gegen Estella G*****", weil weder subjektive noch objektive Konnexität vorliege (S 91/II in 6 E Vr 2525/88). Der Einzelrichter hielt dem entgegen, daß die Staatsanwaltschaft die Verbindung beantragt habe, wobei der Hauptgrund für das Gericht nicht § 56 StPO, sondern die Zweckmäßigkeit wegen Einsparung der doppelten Kosten gewesen sei (S 91/II in 6 E Vr 2525/88); er unterließ jedoch eine Entscheidung über diesen Antrag. Am Ende der folgenden Hauptverhandlung vom 8.November 1989 beantragte der Staatsanwalt Schuldspruch und Bestrafung im Sinne "des Strafantrages" (gemeint wohl: der Strafanträge). Das Gericht sprach mit Urteil vom gleichen Tag beide Beschudligten gemäß dem § 259 Z 3 StPO frei. Der Staatsanwalt gab hiezu keine Erklärung ab und beantragte die Zumittlung der Akten zwecks Einbringung eines neuen Strafantrages gegen Estella G***** wegen des § 81 Z 2 StGB.

In der Folge meldete die Staatsanwaltschaft zunächst Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld an, erklärte sodann, die Berufung nur wegen Schuld aufrecht zu erhalten, wegen Nichtigkeit aber zurückzuziehen und beantragte zugleich die Anlegung eines neuen Aktes gegen Estella G*****, in dem unter einem gegen sie ein Strafantrag wegen der §§ 81 Z 2, 88 Abs. 1, 3 (§ 81 Z 2) und 4 (§ 81 Z 2) StGB eingebracht wurde. Letztlich wurde auch die Berufung wegen Schuld zurückgezogen.

In dem neu angelegten Akt gegen Estella G*****, AZ 6 E Vr 312/90, erging gegen die Beschuldigte - nachdem ein Vorschlag des Einzelrichters, das Verfahren einzustellen (ON 35), in der Ratskammer keine Mehrheit gefunden hatte (AV v. 25.April 1990 auf S 1 und 4 des Antrags- und Verfügungsbogens) - das Urteil vom 10. Mai 1990, womit sie - die in der Hauptverhandlung geständig war - der Vergehen der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach dem § 81 Z 2 StGB sowie der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1, 3 (§ 81 Z 2) und 4 zweiter Fall (§ 81 Z 2) StGB schuldig erkannt wurde. Die Berufung der Angeklagten wegen Nichtigkeit und Strafe wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes Graz vom 20.November 1990, 10 Bs 323/90, als unbegründet zurückgewiesen. Der (der Sache nach auf den § 281 Abs. 1 Z 9 lit. b StPO gestützten) Nichtigkeitsbeschwerde entgegnete das Berufungsgericht, daß eine Alternativanklage gegen zwei Personen wegen einer Tat, die nur eine von ihnen begangen haben könne, unzulässig sei, so daß eine entsprechende Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Estella G***** nicht möglich gewesen wäre und das Anklagerecht durch die Unterlassung einer solchen Alternativanklage (daher) nicht erloschen sei.

Rechtliche Beurteilung

II./ Im Verfahren 6 E Vr 2525/88 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz wurde das Gesetz in der Bestimmung des § 56 StPO verletzt. Nach dieser Gesetzesstelle ist das Strafverfahren wegen aller strafbaren Handlungen, die einer Person zur Last liegen (subjektive Konnexität) und gegen alle Personen, die an derselben strafbaren Handlung beteiligt sind (objektive Konnexität) in der Regel bei dem selben Gericht gleichzeitig zu führen und über alle strafbaren Handlungen ein Endurteil zu fällen. Demnach fehlte es im vorliegenden Fall an einer gesetzlichen Grundlage für die Verbindung der Strafverfahren gegen Karl G***** wegen der §§ 81, 88, 297 StGB mit jenem gegen Estella G***** wegen des § 288 Abs. 1 StGB. Der sachliche Zusammenhang zwischen den beiden Verfahren - daß nämlich die falsche Beweisaussage der Estella G***** im Strafverfahren gegen Karl G***** abgelegt worden war - bildet keinen dem Gesetz bekannten Konnexitätstatbestand. In der dennoch erfolgten Verbindung der Verfahren gegen beide Personen lag zwar keine Nichtigkeit (Mayerhofer-Rieder StPO3 E 2, 5 zu § 56), sie stellt aber eine Verletzung des formellen Rechts dar. War somit schon der Beschluß des Einzelrichters vom 19. Jänner 1989 auf Verbindung der beiden Strafverfahren (S 3 kk verso) gesetzwidrig, so verletzte das Unterbleiben einer förmlichen Entscheidung über den Antrag des Staatsanwalts auf "Ausscheidung" (gemeint: mangels der Voraussetzungen des § 56 StPO) des Verfahrens gegen Estella G***** den § 238 StPO iVm dem § 488 StPO). Der Einzelrichter wäre verpflichtet gewesen, dem Antrag des Staatsanwalts nicht bloß Erwägungen entgegenzuhalten, sondern darüber mit formellem Zwischenerkenntnis zu entscheiden.

Diese sich nicht zum Nachteil eines Beschuldigten auswirkenden beiden Gesetzesverletzungen waren festzustellen.

Zu der von der Verteidigung im Berufungsverfahren aufgeworfenen Frage einer Verschweigung des Anklagerechtes hat die Generalprokuratur ausgeführt:

"Im übrigen seien der Vollständigkeit halber die prozessualen Auswirkungen dieses Vorganges, aus dem die Verteidigung Verschweigung des Anklagerechts ableitet, wie folgt dargestellt:

Wird der Angeklagte bei der Hauptverhandlung noch einer anderen Tat beschuldigt als wegen der er angeklagt ist, so kann der Gerichtshof ..... auf Antrag des Staatsanwalts ..... die Verhandlung und das Urteil auch auf diese Tat ausdehnen. Ist eine sofortige Aburteilung nicht möglich, so hat sich das Urteil auf den Gegenstand der Anklage zu beschränken und dem Ankläger - auf sein Verlangen - die selbständige Verfolgung wegen der hinzugekommenen Tat vorzubehalten, außer welchem Fall wegen dieser Tat eine Verfolgung nicht mehr zulässig ist (§ 263 Abs. 1 und 2 StPO).

Voraussetzung der Anklageausdehnung ist eine neue Beschuldigung, dh das Aufkommen einer neuen, bisher noch nicht bekannten oder nicht berücksichtigten Tat, wobei es gleichgültig ist, ob diese Tat der Anklagebehörde bisher bekannt war oder nicht. Auch eine Selbstbeschuldigung kommt in Betracht (Foregger-Serini, Kodek, StPO4 Anm. 1 zu § 263 mwN). Eine "Beschuldigung" der Estella G***** in diesem Sinn lag durch ihre eigene Aussage und die - von der Staatsanwaltschaft als verleumderisch beurteilten - Angaben ihres Ehegatten Karl G***** zweifellos vor. Ebenso steht fest, daß der Staatsanwalt die Anklage nicht ausgedehnt hat und ein Verfolgungsvorbehalt wegen des der Estella G***** vorgeworfenen Vergehens nach §§ 81 Z 2, 88 Abs. 1, 3, 4 zweiter Fall StGB daher nicht in Betracht kam. Müßte man davon ausgehen, daß auch bei einer Fallkonstellation wie sie hier vorlag, der Staatsanwalt zum Vorgehen nach § 263 StPO verpflichtet gewesen wäre, obgleich die neue Beschuldigung in diametralem Gegensatz zu seiner Beurteilung der Sachlage stand, so wäre der Schuldspruch der Estella G***** zweifellos wegen erloschenen Verfolgungsrechts des Anklägers mit dem Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs. 1 Z 9 lit. b StPO behaftet.

Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof in einigen Entscheidungen

die Meinung vertreten, der Staatsanwalt wäre bei einer solchen

Sachlage verpflichtet, bei sonstigem Verlust seines Anklagerechts

eine "Alternativanklage" zu erheben, auch wenn diese dem von ihm

eingenommenen Prozeßstandpunkt widerspreche (SSt. 27/56 =

RZ 1957, 11, SSt. 28/36 = EvBl. 1957/274 = JBl. 1957, 538 =

RZ 1957, 101).

Diesen Entscheidungen kann jedoch insoweit nicht gefolgt werden, als sie eine Anklage gegen zwei oder mehrere Personen wegen einer strafbaren Handlung, die nur eine von diesen begangen haben kann, für zulässig erachten. Alternativanklagen sind an sich in zwei Formen denkbar. Neben der schon erwähnten gegen zwei Personen, von denen nur eine schuldig sein kann, steht die in gewissen Grenzen allgemein für zulässig erachtete Anklage, mit der einer Person verschiedene strafbare Handlungen, mögen sie auch nicht nebeneinander bestehen können, vorgeworfen werden. Die strengen Anforderungen des Gesetzes an das Urteil, dem Wahlfeststellungen nur insoweit gestattet sind, als jede davon zur gleichen rechtlichen Beurteilung führt (zB zwei einander widersprechende Beweisaussagen einer Person, von denen eine somit falsch sein muß), gelten für die Staatsanwaltschaft nicht in diesem Ausmaß. Eine Alternativ- oder Eventualanklage gegen eine Person wegen einander ausschließenden strafbaren Handlungen ist in gewissen Fällen zulässig, mitunter sogar notwendig (vgl. EvBl. 1957/17 = RZ 1956/170, RZ 1965/143, RZ 1971, 153, 12 Os 124/80, JBl. 1971, 265 = RZ 1971, 12, 13 Os 92/80, 12 Os 121/82, 15 Os 123/90; vgl. auch das in JABl. 1972/22 der Staatsanwaltschaft aufgetragene Vorgehen bei Zweifeln, ob eine das Vergehen nach § 94 Abs. 1 StGB verdrängende Qualifikation des Vergehens nach § 88 StGB vom Gericht angenommen werden wird).

Hingegen wurde eine Alternativanklage im ersten Sinn von der Lehre immer für unzulässig gehalten (Lohsing-Serini4, S 358 oben;

Roeder, Lehrbuch (1963), S 180 Fn 1; die dort zitierten Entscheidungen widersprechen allerdings dem Inhalt der Aussage;

Foregger-Serini-Kodek StPO4 Anm. III zu § 270); schon S. Mayer, III, 16, lehrte, die Anklage habe nicht mit Möglichkeiten zu rechnen; sie "muß mit derselben Bestimmtheit den Beschuldigten und dessen Tat bezeichnen wie das spätere Strafurteil den Schuldigen". Auch in der Folge (S 19 ff) geht er bei Erörterung der zahlreichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, eine Anklage im Laufe der Verhandlung zu ändern, immer von der Prämisse des "Festhaltens an der (scil angeklagten) Tat" aus (insb. RN 58, 61). Die ältere verfahrensrechtliche Literatur

(Ullmann - 1882 - S 497 ff, 617 ff, Rulf - 1874 - S 220, 263 f, Riehl - 1884 - S 107, 149, Mitterbacher - 1882 - S 309, 413, bis zu Gleispach - 1924 - S 222 f, 228) gedenkt des den Autoren offenbar nicht bewußten Problems im übrigen ebensowenig wie die aktuellen Lehrbücher von Bertel - 1990 - S 148, 156, und Platzgummer - 1990 - S 118, 129. Die Vorstellung, daß der Staatsanwalt gegen sämtliche Personen, bei denen eine Tatbegehung nicht ausgeschlossen erscheint, gleichzeitig Anklage erheben müsse, um dem Gericht die Entscheidung zu überlassen, wer schuldig sei, ist mit dem Wesen des Anklageprozesses nicht in Einklang zu bringen. Dieser räumt dem Ankläger ja nicht bloß eine formale Rolle ein, sondern verpflichtet ihn, nach seiner Überzeugung schuldige Täter zu verfolgen. Kann somit nicht bezweifelt werden, daß eine derartige Alternativanklage nicht den Anforderungen des § 207 StPO an die schriftliche Anklage genügen würde, sondern entgegen der in SSt. 27/56 vertretenen Meinung den Einspruch jedes Einzelnen der Angeklagten begründet erscheinen ließe, so muß eben dies auch für die mündliche Ausdehnung der Anklage nach § 263 StPO gelten.

Hat der Staatsanwalt Anklage gegen eine Person wegen einer bestimmten Tat erhoben, so ist es ihm unmöglich und daher verwehrt, "alternativ" oder "eventual" dieselbe Tat einem anderen Beschuldigten anzulasten, mögen sich auch in der Hauptverhandlung gegen diesen anderen Verdachtsmomente ergeben haben. Eine Ausdehnung der Anklage ist nur möglich, wenn in diesem Zeitpunkt ein Anklagerecht des Anklägers vorliegt; ist dieses durch Erhebung der Anklage gegen eine andere, nach Meinung des Staatsanwaltes schuldige Person - temporär, bis zur Entscheidung des Gerichts über die Anklage - verbraucht, so kann ihm eine mit der vorliegenden in Widerspruch stehende Anklage nicht abverlangt werden. Die Vorschrift des § 263 StPO findet daher ihre natürliche Grenze im Anklagerecht des Anklägers; fehlt es an diesem (vgl. etwa auch das bezirksgerichtliche Verfahren, in dem nach herrschender Ansicht der Bezirksanwalt nicht wegen einer Gerichtshoftat die Anklage ausdehnen kann), so kann er die Anklage nicht ausdehnen. Daraus aber folgt zwingend, daß er dann seines Anklagerechtes auch nicht durch Verschweigen verlustig geht."

Demgemäß ist nach Auffassung der Generalprokuratur durch das - wegen des vorliegenden Strafantrags gegen Karl G***** wegen der identen Tat notwendige - Unterbleiben einer alternativen Anklage gegen Estella G***** in der Hauptverhandlung vom 8. November 1989 das Verfolgungsrecht des öffentlichen Anklägers nicht beeinträchtigt worden, so daß dem folgenden Schuldspruch dieser Beschuldigten kein Nichtigkeitsgrund anhaftet.

Diesen Ausführungen der Generalprokuratur ist im Ergebnis beizupflichten und noch folgendes hinzuzufügen:

Die Bestimmung des § 263 StPO beruht ihrem Wesen nach auf dem gesetzlichen Postulat , daß über mehrere demselben Beschuldigten zur Last liegende strafbare Handlungen nach Möglichkeit in einem gemeinsamen Verfahren entschieden werden soll (§ 56 StPO) und dient damit der Verwirklichung des sogenannten Absorptionsprinzips, also den Regeln für die Strafbemessung bei mehreren (real- oder idealkonkurrierend) zusammentreffenden strafbaren Handlungen (§ 28 StGB; vgl. Mayerhofer-Rieder StPO3 E 2 zu § 263; Bertel Strafprozeßrecht3 Rz 505). Sie hat also den Fall im Auge, daß der Angeklagte neben der unter Anklage gestellten Tat in der Hauptverhandlung zusätzlich einer anderen Tat beschuldigt wird. Dies kommt auch in der gesetzlichen Wortfolge "noch einer anderen Tat" (§ 263 Abs. 1 StPO) und "hinzugekommene strafbare Handlung" (§ 263 Abs. 2 und Abs. 3 StPO) deutlich zum Ausdruck. Auf den hier aktuellen Fall, daß sich auf Grund der Ergebnisse der Hauptverhandlung der Verdacht ergibt, daß eine Angeklagte anstatt der ihr in der Anklage zur Last gelegten Tat die damit denkgesetzlich unvereinbare, dem Mitangeklagten zum Vorwurf gemachte Tat begangen haben könnte, ist § 263 StPO nicht gemünzt. Deshalb kommen auch die Verfolgungsbeschränkungen nach dem § 263 Abs. 2 letzter Halbsatz StPO in einem solchen Fall überhaupt nicht in Betracht.

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