Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien vom 20.3.1981, GZ 6 C 3/80-33, wurde die Beklagte verpflichtet, dem Kläger beginnend ab 13.8.1979 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.
Mit Bescheid vom 16.8.1983 sprach die beklagte Partei die Entziehung dieser Leistung mit Ablauf des Monates September 1983 aus. In dem über die vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobene Klage eingeleiteten Verfahren zu 6 C 145/83 des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien schlossen die Parteien am 13.1.1984 einen Vergleich, in dem sich die beklagte Partei verpflichtete, dem Kläger die Invaliditätspension über den Ablauf des Monats September 1983 hinaus weiterzugewähren.
Mit Bescheid vom 28.3.1986 sprach die beklagte Partei neuerlich die Entziehung der Invaliditätspension nunmehr mit Ablauf des Monats April 1986 aus. Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid Klage und stellte das Begehren, die beklagte Partei zu verpflichten, die Invaliditätspension ab Mai 1986 weiterzugewähren. Am 8.9.1986 schlossen die Parteien in dem hierüber eingeleiteten Verfahren zu 6 C 65/86 des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien einen Vergleich, in dem sich die beklagte Partei zur Weitergewährung der Pensionsleistung über den Monat April 1986 hinaus verpflichtete. Mit Bescheid vom 16.11.1988 sprach die beklagte Partei die Entziehung der Pensionsleistung mit Ablauf des Monats Dezember 1988 aus.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage, mit der der Kläger die Weitergewährung der Invaliditätspension ab 1.1.1989 begehrt.
Nach dem dem Urteil zu 6 C 3/80 des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien zugrunde liegenden Sachverhalt war der Kläger in der Lage, leichte Arbeiten im Sitzen, kurzfristig im Gehen und Stehen zu verrichten. Die Arbeiten im Gehen und Stehen sollten zusammen 1/4 der Arbeitszeit nicht übersteigen und nicht in geschlossener Folge durchgeführt werden. Bei Arbeiten im Sitzen war der Kläger drei- bis viermal täglich genötigt, aufzustehen und sich durchzustrecken. Auszuschließen waren Arbeiten an gefährdeten Arbeitsplätzen und Arbeiten in überwiegend gebückter Haltung. Die Fingerbeweglichkeit war erhalten, Fabriksmilieu zumutbar, die Anlernbarkeit gegeben. Die Anmarschwege waren unter günstigen städtischen Bedingungen möglich.
Nunmehr ist der Kläger in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen, ohne langes Gehen (nicht mehr als die Hälfte im Gehen und Stehen und nicht mehr als ein bis zwei Stunden in geschlossener Folge) zu verrichten. Auszuschließen sind Arbeiten in länger und häufig gebückter Stellung, das Heben und Tragen von Lasten über 10 kg sowie das Arbeiten in infektgefährdetem Milieu. Annähernd regelmäßige Nahrungsaufnahme muß gewährleistet sein. Der Kläger ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist unter günstigen ländlichen und städtischen Bedingungen möglich. Vom chirurgischen Standpunkt hat sich der Zustand des Klägers im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt wesentlich gebessert, da sämtliche Knochenbrüche knöchern konsolidiert sind, keine wesentlichen Reizzustände an der Wirbelsäule vorliegen und auch keine wesentliche Muskelverschmächtigung des linken Beines mehr gegeben ist. Internistisch ist im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt insofern eine Besserung eingetreten, als Fettleber und Lungenemphysem nicht mehr feststellbar sind. Der Kläger, der keinen Beruf erlernt hat und bisher als Kraftfahrer beschäftigt war, ist imstande, einfache Kontrollarbeiten in Fertigungskontrollabteilungen, Tischarbeiten im Buchbindergewerbe und in der Kartonagenerzeugung, Hilfsarbeiten in der Plastik- und Kunststoffartikelerzeugung auszuüben und als Portier tätig zu sein.
Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers ab. Seit dem Zeitpunkt der Gewährung der Leistung sei eine wesentliche Besserung des Leistungskalküls eingetreten. Die Entziehung der Leistung sei daher zu Recht erfolgt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln, erachtete die Beweisrüge nicht für berechtigt und trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei. Zu prüfen sei, ob sich der körperliche oder geistige Zustand des Pensionsberechtigten gegenüber demjenigen wesentlich gebessert habe, der zur Zeit der Gewährung der Leistung bestanden habe. Bei dem anzustellenden Vergleich seien nur die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Leistungszuerkennung, nicht aber auch die Verhältnisse heranzuziehen, die in der Zwischenzeit zu einer Weitergewährung der Leistung geführt hätten. Das Abstellen auf den Zeitpunkt des letzten Vergleiches würde dazu führen, daß eine nur allmählich eintretende Besserung, wie dies beim Kläger der Fall gewesen sei, nur weil sie in Teilphasen unwesentlich wäre, unberücksichtigt bleiben müßte, obwohl sie in ihrer Gesamtheit wesentlich sei. Bei Gegenüberstellung des Zustandes im Zeitpunkt der ersten Gewährung mit dem im Zeitpunkt der nunmehrigen Entziehung der Leistung ergebe sich jedoch eine wesentliche Besserung, sodaß die Voraussetzungen des § 99 Abs 1 ASVG gegeben seien.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinn des Eventualantrages berechtigt. Als Verfahrensmängel rügt der Kläger, daß es das Erstgericht unterlassen habe, ein lungenfachärztliches und ein serologisches Gutachten einzuholen. Diese Ausführungen waren bereits Gegenstand der Mängelrüge der Berufung und das Berufungsgericht ist zum Ergebnis gelangt, daß dem Erstgericht wesentliche Verfahrensverstöße nicht unterlaufen sind. Auch in Sozialrechtssachen können aber Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat, im Revisionsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (SSV-NF 3/115 mwN). Die Mängelrüge der Revision ist daher nicht berechtigt.
Berechtigung kommt hingegen der Rechtsrüge zu.
Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Der Leistungsentzug nach § 99 Abs 1 ASVG setzt eine wesentliche, entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus [Schrammel ZAS 1990, 73 [79 f] und in Tomandl, System 181 f; SSV-NF 1/27, 2/43 ua], wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben [SSV-NF 1/27, 1/43, 2/43 ua]. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es aber regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (sa Schrammel, ZAS 1990, 73 [79 f]). Der Oberste Gerichtshof hat dazu (SSV-NF 1/44) ausgefütrt, daß die Frage, ob eine anspruchsvernichtende, also wesentliche (entscheidende) Änderung der Umstände eingetreten ist, durch Vergleich der zur Zeit der Gewährung - nicht etwa der Weitergewährung - der Leistung gegebenen mit den nunmehrigen Verhältnissen festzustellen ist. Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausführte, würde nämlich das Abstellen auf den Zeitpunkt des letzten Vergleiches dazu führen, daß eine nur allmählich eintretende Besserung unberücksichtigt bleiben müßte, weil sie in ihren Teilphasen unwesentlich wäre, obwohl sie in ihrer Gesamtheit als wesentlich zu qualifizieren ist. Dies führt aber nicht dazu, daß Entscheidungen über die Weitergewährung oder - wie hier ein Vergleich über die Weitzrgewährung nach bescheidmäßiger Entziehung der Leistung - ohne jede Bedeutung wären.
Der gerichtliche Vergleich hat zugleich den Charakter eines zivilrechtlichen Rechtsgeschäftes und einer Prozeßhandlung (SZ 56/98). Im Hinblick auf seine prozeßbeendigende als auch streitbereinigende Wirkung ist die Folge des Vergleiches, daß die durch ihn bereinigten Streitfragen nicht mehr aufgeworfen werden dürfen (Fasching, Kommentar II, 965). Durch die Vergleichsabschlüsse in den Vorverfahren wurde zwischen den Parteien klargestellt, daß die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung in den für die Vergleichsabschlüsse maßgeblichen Zeitpunkten nicht gegeben waren. Ebenso wie eine Leistung wegen Rechtskraft des Zuerkennungsbescheides dann nicht entzogen werden kann, wenn sich die Verhältnisse seit diesem Zeitpunkt nicht geändert haben, selbst wenn die Voraussetzungen für die Leistung im Gewährungszeitpunkt gefehlt haben, steht die Rechtskraft eines Bescheidei oder Urteiles über die Weitergewährung der Entziehung der Leistung dann entgegen, wenn seit dem Zeitpunkt dieser Entscheidung in den maßgeblichen Verhältnissen keine Änderung eingetreten ist. Wurde wie hier über die Weitergewährung ein Vergleich abgeschlossen, dann steht dessen materiellrechtliche Wirkung der Entziehung der Leistung bei unveränderten Verhältnissen entgegen. Der vom Berufungsgericht vertretene Standpunkt würde zum Ergebnis führen, daß der Versicherungsträger nach Weitergewährung der Leistung dann, wenn bereits im Zeitpunkt der Weitergewährung die Voraussetzungen für den Anspruch nicht erfüllt waren, die Leistung jederzeit auch bei unveränderten Verhältnissen entziehen könnte. Dies ist aber mit den Grundsätzen der materiellen Rechtksraft bzw. der materiellrechtlichen Wirkung eines hierüber abgeschlossenen Vergleiches ebensowenig vereinbar wie mit Grundsätzen der Rechtssicherheit. Voraussetzung für die Entziehung ist daher, daß seit dem Zeitpunkt der Weitergewährung eine Änderung eingetreten ist. Ist jedoch in den für den Bezug der Leistung relevanten Verhältnissen seit dem Zeitpunkt der Weitergewährung eine solche Änderung eingetreten, dann ist es für die Entziehung nicht erforderlich, daß diese für sich gesehen wesentlich im Sinn des § 99 Abs 1 ASVG ist. Ist eine maßgebliche Änderung des Sachverhaltes eingetreten, dann sind für die Frage, ob insgesamt eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die die Entziehung der Leistung rechtfertigt, die Verhältnisse im Zeitpunkt der (erstmaligen) Gewährung der Leistung und der nunmehrigen Entziehung gegenüberzustellen. Damit wird auch eine allmähliche in Teilphasen verlaufende Besserung ungeachtet zwischenzeitiger Entscheidungen oder Vergleichsabschlüsse über die Weitergewährung der Leistung in entsprechender Weise berücksichtigt.
Feststellungen der Vorinstanzen liegen hier nur hinsichtlich des Leistungskalküls im Zeitpunkt der erstmaligen Gewährung der Leistung und der Entziehung mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vor. Für die Entscheidung der Frage, ob die Entziehung der Invaliditätspension gerechtfertigt ist, sind jedoch auch Feststellungen erforderlich, ob sich seit dem Zeitpunkt des letzten Vergleichsabschlusses die Leistungsfähigkeit verbessert hat. Sollte diesbezüglich seither keine Änderung eingetreten sein, so stünde dies einer Entziehung der Leistung entgegen.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.
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