OGH 1Ob511/90

OGH1Ob511/9021.2.1990

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Vormundschaftssache des mj. Peter T***, geboren am 23.Mai 1978 infolge ao Revisionsrekurses der Mutter Erika T***, Pensionistin, Linz, Merianweg 26, vertreten durch Dr. Peter Keul, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 8.November 1989, GZ 18 R 574/88-95, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Linz vom 26.Juni 1989, GZ 4 P 9/87-78, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 6.10.1987, ON 19, bestätigt mit Beschluß des Rekursgerichtes vom 10.12.1987, 18 R 821/87-26, wurde der unehelich geborene Peter T*** in gerichtliche Erziehungshilfe überwiesen. Ein Revisionsrekurs der Mutter wurde mit Beschluß des Obersten Gerichtshofes vom 13.4.1988, 1 Ob 534/88, zurückgewiesen. Nach den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen sei es in den letzten Jahren bei der Mutter bedingt durch ihren erheblichen Alkoholkonsum zu Abbauerscheinungen gekommen. Sie habe die Haushaltsführung vernachlässigt, das Kind sei in der Schule durch mangelnde körperliche Pflege aufgefallen. Ihm habe, weil die Kleidung fast nicht gewechselt worden sei, bereits ein unangenehmer Geruch angehaftet. Zuletzt habe die Mutter das Kind schulisch nicht mehr gefördert und seine Leistungen nicht mehr kontrolliert. Bei der Mutter seien im Krankenhaus ein Leberzellschaden und Alkoholmißbrauch festgestellt worden. Die Wohnung sei derart verwahrlost gewesen, daß zwei Stellen ihre Reinigung abgelehnt hätten. Berge von Schmutzwäsche sowie Stapel von Papier seien wahllos in der gesamten Wohnung herumgelegen. Seit langer Zeit gehortete und vor Wochen verdorbene Lebensmittel seien vorgefunden worden. Das Kind habe in einem total verschmutzten Gitterbett geschlafen. Die Wohnung habe sich in einem katastrophalen Zustand befunden, sie habe einer stinkenden Mülldeponie geglichen. Zwei Container seien mit verfaulten Gemüsen, Speiseresten und verfaulten Kleidungsstücken gefüllt worden. Die Reinigungsfrauen hätten mit Binden um den Mund arbeiten müssen, weil sie den Gestank sonst nicht ertragen hätten. Das Kind ist bei Pflegeeltern in Breitenfurt untergebracht.

Am 7.3.1989 beantragte die Mutter, die gerichtliche Erziehungshilfe aufzuheben. Sie habe sich gesundheitlich wieder sehr gut erholt und fühle sich so stark, daß sie ihr Kind wieder in Pflege und Erziehung nehmen könne. Ihre Wohnverhältnisse hätten sich gebessert. Die Wohnung befinde sich in einem ordentlichen Zustand. Das Erstgericht wies diesen Antrag ab. Nach Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens stellte es fest, mit zunehmendem Alter hätte das intellektuell normal begabte Kind immer mehr Schutz- und Helferfunktion für seine somatisch kranke und auch Alkoholprobleme aufweisende Mutter übernehmen müssen. Der zunehmend schlechtere physische Zustand der Mutter und die daraus resultierende Unfähigkeit, für eine adäquate körperlich-hygienische und erzieherische Betreuung zu sorgen, hätten schließlich zu einer körperlichen Verwahrlosung und zu einer drohenden psychischen Verwahrlosung des Kindes geführt. Bei der Pflegefamilie seien Anpassungsstörungen aufgetreten, die sich allmählich gelegt hätten. Inzwischen habe sich das Kind auf seinem Pflegeplatz bestens eingewöhnt. Es habe ein neues Zuhause gefunden. Die Pflegeeltern vermittelten dem Kind Wärme und Geborgenheit, sie erziehen es mit liebevoller Konsequenz. Der Bub habe sich auch in der Schule und im Ort gut integriert. Nach Besuchstagen der Mutter sei das Kind in der Schule unkonzentriert und zerstreut. Der ohnehin sehr introvertierte Bub verhalte sich nach solchen Besuchstagen zu Hause oft noch verschlossener als sonst. Er sinniere vor sich hin und sei in seinem Zugehörigkeitsgefühl zutiefst verunsichert. Mit viel Geduld und Zuwendung bemühten sich die Pflegeeltern nach solchen Besuchen darum, dem Kind wieder zu einer einigermaßen unbeschwerten Stimmung zu verhelfen. Der Knabe habe bleibende Erinnerungen an seine Vorgeschichte und werde sie auch weiterhin haben. Aus dieser Konstellation heraus könne die Pflegemutter dem Kind gegenüber nur in die Rolle einer Ersatzmutter geraten, während der Pflegevater durchaus eine männlich-väterliche Identifikationsfigur darstelle, zu der eine tragfähige Beziehung erwachsen könnte. Die Besuchskontakte führten beim Kind zu vorübergehenden Verhaltensauffälligkeiten und zu Loyalitätsproblemen. Der Knabe versuche dieses Konfliktfeld dadurch zu lösen, daß er sich in den persönlichen und schriftlichen Kontakten zur Mutter überangepaßt und überfreundlich gebe, in Gesprächen mit Dritten aber die Mutter jedoch entwerte und damit vor sich selbst deren Bedeutung herunterzuspielen trachte. Bei der Mutter handle es sich um eine somatisch chronisch kranke Frau, die Züge einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung im Sinne einer wenig gefestigten Persönlichkeit aufweise, geprägt durch frühe psychotraumatische Erlebnisse und einer insuffizienten familiären Festigung. Sie selbst habe keine geglückte Partnerbeziehung eingehen können. In ihrem einzigen, sehr spät geborenen Kind habe sie eine Art Ersatzpartnerschaft gesehen. Diese habe an tragischer Bedeutung gewonnen, als das Kind aufgrund der chronischen Erkrankung der Mutter tatsächlich in partnerschaftlich stützende Funktionen habe hineinwachsen müssen. Der Gesundheitszustand der Mutter sei nach wie vor äußerst unstabil. Seit Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe sei sie mehrmals stationär behandelt worden. Die Mutter werde auch in Zukunft wahrscheinlich öfters stationär behandelt werden müssen. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes scheine sie nach wie vor Alkoholprobleme zu haben. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe seien nicht gegeben.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Nach Art. VI § 9 KindRÄG gelte die gerichtliche Anordnung einer Erziehungsmaßnahme nach dem bisherigen Jugendwohlfahrtsrecht als Verfügung nach § 176 ABGB, sei aber das Kind dadurch gänzlich aus seiner bisherigen Umgebung entfernt worden, als Verfügung nach § 176 a ABGB. Der Sachverhalt sei unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage zu beurteilen. Nach § 176 a ABGB nF habe das Gericht die Obsorge für das Kind dem Jugendwohlfahrtsträger ganz oder teilweise zu übertragen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet und deshalb die gänzliche Entfernung aus seiner bisherigen Umgebung gegen den Willen der Erziehungsberechtigten notwendig und seine Unterbringung bei Verwandten oder anderen geeigneten nahestehenden Personen nicht möglich sei. Der Jugendwohlfahrtsträger dürfe diese Ausübung Dritten übertragen. Während § 26 Abs 1 JWG 1954 als Voraussetzung für die gerichtliche Erziehungshilfe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten noch den Mißbrauch der Erziehungsgewalt oder die Nichterfüllung der damit verbundenen Pflichten voraussetzte, spreche der dieser Bestimmung entsprechende § 176 a ABGB nur mehr von der Gefährdung des Kindeswohles als allgemeiner Voraussetzung für die Übetragung der Obsorge für das Kind an den Jugendwohlfahrtsträger. Eine dem § 27 JWG 1954 gleichzuhaltende ausdrückliche Bestimmung über die Voraussetzungen der Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe finde sich im neuen Kindschaftsrecht nicht. Das Jugendwohlfahrtsgesetz 1989, das sich nur mehr an die öffentliche Verwaltung richte, enthalt dazu keine der alten Rechtslage entsprechende Norm. Weil nach dem neuen Kindschaftrecht dem Wohl des Kindes zentrale Bedeutung zukomme, könne der Schluß gezogen werden, daß die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger aufzuheben sei, wenn sie nicht mehr dem Wohl des Kindes entspreche. Diese Überlegung werde auch durch § 186 a ABGB unterstützt, wonach das Gericht auf Antrag den Pflegeeltern die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen habe, wenn eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung bestehe, das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt sei und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspreche. Nach § 186 a Abs 3 ABGB sei aber die Übertragung aufzuheben, wenn dies dem Wohl des Kindes entspreche. Glechzeitig habe das Gericht unter Beachtung des Wohles des Kindes auszusprechen, auf wen die Obsorge übergehe. In dieselbe Richtung gehe § 31 Abs 3 JWG 1989, der den für die Durchführung der Hilfe zur Erziehung verantwortlichen Jugendwohlfahrtsträger dazu anhalte, die getroffene Maßnahme zu ändern, wenn es das Wohl des Minderjährigen erfordere oder aufzuheben, wenn sie dem Minderjährigen nicht mehr förderlich sei. Den Intentionen des neuen Gesetzes könne entnommen werden, daß zur Klärung der Frage, ob eine Verfügung nach § 176 a ABGB aufzuheben sei, die Umstände, die zur Übertragung der Obsorge geführt hätten, die derzeitige Situation des ehemaligen Erziehungsberechtigten und die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes bei der Mutter und den Pflegeeltern zu berücksichtigen seien. Davon ausgehend könne nicht davon gesprochen werden, daß eine Aufhebung der Übertragung der Obsorge zum Wohl des Kindes sei. Die fast dreijährige Pflegezeit bei den Pflegeeltern habe zur psychischen Stabilisierung des Kindes geführt. Dieses wäre wieder gefährdet, wenn es bei der Mutter untergebracht werde, die selbst eine starke unstabile Persönlichkeitsstruktur aufweise. Auch wenn der äußerst beherzt geführte "Kampf" der unehelichen Mutter um ihren Sohn verständlich und nachvollziehbar erscheine, fehle es an den Voraussetzungen für eine Aufhebung der Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Mutter ist unzulässig.

Nach Art.VI § 9 KindRÄG gilt die gerichtliche Anordnung einer Erziehungsmaßnahme nach dem bisherigen Jugendwohlfahrtsgesetz als Verfügung nach § 176 ABGB, ist aber das Kind dadurch gänzlich aus seiner bisherigen Umgebung entfernt worden, als Verfügung nach dem § 176 a ABGB. Nach dieser Gesetzesstelle ist die Obsorge für das Kind dem Jugendwohlfahrtsträger ganz oder teilweise zu übertragen, wenn eine Gefährdung des Kindeswohles vorliegt, die nur durch die Entfernung des Minderjährigen aus der bisherigen Umgebung hintangehalten werden kann, wenn eine Unterbringung bei Verwandten oder sonstigen geeigneten nahestehenden Personen nicht möglich ist. Aus § 176 b ABGB ergibt sich, daß die Obsorge der Erziehungsberechtigten nur insoweit eingeschränkt werden darf, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes notwendig ist. Explicite Vorschriften, ob und wann eine nach § 176 a ABGB getroffene Verfügung aufzuheben ist, enthält das Gesetz nicht. Da eine Einschränkung der Obsorge des Erziehungsberechtigten nur insoweit angeordnet werden darf, wenn dies zur Sicherung des Wohles des Kindes notwendig ist, werden Verfügungen nach § 176 a ABGB nur dann aufzuheben sein, wenn die Voraussetzungen für ihre Anordnung nicht mehr gegeben sind. Die Mutter könnte mit ihrem Antrag auf Aufhebung der Erziehungsmaßnahme daher nur dann durchdringen, wenn anzunehmen ist, daß eine Gefahr für das Wohl des Kindes nun nicht mehr besteht (vgl. § 1696 BGB). Es kommt daher - entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes - wie bereits zur Vorschrift des § 26 JWG 1954 ausgesprochen wurde, nicht darauf an, ob die Erziehung bei einer dritten Person für das Kind besser wäre als die ordnungsgemäße Erziehung bei den Eltern (ÖA 1988, 84, 1 Ob 646/87 ua); maßgeblich ist nur, ob bei Übertragung der Obsorge an die Mutter eine Gefährdung des Kindeswohles zu befürchten wäre. Ob aber der aktenkundige Sachverhalt die Aufrechterhaltung der nach § 176 a ABGB erfolgten Übertragung der Obsorge rechtfertigt, ist, wie bereits gleichfalls zur Bestimmung des § 27 JWG 1954 ausgesprochen wurde, eine Ermessensentscheidung, bei der das Wohl des Kindes im Vordergrund steht. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit im Sinn des § 16 AußStrG könnte dann aber nur bei Ermessensmißbrauch angenommen werden (EFSlg 58.442, 52.791, 44.673 uva). Ein solcher Ermessensmißbrauch wird von der Revisionsrekurswerberin aber nicht aufgezeigt. Die Vorinstanzen sind dem Ergebnis nach davon ausgegangen, daß die Mutter aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Konstitution (chronische Krankheiten, gestörte Persönlichkeitsentwicklung, frühe psychotraumatische Erlebnisse, insuffiziente familiäre Festigung) weiterhin erziehungsuntauglich ist, sodaß bei Überlassung des Sohnes in ihre Obsorge das Wohl des Kindes sehr wohl gefährdet erscheint. In dieser Beurteilung kann eine offenbare Gesetzwidrigkeit nicht erblickt werden. Der Revisionsrekurs ist zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte