OGH 2Ob11/91

OGH2Ob11/9110.4.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner, Dr. Schwarz und Dr. Schinko als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Friedrich S*, vertreten durch Dr. Georg Pertl, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagten Parteien 1.) Bernd W*, und 2.) W* Versicherungsanstalt, *, beide vertreten durch Dr. Hellmuth Schwartz, Rechtsanwalt in Feldkirchen, wegen 83.547 S sA infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 18. Dezember 1990, GZ 1 R 298/90-12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 9. Oktober 1990, GZ 24 Cg 168/90‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1991:0020OB00011.91.0410.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 5.603,40 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 933,90 S an Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 14. 2. 1989 kam es gegen 10.40 Uhr im Bereich der Einmündung der W* Gemeindestraße (im Verfahren auch genannte: Privatweg zum Anwesen P*) in die T* Bundesstraße zu einem Verkehrsunfall, an dem der von der Gemeinde mit der Schneeräumung beauftragte Kläger mit seinem Traktor Marke Lindner B 450 SA (K *) und der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW Isuzu Trooper (K *) beteiligt waren. Der Erstbeklagte fuhr auf der T* Bundesstraße in südlicher Richtung bergab (ca 12 % Gefälle), der Kläger fuhr von der Gemeindestraße aus südwestlicher Richtung kommend in die bevorrangte Bundesstraße (nach links einbiegend) ein. Dabei wurden beide Fahrzeuge beschädigt; dem Kläger entstand ein Schaden in der Höhe von 83.547 S. Zur Unfallszeit herrschte starker Schneefall, die Straßen waren eisglatt.

Der Kläger begehrte mit der vorliegenden Klage von den Beklagten zur ungeteilten Hand den Ersatz des ihm bei diesem Unfall entstandenen Schadens, weil der Erstbeklagte den Unfall durch Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit und Verletzung der bestehenden Kettenanlegepflicht allein verschuldet habe. Der Kläger habe sich mit dem Traktor bereits auf der Bundesstraße befunden, als das Fahrzeug des Erstbeklagten für ihn sichtbar geworden sei.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Den Kläger treffe wegen Mißachtung des Vorranges des Erstbeklagten das alleinige Verschulden an dem Unfall. Ohne Schneeketten sei die Straße besser zu befahren gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, daß die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig sei.

Die von den Vorinstanzen über den bereits wiedergegebenen Sachverhalt hinaus getroffenen Feststellungen lassen sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen:

Die Fahrbahnlängsachse der W* Gemeindestraße schließt mit der Fahrbahnlängsachse der Bundesstraße einen Winkel von ca 10 Grad ein; der Einmündungstrichter dieser Straße weist eine Breite von ca 13 m auf. Die nördliche Begrenzung des Einmündungstrichters wurde - zur Darstellung des Unfallsherganges - als Fixpunkt angenommen. Die Gemeindestraße fällt zur Bundesstraße hin ab. Im Bereich der Unfallsstelle beschreibt die Bundesstraße eine langgezogene Rechtskurve. Von Norden kommend kann der Einmündungstrichter aus einer Position etwa 50 m nördlich der Bezugslinie das erste Mal eingesehen werden. Der im Bereich der Straßeneinmündung östlich der Bundesstraße befindliche Verkehrsspiegel war zur Unfallszeit witterungsbedingt angelaufen und damit nicht funktionstauglich. Die Unfallsstelle liegt im Freilandgebiet ohne besondere Verkehrsbeschränkungen. Zur Unfallszeit waren Schneeketten vorgeschrieben. Der Erstbeklagte näherte sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 – 70 km/h. Im näheren Unfallsbereich war die Sicht auf mindestens 100 m gegeben. Um auf Sicht zu fahren, wäre bei der möglichen (mittleren) Verzögerung von 2 m/sec2 eine Geschwindigkeit von 65 km/h zulässig gewesen. Der Erstbeklagte reagierte 4,4 Sekunden vor der Kollision und 66 m nördlich des Fixpunktes durch Bremsen und Auslenken nach rechts darauf, daß der Traktor des Klägers in die Fahrbahn bewegt wurde. Dem Erstbeklagten gelangt es, seine Geschwindigkeit bis zum Zusammenstoß auf 40 – 45 km/h zu verringern. Der Traktor hielt eine Geschwindigkeit von 4 km/h ein, obwohl er auch mit 10 km/h hätte gefahren werden können, in welchem Falle der Kläger die Fahrlinie des Erstbeklagten geräumt hätte. Der Kläger erlangte frühestens 1,5 Sekunden nach der Reaktion des Erstbeklagten Sicht auf dessen Fahrzeug. Durch eine Bremsung hätte der Traktor die Bundesstraße gesperrt. Der Zusammenstoß erfolgte 3 m südlich des Fixpunktes und 1 m östlich der westlichen Begrenzung der Bundesstraße. Um auf 69 m (bis zur Unfallstelle) anhalten zu können, hätte der Erstbeklagte keine höhere Geschwindigkeit als 52 km/h einhalten dürfen. Schneeketten hätten auf der (nur) vereisten Fahrbahn keinen Vorteil gebracht. Der Erstbeklagte hätte allerdings bei Verwendung von Schneeketten nur höchstens mit 40 km/h fahren können und bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit sein Fahrzeug auf eine Strecke von 42 m anhalten und damit den Unfall vermeiden können.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß der Kläger den Vorrang des Erstbeklagten mißachtet habe und dem Erstbeklagten weder eine überhöhte Geschwindigkeit noch eine Reaktionsverspätung anzulasten sei. Die Vorschrift über das Anlegen von Schneeketten habe nicht den Zweck, eine Geschwindigkeitsminderung herbeizuführen. Das Alleinverschulden treffe daher den Kläger.

Das Gericht zweiter Instanz übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und erachtete davon ausgehend auch die in der Berufung ausgeführte Rechtsrüge als unzutreffend. Ausgehend von den für den Kläger als Wartepflichtigen bestehenden schlechten Sichtverhältnissen wäre der Kläger verpflichtet gewesen, sich äußerst vorsichtig zur Kreuzung und auf diese vorzutasten, bis er die notwendige Sicht erlangt hätte. "Vortasten" bedeute dabei in der Regel ein schrittweises oder zentimeterweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu einem Punkt, von dem aus die Sicht möglich ist. Ein langsames Einfahren in einem Zuge in eine Kreuzung durch den Wartepflichtigen bedeute bei schlechten Sichtverhältnissen eine Vorrangverletzung (vgl ZVR 1980/337). Zwar setzten die Vorrangbestimmungen die Wahrnehmbarkeit des anderen Fahrzeuges voraus, dies gelte aber nur für den Fall, daß es dem Wartepflichtigen auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich sei, das andere Fahrzeug wahrzunehmen, nicht aber dann, wenn das Nichtwahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen sei (ZVR 1986/12 ua). Dadurch, daß der Kläger in einem Zuge verhältnismäßig langsam in die bevorrangte Bundesstraße eingefahren sei, ohne sich "vorzutasten", habe er den Vorrang des Erstbeklagten verletzt. Ihn treffe somit ein Verschulden am Zustandekommen dieses Unfalles. Dabei seien Vorrangverletzungen im Sinne ständiger Rechtsprechung stets schwerwiegend. Bei der festgestellten asphaltierten Fahrbahnbreite (6,5 m) habe für den Erstbeklagten keine Verpflichtung bestanden, auf halbe Sicht zu fahren. Um auf Sicht zu fahren, sei eine Geschwindigkeit von 65 km/h noch zulässig gewesen. Daß der Erstbeklagte diese Geschwindigkeit überschritten hätte, sei nicht festgestellt worden. Wie bereits erwähnt, habe eine Sichtmöglichkeit auf mindestens 100 m im näheren Unfallsbereich bestanden. Wie das Erstgericht bereits zutreffend ausgeführt habe, seien gemäß § 52 lit b Z 22 StVO auf Straßen, an deren Beginn das Vorschriftszeichen angebracht sei, Schneeketten zu verwenden, auch wenn es stellenweise nicht erforderlich sei. Dabei sei die Geschwindigkeit bei Verwendung von Schneeketten entsprechend anzupassen. Der natürliche Zweck der Verwendung von Schneeketten sei die Erreichung einer besseren Haftung zumindest der Antriebsräder. Damit solle die Verkehrssicherheit, insbesondere die Beweglichkeit von Fahrzeugen auf schneebedeckten Fahrbahnen verbessert werden. Die mit der Verwendung von Schneeketten verbundene notwendige Verminderung der möglichen Höchstgeschwindigkeit könne nicht als Zweck der Vorschrift zur Verwendung von Schneeketten erkannt werden. Die Vorschrift zur Anlegung von Schneeketten könne zwar grundsätzlich als Schutznorm angesehen werden, um damit ein "Hängenbleiben", aber auch ein Abrutschen von Fahrzeugen zu verhindern. Ein Schutzzweck der Norm in dem Sinne, um damit eine Geschwindigkeitsverringerung indirekt mit Rücksicht auf die technische Möglichkeit, mit Schneeketten nur eine Geschwindigkeit von höchstens 40 km/h einzuhalten, herbeizuführen, sei aber daraus nicht ableitbar. Die Übertretung einer Schutznorm mache für den durch diese Übertretung verursachten Schaden aber nur insofern haftbar, als durch die Schutznorm gerade dieser Schaden verhindert habe werden sollen (kongruente Beschädigung) und als gerade diejenigen Interessen verletzt worden seien, deren Schutz im Zweckbereich der Norm liege (vgl die in der MGA des ABGB33 zu § 1311 unter E 36 angeführten Entscheidungen). Die Vorschrift betreffend das Anlegen von Schneeketten könne somit nicht als Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung betrachtet werden, sodaß wie bei einer ausdrücklich angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkung der spezifische Rechtswidrigkeitszusammenhang einer Zuwiderhandlung mit dem hinter der Anordnung stehenden Schutzzweck zu bejahen wäre, weil auch Dritte auf die Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung vertrauen dürften. Ein Mitverschulden des Erstbeklagten am Zustandekommen dieses Unfalles könne somit weder in einer Reaktionsverzögerung noch in der Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit erkannt werden. Soweit die Berufungsausführungen davon ausgingen, der Kläger hätte verspätet oder falsch reagiert, stünden sie nicht in Übereinstimmung mit dem festgestellten Sachverhalt. Der Berufung sei daher ein Erfolg zu versagen gewesen.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Berufungsgericht damit, daß ihm eine Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Zweckbereich der Norm über die Verpflichtung zum Anlegen von Schneeketten bezogen auf die damit verbundene mögliche Höchstgeschwindigkeit nicht zur Verfügung stünden, hier also eine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung zu lösen sei (§ 500 Abs 2 Z 3 ZPO).

Gegen diese Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die auf den Anfechtungsgrund des § 503 Z 4 ZPO gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt und - ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 2 : 1 zugunsten des Klägers - die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens zu 2/3 oder letztlich die Aufhebung dieser Entscheidungen beantragt.

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Zulässigkeit der Revision wurde vom Berufungsgericht zu Recht bejaht, weil zu der hier zu entscheidenden Frage, ob der Schutzzweck der Bestimmung des § 52 lit b Z 22 StVO ("Schneeketten vorgeschrieben") auch darin besteht, gefahren zu vermeiden, die aus der Einhaltung einer höheren als bei der Verwendung von Schneeketten technisch möglichen Geschwindigkeit entstehen - soweit überblickbar -, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes besteht und die Bedeutung der Entscheidung dieser Frage doch über den Einzelfall hinausgeht.

Daß die Vorschriften der StVO grundsätzlich Schutzvorschriften im Sinne des § 1311 ABGB sind (JBl 1982, 154; SZ 56/134; ZVR 1988/41 und 85 uva), ist im Verfahren nicht mehr strittig; ebensowenig, daß die Übertretung einer Schutznorm nur insofern für den durch die Übertretung verursachten Schaden haftbar macht, als durch die Schutznorm gerade dieser Schaden verhindert werden sollte (SZ 61/43; ZVR 1990/119 uva). Der Schutzzweck einer Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den im konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten wollte, ist das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren (ZVR 1988/44, 85 und 94; ZVR 1990/119 uva). Die Vorinstanzen haben zutreffend erkannt, daß die Bestimmung des § 52 lit b Z 22 StVO, die die Anlegung von Schneeketten auf mindestens zwei Antriebsrädern gebietet, eine Verbesserung der Bodenhaftung von Kraftfahrzeugen und damit deren Fortbewegungsfähigkeit auf schneebedeckter Fahrbahn bezweckt. Dem Berufungsgericht ist auch darin beizupflichten, daß vom Zweck dieser Norm auch die Vermeidung von Gefahren erfaßt ist, die beim Wegschaffen eines "hängengebliebenen" Fahrzeuges von der schneebedeckten Fahrbahn entstehen (2 Ob 128/88). Der Oberste Gerichtshof billigt auch die Auffassung der Vorinstanzen, daß eine Verbesserung der Verkehrssicherheit, die sich daraus ergeben kann, daß Kraftfahrzeuge bei Verwendung von Schneeketten technisch gefahrlos nur eine geringere als sonst mögliche Fahrgeschwindigkeit einhalten können, vom Schutzzweck dieser Norm nicht erfaßt wird, zumal die bei Verwendung von Schneeketten technisch mögliche Fahrgeschwindigkeit nicht bei allen Fahrzeugen gleich hoch ist und damit für andere Verkehrsteilnehmer auch nicht die Möglichkeit besteht, aus der Verpflichtung zur Verwendung von Schneeketten auf die Einhaltung einer für alle Kraftfahrzeuge in gleichem Maß beschränkten Geschwindigkeit zu vertrauen. Liegt der Normzweck der Kettenanlegungspflicht aber nicht in der Verhinderung von Gefahren im Straßenverkehr, die die Einhaltung einer höheren als der nach den Straßen- und Verkehrsverhältnissen zulässigen Geschwindigkeit mit sich bringt, so fehlt es am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Erstbeklagten gegen das Gebotszeichen des § 52 lit b Z 22 StVO und der Einhaltung einer höheren Fahrgeschwindigkeit, als sie bei der Anlegung von Schneeketten - vom verkehrstechnischen Standpunkt aus betrachtet - zulässig gewesen wäre. Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers handelt es sich bei dem genannten Straßenverkehrszeichen nicht um ein - nunmehr zu den Gefahrenzeichen zählendes - "Warnzeichen", das die Verkehrsteilnehmer auf die "besonders gefährlichen Verhältnisse, die auf der Straße bedingt durch die Witterung herrschen, hinweist, und die Verkehrsteilnehmer dazu verpflichtet, sich auf diese Verhältnisse dahingehend anzupassen, daß Schneeketten angelegt werden und das Fahrverhalten entsprechend den Verhältnissen angepaßt werde", weil die Ankündigung besonderer, nicht durch eigene Gefahrenzeichen (§ 50 Z 1 bis 15 StVO) ausgedrückten Gefahrensituationen durch das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 16 StVO mit einer entsprechenden Zusatztafel unter dem Zeichen anzukündigen ist; dieses Gefahrenzeichen hätte dann zur Folge, daß sich die Lenker von Fahrzeugen in geeigneter Weise, erforderlichenfalls durch Verminderung der Geschwindigkeit, der angekündigten Gefahr entsprechend zu verhalten haben (§ 49 Abs 1 StVO). Mit dem Vorschriftszeichen nach § 52 lit b Z 22 StVO läßt sich diese Rechtsfolge nicht auslösen. Dem Revisionswerber kann somit darin nicht gefolgt werden, er hätte im Hinblick auf die Verpflichtung der die bevorrangte Vorrangstraße benützenden Verkehrsteilnehmer, Schneeketten anzulegen, darauf vertrauen dürfen, die Fahrzeuge auf der Bundesstraße würden keine höhere Geschwindigkeit als 50 km/h einhalten. Haften die Beklagten somit nicht wegen Verletzung einer Schutzvorschrift, so oblag ihnen auch nicht die Pflicht, sich von der Haftung durch den Beweis zu befreien, daß der Schaden auch eingetreten wäre, wenn der Erstbeklagte sich vorschriftsmäßig verhalten, er also nur jene Geschwindigkeit eingehalten hätte, mit der bei der Verwendung von Schneeketten im allgemeinen gefahren werden kann.

Da es sich bei dem zur Schneeräumung eingesetzten Fahrzeug des Klägers um kein "Einsatzfahrzeug" iSd § 26 StVO handelte, hatte der Kläger ungeachtet der Tatsache, daß andere Straßenbenützer ihm gegenüber zu besonderer Vorsicht verpflichtet waren (§ 27 Abs 2 StVO), die allgemeinen Vorrangregeln zu beachten (vgl ZVR 1982/74). Daß der Erstbeklagte dem Kläger gegenüber gemäß § 19 Abs 3 StVO Vorrang hatte, ist nicht strittig. Der Kläger vertritt in seiner Revision allerdings den Standpunkt, die Vorinstanzen hätten ihm zu Unrecht eine Vorrangverletzung angelastet; von schlechten Sichtverhältnissen könne keine Rede sein, das Berufungsgericht sei daher zu Unrecht von der Annahme ausgegangen, er hätte sich nur äußerst vorsichtig in die Kreuzung vortasten dürfen. Dem kann nicht gefolgt werden.

Insoweit der Revisionswerber seiner Rechtsrüge die Annahme zugrundelegt, für ihn hätten keine "schlechten Sichtverhältnisse" geherrscht, geht er nicht von den Feststellungen der Vorinstanzen aus, aus welchen sich ergibt, daß sich die Unfallsstelle im Bereich einer langgezogenen Rechtskurve befindet und der vom Kläger benützte Einmündungstrichter - in Fahrtrichtung des Erstbeklagten gesehen - auf etwa 50 m eingesehen werden kann. Daß unter diesen Umständen die Sicht eines von der benachrangten Straße kommenden Verkehrsteilnehmers in Richtung Norden, also in jene Richtung, aus der der Erstbeklagte kam, ungünstig ist, ergibt sich auch daraus, daß die Straßenverwaltung es angezeigt erachtete, durch Aufstellung eines - zur Unfallszeit allerdings witterungsbedingt nicht funktionstauglichen - Verkehrsspiegels die Sicht vom Einmündungstrichter (und zwar von dessen südlichem Drittel) zu verbessern. Bei schlechten Sichtverhältnissen hat sich aber der Wartepflichtige - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte - äußerst vorsichtig zur Kreuzung und auf diese vorzutasten, bis er die notwendige Sicht gewinnt. Dem Berufungsgericht ist auch darin beizupflichten, daß unter "Vortasten" in der Regel ein schrittweises oder zentimeterweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu jenem Punkt zu verstehen ist, von dem aus die Sicht möglich ist. Ein langsames Einfahren in einem Zug in die Kreuzung - wie es der Kläger hier vorgenommen hat - bedeutet bei schlechten Sichtverhältnissen eine Vorrangverletzung (ZVR 1980/337 ua). In der Annahme einer Vorrangverletzung seitens des Klägers durch das Berufungsgericht kann somit kein Rechtsirrtum erblickt werden.

Der Revisionswerber erachtet sich in seiner Rechtsrüge weiters dadurch beschwert, daß die Vorinstanzen dem Erstbeklagten nicht wegen der von ihm eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit von etwa 60 bis 70 km/h ein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls angelastet haben. Insoweit er meint, auf Grund der Feststellungen der Vorinstanzen sei es nicht einmal sicher, ob der Erstbeklagte überhaupt dem Gebot des Fahrens auf Sicht entsprochen habe, weil die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit mit 60 bis 70 km/h festgestellt worden sei, die bei der hier erreichbaren Verzögerung zulässige Geschwindigkeit bei Einhaltung des Gebotes des Fahrens auf Sicht jedoch 65 km/h betragen hätte, übersieht der Kläger, daß ihn die Behauptungs- und Beweislast für alle Tatumstände traf, aus denen ein die Haftung für die Unfallsfolgen begründendes Verschulden des Erstbeklagten abgeleitet wird und jede in dieser Richtung verbleibende Unkarheit in tatsächlicher Hinsicht zu seinen Lasten geht (ZVR 1985/153 uva). Da die Vorinstanzen die vom Erstbeklagten eingehaltene Geschwindigkeit nur mit etwa 60 bis 70 km/h feststellen konnten, ist hinsichtlich der Frage, ob der Erstbeklagte der Verpflichtung des Fahrens auf Sicht entsprochen hat, zu seinen Gunsten von einer Geschwindigkeit von 60 km/h auszugehen. Da die Annäherungsgeschwindigkeit des Erstbeklagten unter den gegebenen Umständen (Befahren der bevorrangten Bundesstraße bei einer Sicht von mindestens 100 m und einer erreichbaren mittleren Verzögerung von 2 m/sec2) bei 65 km/h hätte liegen dürfen, um dem Fahren auf Sicht noch entsprechen zu können, hat das Berufungsgericht es mit Recht abgelehnt, dem Erstbeklagten einen Verstoß gegen dieses Gebot anzulasten. Mit einer Vorrangverletzung an sich mußte er - entgegen der Ansicht des Revisionswerbers - allerdings nicht rechnen. Der dem Kläger zur Last liegenden, vom Berufungsgericht mit Recht als grob verkehrswidrigen Verhalten gewerteten Vorrangverletzung des Klägers gegenüber kann die vom PKW des Erstbeklagten ausgehende gewöhnliche Betriebsgefahr vernachlässigt werden. Unter diesen Umständen erscheint es auch nicht erforderlich, die Beklagten zur Schadensteilung im Sinne des § 11 EKHG heranzuziehen.

Der Revision konnte somit kein Erfolg beschieden sein.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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