OGH 10ObS50/91

OGH10ObS50/9126.2.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Wolf (Arbeitgeber) und Otto Schmitz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rosemarie C*****, Invaliditätspensionistin, ***** vertreten durch ihren Sachwalter Manfred B*****, dieser vertreten durch Dr. Heinz Kallan, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER (Landesstelle Graz), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Weitergewährung des Hilfslosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Oktober 1990„ GZ 7 Rs 82/90-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 26. April 1990, GZ 34 Cgs 206/89-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin den Hilflosenzuschuß zur Invaliditätspension in der monatlichen Höhe von S 2.434,-- ab 1.4.1988, von S 2.490,-- ab 1.7.1988, von S 2.542,-- ab 1.1.1989 und von S 2.618,-- ab 1.1.1990 zu gewähren."

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der Klägerin die mit S 3.623,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 9.10.1958 geborene Klägerin, die seit ihrer Geburt geistig behindert ist, erlernte keinen Beruf und arbeitete vom 8.12.1977 bis 31.3.1981 als Küchenhilfe. Im Anschluß daran war sie arbeitslos. Auf Grund eines Bescheides der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 13.3.1983 bezieht sie seit 17.1.1983 eine Invaliditätspension (von damals S 2.225,30 monatlich) und den Hilflosenzuschuß (von damals S 2.110,--). Auf Grund eines weiteren Bescheides vom 21.3.1983 wurde ihr eine Ausgleichszulage gewährt. Mit Bescheid vom 8.2.1988 setzte die beklagte Partei die Invaliditätspension ab 1.4.1988 um den auf den Hilflosenzuschuß entfallenden Betrag herab, da die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hilflosenzuschuß nicht mehr vorliegen würden.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage dahin Folge, daß es den Anspruch der Klägerin auf Hilflosenzuschuß über den Ablauf des Monats März 1988 hinaus auch ab dem 1.4.1988 als zu Recht bestehend und die beklagte Partei für schuldig erkannte, der Klägerin den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.4.1988 weiter zu zahlen. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

In dem zur Gewährung des Hilflosenzuschusses führenden ärztlichen Gutachten vom 3.2.1983 wurde bei der Klägerin ein hirnorganischer Defektzustand mit hoher bis hochgradiger intellektueller Abschwächung bzw. Behinderung, verödetem Affektivum, hochgradig verlangsamtem Gedankenablauf ohne Spontaneität oder intellektuelle Regsamkeit ermittelt. Die Klägerin hatte keinerlei Lebenskonzept und erwies sich in ihrer Kritikfähigkeit hochgradig herabgesetzt. Sie war mangelhaft orientiert und hat auf die Fragen des Sachverständigen kaum und wenn nur einsilbig und sehr langsame Antworten gegeben. Die entmündigte Klägerin wohnte damals bei ihrem seinerzeitigen Beistand Johann B*****. Sie war in seinem Haushalt als Küchenhilfe zur Sozialversicherung angemeldet, kochte auch einfache Speisen wie Wiener Schnitzel mit Salat, sie besorgte die Wäsche, betreute die Waschmaschine und half im Haushalt mit. Einkaufen gehen durfte sie nicht. Sie fütterte aber Hunde und Katzen. Anläßlich ihrer gerichtsärztlichen Untersuchung am 25.5.1988 erwies sich die Klägerin als situativ angepaßt, bewußtseinsklar, geordnet, mit kohärentem Gedankenablauf, jedoch verlangsamt in indifferenter Stimmungslage, ohne Agitationen oder Anspannung oder depressiver Verstimmung. Gegenüber dem Gewährungsgutachten ist im Schwachsinnsgrad der Klägerin keine Besserung eingetreten. Dieser Schwachsinnsgrad kann sich praktisch auch nicht verändern, eher allenfalls verschlechtern. Während also der geistige Zustand und der Gesundheitszustand der Klägerin im wesentlichen gleichgeblieben sind, hat sich ihr Verhalten geändert: Gegenüber dem Gewährungsgutachten war es zu einer deutlichen Besserung der Antriebslage und der Befindlichkeit gekommen. Die Klägerin erwies sich nicht mehr als verödet, sie konnte Regungen und eine gewisse Spontaneität zeigen und hatte realiltätsbezogene Vorstellungen. Ihre intellektuelle Regsamkeit war gebessert und sie erwies sich auch als orientiert. Die gebesserte Stimmungs- und Antriebslage führte zu einer besseren Befindlichkeit, nicht aber zu einer Besserung des Gesundheitszustandes. Nach wie vor ist die Klägerin in ihrem Gedankenablauf verlangsamt und leichtgradig schwachsinnig. Sie kann sich alleine an- und ausziehen, alleine essen und einfache warme Speisen zubereiten, die Toilette aufsuchen, die notdürftige Reiniugng der Wohnung durchführen und die kleine Wäsche waschen. Sie wäre auch in der Lage, Heizmaterial aus dem Vorratsraum herbeizuschaffen und einen Zentralheizkörper zu regulieren. Zur gründlichen Wohnungsreinigung und Besorgung der großen Wäsche bedürfte sie der Kontrolle. Das Einkaufen kann sie nicht selbst besorgen. Sie bedürfte für das alleinige Bewohnen einer Wohnung entsprechender Anleitung und Hinweise, was am jeweiligen Tag zu erledigen wäre. Es wäre für sie auch möglich zu lernen, sich an schriftliche Anweisungen zu halten. Die Klägerin kann in Schreibschrift schreiben und lesen, aber nicht mit Geld manipulieren. Sie kann auch nicht mehr lernen, einkaufen zu gehen. Auch im Jahr 1983 hätte die Klägerin wie heute, ja sogar noch leichter erlernen können, sich an schriftliche Aufzeichnungen und Anweisungen zu halten und die täglich notwendigen Verrichtungen danach selbständig durchzuführen. Auch im Jahr 1983 hätte die Klägerin lediglich bei der Besorgung der großen Wäsche und der gründlichen Wohnungsreinigung der Kontrolle und Beaufsichtigung bedurft. Sie war damals sogar noch mehr lernfähig und hätte auch durch praktisches Üben erlernen können, einzukaufen und Besorgungen zu machen, was für sie jetzt nicht mehr erlernbar ist. Gegenüber dem Gewährungsgutachten besteht der wesentliche Unterschied darin, daß eine Kommunikation mit den die Klägerin untersuchenden Sachverständigen möglich geworden ist. Das Hilfsbedürfnis der Klägerin hat sich gegenüber dem Gewährungsgutachten nicht geändert.

In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht, daß im körperlichen oder geistigen Zustand der Klägerin eine wesentliche Besserung eingetreten sei. Ihr Gesundheitszustand sei vielmehr unverändert. Sie wäre bereits zur Zeit des Gewährungsgutachtens in der Lage gewesen, ein solches Maß an selbständiger Lebensführung zu erlernen und nach schriftlichen Anweisungen zu leben, wie sie dies auch heute könnte. Mangels wesentlicher Besserung sei die beklagte Partei verpflichtet, den Hilflosenzuschuß im bisherigen Ausmaß weiter zu gewähren.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Es vertrat die Auffassung, der geistige Zustand der Klägerin habe sich gegenüber dem Zuerkennungszeitpunkt wesentlich gebessert. Hiefür sei besonders der Umstand, daß mit ihr nunmehr kommuniziert werden könnte, entscheidend. Durch das gebesserte seelische Befinden der Klägerin sei nun erst die Kommunikation und damit die Aktivierung der noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten möglich. Die wesentliche Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen genüge, um die Voraussetzungen des Anspruchs auf Hilflosenzuschuß neu zu prüfen. Dabei zeige sich, daß die Klägerin nicht mehr hilflos im Sinne des Gesetzes sei. Sie bedürfe Hilfe nur mehr beim Einkauf der lebensnotwendigen Bedarfsgegenstände, bei der Anweisung zu immer wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen wie Zähne putzen, Waschen, Wohnung aufräumen, Betten machen udgl. und der Kontrolle bei der Erledigung der Wohnungsgroßreinigung und der Wäsche. Insgesamt ergebe sich dadurch ein Aufwand, der nicht annähernd den begehrten Hilflosenzuschuß erfordere. Die Klägerin sei daher ab 1.4.1988 nicht mehr hilflos iS des § 105 a ASVG.

Die gegen dieses Urteil von der Klägerin erhobene Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen hat (SSV-NF 1/44, 2/43, 2/90 ua), ist Voraussetzung für die Aberkennung des Hilflosenzuschusses, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Rentners oder Pensionisten gegenüber demjenigen wesentlich gebessert hat, der zur Zeit der Zuerkennung des Hilflosenzuschusses bestand. Dies wird in der Regel seinen Grund in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen und/oder geistigen Zustandes des Rentners (Pensionisten) haben. Ohne Bedeutung ist es, ob dieser Zustand damals die Zuerkennung rechtfertigen konnte. War dies nicht der Fall, bietet weder § 97 noch § 99 ASVG eine Möglichkeit, die Wirkung der materiellen Rechtskraft der Entscheidung, mit der der Hilflosenzuschuß gewährt wurde, zu brechen, um die Leistung abzuerkennen. Es genügt daher nicht, wenn sich herausstellt, daß die nach § 105 a ASVG für die Gewährung des Hilflosenzuschusses maßgebenden Voraussetzungen nunmehr nicht erfüllt sind. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren: Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (so Schrammel ZAS 1990, 73, 79 f und ihm folgend 10 Ob S 363/90).

Nach den erstgerichtlichen, vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen hat sich der Gesundheitszustand der Klägerin, insbesondere der Grad ihrer Schwachsinnigkeit gegenüber dem Gewährungsgutachten aus dem Jahr 1983 nicht verändert. Auch im Jahr 1983 hätte die Klägerin wie heute - sogar noch leichter - erlernen können, sich an schriftliche Aufzeichnungen und Anweisungen zu halten und die täglich notwendigen Verrichtungen danach selbständig durchzuführen. Auch im Gewährungszeitpunkt hätte sie nach diesen Feststellungen lediglich bei Besorgung der großen Wäsche und der gründlichen Wohnungsreinigung der Kontrolle und Beaufsichtigung bedurft. Sie war damals sogar noch mehr lernfähig und hätte durch praktisches Üben erlernen können, selbst einzukaufen und Besorgungen zu machen. Der wesentliche Unterschied in der Beurteilung der Klägerin bestand nach den Feststellungen nur darin, daß eine Kommunikation mit den sie untersuchenden Sachverständigen möglich geworden ist. Daraus folgt, daß die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses bereits damals nicht vorhanden waren, weil die Klägerin iS des § 105 a Abs. 1 ASVG nicht derart hilflos war, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedurfte. Die ungünstige Beurteilung im Gewährungsgutachten ist nur darauf zurückzuführen, daß es dem die Klägerin damls untersuchenden Sachverständigen nicht gelungen war, mit ihr kommunikativen Kontakt aufzunehmen. Das Erstgericht verweist auch zutreffend darauf, daß die Klägerin auf ihren unterschiedlichen Betreuungsplätzen Beeinflussungen unterworfen gewesen sein konnte. Da sich jedenfalls der maßgebliche körperliche und geistige Gesundheitszustand der Klägerin gegenüber dem Gewährungszeitpunkt nicht verändert hat, besteht derzeit keine Möglichkeit einer Entziehung des Hilflosenzuschusses. Das Urteil des Berufungsgerichtes war daher im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern, allerdings in der Form, daß der sich aus dem Gesetz ergebende Mindeshilflosenzuschuß ziffernmäßig zur Zahlung aufzuerlegen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit. a ASGG.

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