OGH 12Os92/90 (12Os93/90, 12Os94/90)

OGH12Os92/90 (12Os93/90, 12Os94/90)23.8.1990

Der Oberste Gerichtshof hat am 23.August 1990 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Müller als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak, Dr. Felzmann, Dr. Rzeszut und Dr. Markel als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Löschenberger als Schriftführerin in der Strafsache gegen Hans W*** wegen des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB, AZ U 501/89 des Bezirksgerichtes Feldkirch, über die von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes gegen die Strafverfügung vom 3.Oktober 1989, GZ U 501/89-5, gegen den Beschluß vom 1.Dezember 1989, GZ U 501/89-7, und gegen den Vorgang, daß eine Überprüfung der vom Beschuldigten in seinem Antrag vom 29.Dezember 1989 (ON 8) und in seinem Rechtsmittel vom 19.März 1990 (ON 11) aufgestellten Behauptungen über seine Abwesenheit von der Abgabestelle und über die (daraus zu folgernde) Rechtzeitigkeit des am 29.November 1989 erhobenen Einspruchs unterblieb, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Presslauer, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache U 501/89 des Bezirksgerichtes Feldkirch verletzen das Gesetz:

a./ die Strafverfügung vom 3.Oktober 1989, GZ U 501/89-5, durch das Unterbleiben eines Ausspruches über die Anrechnung der Vorhaft in der Bestimmung des § 38 Abs. 1 Z 1 StGB;

b./ der Beschluß vom 1.Dezember 1989, GZ U 501/89-7, in den Bestimmungen der §§ 79 und 80 StPO sowie §§ 7 und 21 Abs. 2 ZustellG;

c./ das Unterbleiben der Überprüfung der vom Beschuldigten in seinem Antrag vom 29.Dezember 1989 (ON 8) und in seinem Rechtsmittel vom 19.März 1990 (ON 11) aufgestellten Behauptungen über seine Abwesenheit von der Abgabestelle und über die (daraus zu folgernde) Rechtzeitigkeit des am 29.November 1989 erhobenen Einspruchs (ON 6) in der Bestimmung des § 462 Abs. 1 StPO in Verbindung mit §§ 352 ff, 480 Abs. 1 StPO.

Der Beschluß des Bezirksgerichtes Feldkirch vom 1.Dezember 1989, GZ U 501/89-7, wird aufgehoben und dem Bezirksgericht aufgetragen, vom Eintritt des ordentlichen Verfahrens auszugehen und dem Gesetz gemäß zu verfahren.

Text

Gründe:

Am 3.Oktober 1989 erließ das Bezirksgericht Feldkirch im Strafverfahren AZ U 501/89 gegen den in München wohnhaften Hans W*** eine Strafverfügung, mit der wegen des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB eine bedingt nachgesehene Geldstrafe verhängt wurde (ON 5). Obwohl sich der Beschuldigte laut Anzeige der Städtischen Sicherheitswache Feldkirch wegen der abgeurteilten Taten ab 28.August 1989, 3.20 Uhr, in Verwahrungshaft befunden hatte und um 10.45 Uhr dem Bezirksgericht Feldkirch vorgeführt worden war (S 7, 13), unterließ es das Bezirksgericht, den aus dem Akt nicht eindeutig ersichtlichen Zeitpunkt des Endes der Anhaltung festzustellen und die Vorhaft gemäß § 38 Abs. 1 Z 1 StGB auf die verhängte Strafe anzurechnen. Eine solche Anrechnung muß grundsätzlich anläßlich des Strafausspruches angeordnet werden, weshalb die entsprechende Entscheidung in die Strafverfügung aufzunehmen gewesen wäre (11 Os 113/83).

Die Zustellung der Strafverfügung an den Beschuldigten geschah im Rechtshilfeweg durch das Amtsgericht München. Gemäß dem Zustellungszeugnis dieses Gerichtes vom 14.November 1989 (Beilage zu ON 5) ist die Zustellung an den Beschuldigten "am 3.November 1989 durch Niederlegung bei der Postanstalt München 40 erfolgt, da der Empfänger selbst in der Wohnung nicht angetroffen wurde und die Zustellung weder an einen Hausgenossen, noch an eine dienende Person, noch an den Hauswirt oder Vermieter ausführbar war. Eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung unter der Anschrift des Empfängers ist in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben worden. Die Zustellung entspricht den deutschen Vorschriften".

Am 30.November 1989 langte beim Bezirksgericht Feldkirch ein am 29. November 1989 zur Post gegebener Einspruch des Beschuldigten gegen die genannte Strafverfügung ein (ON 6).

Diesen Einspruch wies das Bezirksgericht Feldkirch mit Beschluß vom 1.Dezember 1989, GZ U 501/89-7, als verspätet zurück. Dabei nahm das Bezirksgericht den Standpunkt ein, daß die Zustellung der Strafverfügung an den Beschuldigten am 3.November 1989 durch Hinterlegung bei der Postanstalt München 40 geschehen sei und demgemäß die 14-tägige Einspruchsfrist mit dem Ablauf des 17. November 1989 geendet habe, weshalb eine verspätete Einbringung des Rechtsbehelfs vorliege.

Der unangefochten gebliebene Beschluß ist rechtlich verfehlt.

Rechtliche Beurteilung

Eine Strafverfügung muß zu eigenen Handen des Beschuldigten zugestellt werden (EvBl. 1964/20, EvBl. 1979/7, 15 Os 21-24/90), wobei gemäß § 11 Abs. 1 ZustellG die Zustellungen im Ausland primär nach den bestehenden internationalen Vereinbarungen vorzunehmen sind. Im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland wird durch

Artikel 7 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (BGBl. 1969/41) nicht nur die Zustellung von Gerichtsentscheidungen im Rechtshilfeweg "durch einfache Übergabe an den Empfänger" gewährleistet, sondern über ausdrückliches österreichisches Ersuchen auch die Einhaltung besonderer in der österreichischen Rechtsordnung vorgesehener Formen der Zustellung, die sich mit den deutschen Rechtsvorschriften vereinbaren lassen. Angesichts dieser die Einhaltung österreichischer Zustellvorschriften ermöglichenden Regelung ist die Beurteilung der Gültigkeit eines Zustellvorgangs nur nach den österreichischen und nicht nach gegebenenfalls abweichenden deutschen Verfahrensvorschriften vorzunehmen. Demnach war die Zustellung der Strafverfügung durch Niederlegung vom Postamt (§ 182 dZPO) ohne vorheriges Ersuchen an den Empfänger, zu einer bestimmten Zeit an der Abgabestelle zur Annahme des Schriftstückes anwesend zu sein, kein dem § 21 ZustellG entsprechender Vorgang einer Zustellung zu eigenen Handen. Es lag vielmehr ein Zustellmangel vor, der im Sinne des § 7 ZustellG erst dadurch saniert wurde, daß der Beschuldigte am 17.November 1989 die Strafverfügung am Postamt übernahm (S 33). Bei richtiger rechtlicher Beurteilung gilt die Zustellung der Strafverfügung daher erst an diesem Tage als vollzogen, sodaß der am 29.November 1989 zur Post gegebene Einspruch rechtzeitig war.

Der Beschuldigte nahm die von einer am 3.November 1989 vorgenommenen und rechtsgültigen Zustellung der Strafverfügung ausgehende Entscheidung des Bezirksgerichtes Feldkirch über die Zurückweisung des Einspruchs wegen Verspätung zum Anlaß, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen den Ablauf der Einspruchsflist zu stellen. Er brachte dazu vor, sich im Zeitpunkt der Hinterlegung "größtenteils" im Ausland (Österreich und Italien) befunden zu haben und erst am 16.November 1989 nach München zurückgekehrt zu sein. Das näher konkretisierte Vorbringen des Beschuldigten über seine damaligen Aufenthaltsorte und Beschäftigungen in Österreich und Deutschland wies auf eine Überprüfbarkeit der Behauptungen hin. In einem Eventualvorbringen bestritt der Beschuldigte die Wirksamkeit des Zustellvorganges vom 3. November 1989 und nahm auf seine damalige Abwesenheit von der Abgabestelle Bezug (S 29 in dem unrichtig zusammengehefteten Wiedereinsetzungsantrag ON 8).

Diesen Antrag lehnte das Bezirksgericht Feldkirch mit Beschluß vom 22.Februar 1990, GZ U 501/89-10, mit der Begründung ab, daß der Beschuldigte inhaltlich gar nicht die unverschuldete Versäumung der Einspruchsfrist, sondern die Ungültigkeit des Zustellvorganges vom 3. November 1989 zufolge Abwesenheit von der Abgabestelle (§ 17 Abs. 3 ZustellG) behaupte, "jedoch keinerlei Belege" vorgelegt habe.

Der Beschuldigte erhob gegen diese Entscheidung "Rekurs" (richtig: Beschwerde). In dem bezüglichen Schriftsatz bot er Beweismittel dafür an, daß er sich vom 31.Oktober 1989 bis einschließlich 15. November 1989 nicht in München aufgehalten habe (ON 11). Das Landesgericht Feldkirch gab diesem Rechtsmittel mit Beschluß vom 28. März 1990, AZ Bl 51/90, keine Folge und stützte sich dabei ausschließlich darauf, daß die Einspruchsfrist ab 3.November 1989 nicht versäumt worden wäre, wenn der Beschuldigte noch am Tage der Übernahme des Poststückes (17.November 1989) Einspruch erhoben hätte und daß ferner zu spät um die Wiedereinsetzung angesucht worden sei. Auf das Vorbringen des Beschwerdeführers über die Unwirksamkeit der Zustellung vom 3.November 1989 und das diesbezügliche Beweisanbot ging das Beschwerdegericht nicht ein (ON 13).

Im Zusammenhang mit den beiden letztgenannten Beschlüssen übersahen das Bezirksgericht Feldkirch und das Landesgericht Feldkirch, daß bei der vom Beschuldigten (zutreffend) eingewendeten Unwirksamkeit des Zustellvorganges vom 3.November 1989 ein rechtzeitiger Einspruch vorlag, der kraft Gesetzes (§ 462 Abs. 1 StPO) bereits den Eintritt des ordentlichen Verfahrens nach sich gezogen hatte. Ebenso wie die Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Zustellungen (EvBl. 1974/147) fällt die hier damit einhergehende Prüfung, ob ein Strafverfahren durch Eintritt der Rechtskraft einer Strafverfügung zum Abschluß gelangt oder zufolge rechtzeitigen Einspruchs in das ordentliche Verfahren übergangen ist, in die von keinerlei Anträgen oder Beweismittelvorlagen der Parteien abhängige Amtspflicht des Strafgerichtes, welche sich auch darauf erstreckt, von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgehende Entscheidungen über die Verspätung eines Einspruchs in analoger Heranziehung der Vorschriften über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens (insbesondere § 358 StPO) zu beseitigen (Mayerhofer-Rieder StPO2 ENr. 2 und 4 zu § 352 Vorbem.; EvBl. 1979 Nr. 183; 13 Os 145/79; 11 Os 55/81; 13 Os 98/83; 13 Os 42/90). Dieser Amtspflicht wird das Gericht nicht dadurch enthoben, daß ein Beschuldigter den maßgeblichen Zustellmangel im Rahmen eines prozessual verfehlten Wiedereinsetzungsantrages behauptet und es unterläßt, sogleich für sein Vorbringen urkundliche Nachweise vorzulegen. Selbst von ihrer (unzutreffenden) Rechtsmeinung ausgehend, daß die postamtliche Niederlegung der Strafverfügung am 3. November 1989 eine gültige Zustellung sein konnte, hätten das Bezirksgericht Feldkirch und das Landesgericht Feldkirch die hinreichend konkretisierten und überprüfbar bescheinigten Behauptungen des Beschuldigten über seine Abwesenheit von der Abgabestelle im maßgeblichen Zeitraum und damit über die Ungültigkeit des angenommenen Zustellzeitpunktes (§ 17 Abs. 3 ZustellG) einer Sachverhaltsaufklärung zuführen müssen, weil davon der (nach Lage des Falles tatsächlich) gemäß § 462 Abs. 1 StPO bereits wirksame Eintritt des ordentlichen Verfahrens abhing und die Gerichte diese Verfahrensfrage nicht auf sich beruhen lassen durften. In Stattgebung der von der Generalprokuratur gemäß § 33 Abs. 2 StPO zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde war daher spruchgemäß zu erkennen.

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