Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen.
Text
Begründung
Die Minderjährige ist das uneheliche Kind der Sabine D*****, nunmehr verehelichte R*****, und Manfred G*****. Sie wuchs zunächst bei ihren Eltern auf, die im Haus der väterlichen Großmutter in K***** wohnten. Im Sommer 1987 trennten sich die Eltern; die Mutter zog mit der Minderjährigen nach V*****, während der Vater bei seiner Mutter blieb. Da die Mutter der Minderjährigen nicht in der Lage war, ihr Kind ausreichend zu betreuen - sie hatte sich um die Minderjährige nur wenig gekümmert und war nächtelang nicht zu Hause -, genehmigte das Erstgericht mit Beschluß vom 14.1.1988, ON 5, die mit Zustimmung der Mutter vorgenommene Unterbringung der Minderjährigen bei der väterlichen Großmutter in K*****, wo auch der Vater des Kindes wohnt.
Nachdem die Mutter am 23.1.1988 mit Gerald R***** die Ehe geschlossen hatte, beantragte sie, ihr die Minderjährige in ihre eigene Pflege und Erziehung zu übergeben (ON 6). Mit Beschluß vom 6.6.1988, ON 9, wies das Erstgericht diesen Antrag ab. Die Eheleute R***** lebten nicht in geordneten Verhältnissen. Gerald R***** sei arbeitslos; keiner der Eheleute bemühe sich um einen Arbeitsplatz. Eine Änderung der Pflegeverhältnisse läge daher nicht im Interesse des Kindes.
Den neuerlichen Antrag der Mutter vom 2.11.1989, ihr die Minderjährige in Eigenpflege zu übergeben (ON 24), wies das Erstgericht - mit Beschluß vom 23.3.1990, ON 30, wiederum ab. Seit der Eheschließung der Mutter gebe es keinerlei Klagen mehr über sie zu berichten. Sie führe ein geordnetes Leben; ihr Gatte arbeite ständig und verfüge über ein regelmäßiges Einkommen. Am 14.8.189 sei der eheliche Sohn Marko zur Welt gekommen; er werde von den Eltern einwandfrei gepflegt und erzogen. Da sie aber nur über eine 25 m2 große Wohnung verfüge, könne dem Antrag der Mutter derzeit nicht stattgegeben werden.
Nachdem das Ehepaar R***** eine größere Wohnung erhalten hatte, wiederholte die Mutter am 29.5.1990 ihren Antrag (ON 37).
Der Vater und die väterliche Großmutter sprachen sich dagegen aus. Die Mutter habe in den letzten sechs Monaten vor ihrem Antrag ihr Kind nicht mehr besucht, obwohl ihr ein wöchentliches Besuchsrecht eingeräumt worden sei; das zeige die geringe Bindung an ihre Tochter. Die Minderjährige habe seit ihrer Geburt stets bei der väterlichen Großmutter - im Familienverband mit dem Vater - gelebt. Das Kind habe eine innige Bindung zur Großmutter und zum Vater gewonnen, während es zur Mutter kaum Beziehungen habe (ON 38). Man werde auch den Willen des Kindes zu beachten haben (ON 39). Ein Wechsel der Bezugsperson wäre für das Kind von Nachteil.
Mit Beschluß vom 5.10.1990, ON 43, sprach das Erstgericht aus, daß die Minderjährige ihrer Mutter in Pflege und Erziehung rückübergeben und gleichzeitig der Mutter die Obsorge im Teilbereich der Pflege und Erziehung übertragen werde. Es stellte fest:
Die Mutter bewohnt seit 1.6.1990 mit ihrem Gatten und dem minderjährigen Marko eine Drei-Zimmer-Küche-Wohnung in V*****. Die Wohnung ist äußerst gepflegt und liebevoll eingerichtet. Für die Minderjährige ist zusammen mit Marko ein eigenes Zimmer mit einem Stockbett für beide Kinder vorgesehen. Zwischen der zuständigen Sozialarbeiterin und der Mutter besteht ein regelmäßiger Kontakt. Die Pflege und Erziehung des minderjährigen Marko ist seit seiner Geburt als konstant gut zu bezeichnen. Auch die Ehe der Mutter ist stabil; ihr Gatte geht einer ständigen Beschäftigung nach. Die Pflege und Erziehung der Minderjährigen durch die väterliche Großmutter kann im großen und ganzen als in Ordnung bezeichnet werden. Im Haushalt der väterlichen Großmutter wohnen noch deren Mutter und der Vater der Minderjährigen mit seiner Lebensgefährtin. Da es zwischen der Großmutter und dem Vater Meinungsverschiedenheit über Pflege und Erziehung gibt, ist von einer konsequenten Erziehung nicht zu sprechen.
Die Mutter konnte das ihr gerichtlich eingeräumte Besuchsrecht des öfteren nicht ausüben, weil sie über kein Fahrzeug verfügt und durch die Betreuung ihres Kleinkindes im Säuglingsalter zusätzlich beansprucht ist. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist für sie kaum möglich. Zeitweise hat die väterliche Großmutter die Ausübung des Besuchsrechtes durch die Mutter mit verschiedenen Ausreden, wie Krankheit des Kindes udgl., verhindert. Einer Aufforderung des Bezirksjugendamtes, das Besuchsrecht zu ermöglichen, kam die Großmutter mit dem Hinweis darauf nicht nach, daß sie einen Rekurs erhoben habe. Hierauf riet die zuständige Sozialarbeiterin der Mutter, zum Wohl des Kindes bis zu einer rechtskräftigen Erledigung der Entscheidung über das Besuchsrecht darauf vorderhand zu verzichten, um die Fronten nicht noch mehr zu verhärten.
Rechtlich meinte der Erstrichter, daß die Rückübertragung der Obsorge an die Mutter dem Wohl des Kindes entspreche. Der Mutter könne nicht vorgeworfen werden, daß sie ihr Besuchsrecht zu selten ausgeübt habe. Richtig sei zwar, daß die Erziehungsverhältnisse nicht ohne besondere Gründe gewechselt werden sollten; der Mutter gebühre aber der Vorrang vor der väterlichen Großmutter, sobald sie die Voraussetzungen für eine gedeihliche Erziehung der Minderjährigen erbringe. Wenn auch das Verhältnis der Minderjährigen zu ihrer Großmutter und zu ihrem Vater als gut zu bezeichnen sei, müsse doch gesagt werden, daß die Unterbringung der Minderjährigen bei ihrer Großmutter von vornherein nicht als Dauerlösung, sondern nur zur Überbrückung einer momentanen Erziehungsschwäche der Mutter gedacht gewesen sei.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Der Gang des Verfahrens lasse eine grundlegende Änderung der Lebenshaltung und der Einstellung der Mutter erkennen. Durch ihre Eheschließung und die Geburt des minderjährigen Marko sei eine entscheidende Wende zum Besseren eingetreten. Die Rückführung des Kindes in die Pflege und Erziehung seiner Mutter liege in dessen Interesse. Dem könne nicht entgegengehalten werden, daß die Mutter zuletzt mit dem Kind nur selten Kontakt gehalten habe. Die Sozialarbeiterinnen hätten wiederholt auf die gute Beziehung zwischen Mutter und Kind hingewiesen. Wenn die Mutter das Besuchsrecht zuletzt seltener ausgeübt haben sollte, dann liege dies an der Entfernung ihrer Wohnung zu jener der Großmutter und daran, daß sie keinen eigenen PKW habe und der Vater sowie die Großmutter jede Mithilfe unterlassen hätten. Da die Verhältnisse bei der Mutter auf Dauer für das Kind günstig beurteilt werden könnten, sei die Unterbringung der Minderjährigen bei ihr, wo sie im Familienverband auch mit ihrem Bruder aufwachsen könne, gegenüber derjenigen bei der Großmutter jedenfalls günstiger.
Gegen diesen Beschluß wendet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der väterlichen Großmutter mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß der Antrag der Mutter auf Übertragung von Pflege und Erziehung abgewiesen werde, hilfsweise die Sache zur neuerlichen Erhebung und Verfahrensergänzung an die Unterinstanzen zurückzuverweisen.
Rechtliche Beurteilung
Dieses Rechtsmittel ist zulässig, weil im Interesse der Rechtssicherheit wahrzunehmen ist, daß die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen keine hinreichende Grundlage für die Beurteilung bilden, ob die angeordnete Maßnahme dem Wohl des Kindes dient; er ist auch berechtigt.
Nach § 166 Satz 1 ABGB kommt die Obsorge für ein uneheliches Kind der Mutter allein zu. Wie schon das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, bedeutet die mit dem Beschluß ON 5 genehmigte Unterbringung der Minderjährigen bei ihrer väterlichen Großmutter zum Zweck der Pflege der Erziehung eine Maßnahme nach § 176 ABGB in der derzeit gültigen Fassung, hat doch das Gericht damit zur Sicherung des Wohles des Kindes, das durch das Verhalten seiner Mutter gefährdet war, der Mutter teilweise die Obsorge entzogen und der väterlichen Großmutter übertragen. Die Mutter strebt nun eine Aufhebung dieser Einschränkung ihrer Rechte und Pflichten an. Unter welchen Voraussetzungen Anordnungen nach § 176 ABGB wieder aufzuheben sind, wird im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Wie der Oberste Gerichtshof schon mehrmals ausgesprochen hat (SZ 51/112; 1 Ob 636/85 = EfSlg 48.419), ist es aber selbstverständlich, daß Voraussetzung für eine solche Maßnahme die Endigung der Gefährdung des Wohles der minderjährigen Kinder sein muß. Während die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten nur als äußerste Notmaßnahme gerechtfertigt werden kann und das Gericht nur einzuschreiten hat, wenn ein Mißbrauch oder eine Vernachlässigung der Erziehung angezeigt oder amtlich bekannt wird (SZ 46/88 ua) und eine ernste konkrete Gefahr für die Entwicklung der Kinder besteht (SZ 47/137 ua), wird dann, wenn eine Einschränkung der elterlichen Rechte und Pflichten bereits stattfinden mußte, weil die Voraussetzungen hiefür angenommen worden waren, bei einem von der an sich erziehungsberechtigten Mutter gestellten Antrag auf Rückführung der Kinder in ihre Obsorge ein anderer Maßstab anzulegen sein. Grundsätzlich soll nämlich jede Maßnahme, die einen Wechsel des Pflegeplatzes bedeutet und Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung reißt, vermieden werden (SZ 51/112; SZ 53/142 mwN; 4 Ob 611/89 ua). Es muß daher mit großer Wahrscheinlichkeit klargestellt sein, daß nunmehr die ordnungsgemäße Pflege und Erziehung durch den antragstellenden Elternteil, die schon einmal wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden mußte, gewährleistet ist und keine Gefahr mehr besteht, daß wieder eine Maßnahme nach § 176 Abs 1 ABGB angeordnet werden müßte. Während also bei der Entscheidung darüber, ob die Pflege und Erziehung bei einem Elternteil oder bei Großeltern besser gewährleistet ist, eine Interessenabwägung nicht stattzufinden hat, sondern das Elternrecht Vorrang hat, muß beim Verlangen nach Aufhebung einer bereits wegen Gefährdung des Kindeswohls erfolgten Einschränkung der elterlichen Rechte sehr wohl eine solche Abwägung stattfinden (SZ 51/112; EfSlg 48.419). Es trifft nicht zu, daß für die Wiederherstellung der vollen rein persönlichen Rechte der Mutter schon im Zweifel auch dann zu entscheiden ist, wenn nicht eindeutig feststeht, daß dies dem Kindeswohl dient; über dem Elternrecht steht ja das Kindeswohl, welches gerade auch durch mehrfachen Wechsel der Pflege und Erziehung gefährdet sein kann (SZ 51/112; 1 Ob 636/85 = EfSlg 48.419).
Die erforderliche Abwägung der Vor- und Nachteile einer Überstellung der Minderjährigen aus der Obsorge der väterlichen Großmutter in jene der Mutter ist nur auf Grund konkreter Feststellungen über die Verhältnisse, in denen das Mädchen derzeit bei der Großmutter lebt, und über jene, die sie bei der Mutter erwarten, möglich. Die Übersiedlung des jetzt fünjährigen Mädchens zu seiner Mutter brächte in jedem Fall eine einschneidende Umstellung mit sich. Ganz abgesehen davon, daß die Minderjährige bisher weit mehr Kontakt zu ihrer Großmutter als zu ihrer Mutter hatte, müßte sie auch die gewohnte ländliche Umgebung - die väterliche Großmutter betreibt eine Landwirtschaft (S. 22) - mit einer städtischen vertauschen. Nicht zu übersehen ist, daß sie damit auch den Haushalt verließe, in dem ihr Vater lebt. Ein derart schwerwiegender Wechsel in den Lebensbedingungen der Minderjährigen ist nur dann zu rechtfertigen, wenn für sie damit wesentliche Vorteile verbunden sind; nur dann wäre es tatsächlich zweckmäßig, gerade jetzt - noch vor dem Schuleintritt - den Pflegeplatzwechsel vorzunehmen. Das könnte dann zu bejahen sein, wenn die Pflegeverhältnisse bei der Großmutter in Wahrheit nicht günstig, jedenfalls aber schlechter wären, als sie bei der Mutter zu erwarten sind. Die vom Erstrichter im Anschluß an einen Bericht der Sozialarbeiterinnen (S. 101 und 103) getroffenen Feststellungen, wonach die Pflege und Erziehung bei der Großmutter (nur) "im großen und ganzen als in Ordnung" bezeichnet werden müßten, im Hinblick auf Meinungsverschiedenheiten zwischen der Großmutter und dem Vater aber von einer konsequenten Erziehung nicht zu sprechen sei, läßt gewisse Vorbehalte gegen die Eignung der Großmutter anklingen. Dazu fehlen aber konkrete Feststellungen (und konkrete Angaben des Jugendamtes). Andererseits steht auch nicht fest, ob die väterliche Großmutter tatsächlich - wie sie mehrfach behauptet hat - das Kind liebevoll und fürsorglich pflegt und ihm die notwendige Nestwärme zukommen läßt. Dem Akt ist auch nicht zu entnehmen, wie alt die Großmutter ist und ob sie den Anforderungen, welche die Obsorge für ein Kind stellt, voll gewachsen ist und auch in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren - voraussichtlich - gewachsen bleiben wird. Nicht zu unterschätzen ist auch die Frage, wie stark die Bindung der Minderjährigen an ihre Großmutter, ihren Vater und ihre Mutter ist; auch das steht nicht fest. Es mag für die Minderjährige zwar von Vorteil sein, mit ihrem (Halb)Bruder Marko aufzuwachsen; aber auch das kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Da sich die Mutter in früheren Jahren manchen schwierigen Lebenssituationen nicht gewachsen gezeigt hat, ist auch die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß sie durch die Pflege zweier Kinder überfordert wäre und danach der Minderjährigen weniger Aufmerksamkeit und Liebe angedeihen ließ als es die Großmutter getan hat. Bedeutung kommt schließlich auch der Frage zu, ob die Mutter geeignet ist, mit ihrer Tochter liebevoll umzugehen und ihr den Milieuwechsel zu erleichtern.
Da sohin nach den bisherigen Feststellungen nicht verläßlich beurteilt werden kann, ob es für die Minderjährige besser ist, bei ihrer Großmutter zu bleiben oder zu ihrer Mutter zu ziehen, mußte dem Revisionsrekurs Folge gegeben und mit einer Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen vorgegangen werden. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht nach Erörterung mit den Beteiligten und Aufnahme der geeigneten
Beweismittel - insbesondere auch nach Einholung des Gutachtens eines Sachverständigen aus dem Fach der Kinderpsychologie - die für die gebotene Abwägung erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.
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