OGH 1Ob646/87

OGH1Ob646/872.9.1987

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Hofmann, Dr. Kodek und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Rene D***, geboren am 22.September 1986, infolge Revisionsrekurses der Mutter Ingeborg D***, Hausfrau, Linz, Füchselstraße 19, vertreten durch Dr. Johannes Worm, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgerichtes vom 2.Juni 1987, GZ 18 R 365/87-27, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Linz-Land vom 17.April 1987, GZ 4 P 45/86-21, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Rene D***, geboren am 22.9.1986, ist das uneheliche Kind der Ingeborg D***. Die Vaterschaft zum Kind wurde bisher nicht festgestellt. Amtsvormund des Kindes ist der Magistrat der Stadt Linz.

Die Mutter wurde im Jahre 1964 wegen sittlicher und seelischer Verwahrlosung in vorläufige Fürsorgeerziehung überwiesen, die im Jahre 1965 in die endgültige Fürsorgeerziehung abgeändert wurde. Im Rahmen dieser Erziehungsmaßnahme war die Mutter in verschiedenen Heimen untergebracht. Im Jahre 1979 brachte sie ihr erstes Kind Manuela zur Welt. Das Kind wurde am 2.5.1980 im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe bei Pflegeeltern, die das Kind in der Folge mit Zustimmung der Mutter adoptierten, untergebracht. In den Jahren 1973 bis 1983 war die Mutter als Raumpflegerin bei den Kreuzschwestern tätig, doch wurde das Arbeitsverhältnis gekündigt; seither ist Ingeborg D*** arbeitslos; sie lebt derzeit vom Karenzurlaubsgeld. Die Mutter wurde in der Folge von einer Sozialarbeiterin und vom "Haus für Mutter und Kind" betreut. Seit Dezember 1985 lebt sie in Lebensgemeinschaft mit dem wiederholt vorbestraften Franz S***. Das Zusammenleben ist durch den übermäßigen Alkoholkonsum des Franz S*** beeinträchtigt. Das Stadtjugendamt Linz beantragte am 23.9.1986 die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe in Ansehung des mj. Rene D***, weil die Mutter auf Grund ihrer persönlichen Problematik nicht in der Lage sei, die mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten zu erfüllen.

Ingeborg D*** sprach sich gegen die Anordnung der

gerichtlichen Erziehungshilfe aus.

Der Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Jugendamt, teilte dem Erstgericht mit Schreiben vom 24.3.1987 mit:

"Ergänzend zum Antrag auf gerichtliche Erziehungshilfe für den mj. Rene D*** durch Unterbringung auf einem Pflegeplatz übermittelt das Jugendamt des Magistrates Linz zusammenfassend folgenden Bericht über die Pflege und Erziehung des Kindes durch die Kindesmutter in den ersten sechs Lebensmonaten:

Die Kindesmutter zeigte in Folge der Entscheidung, daß sie das Kind vorläufig selbst in Pflege und Erziehung übernehmen könne, ein großes Bemühen, ihre Lebenssituation zu verbessern und die Pflege des Säuglings entsprechend wahrzunehmen.

Frau D*** besuchte ziemlich regelmäßig im Abstand von 14 Tagen die Mutterberatungsstelle und konsultierte zusätzlich eine Kinderärztin und einen praktischen Arzt.

Die Mutterberatungsstelle berichtete durchgehend von einem zufriedenstellenden pflegerischen Zustand und einer unauffälligen Entwicklung des Kindes.

Der psychische Gesundheitszustand der Kindesmutter ist gleichfalls stabiler: Es zeigen sich keine Depressionen; Medikamente und nervenärztliche Behandlung werden nicht in Anspruch genommen. Die Wohnungsausstattung wurde durch die Anschaffung von Waschmaschine und Elektroherd verbessert, für das Kind wurden Gitterbett und Kinderwagen angeschafft.

Die finanzielle Situation ist derzeit durch den Bezug des Karenzurlaubsgeldes gesichert.

Bei der Abwägung, ob die Lebenssituation der Kindesmutter für das Kind ausreichend stabil ist, sind auf der anderen Seite folgende Gesichtspunkte anzuführen:

Der Lebensgefährte hat seine Versprechen hinsichtlich einer Stützung der Kindesmutter nicht durchgehalten. Nach drei Monaten wurde er an seinem Arbeitsplatz gekündigt und ist wieder arbeitslos (Notstandshilfebezug). Auch hat er seinen Alkoholkonsum wieder aufgenommen und bringt oft einen Freund oder Freunde in die Wohnung der Kindesmutter mit.

Frau D*** dürfte es oft nicht gelingen, im Interesse des Kindes diese Besuche und deren Alkoholkonsum im Rahmen zu halten und eine ruhige Atmosphäre sicherzustellen.

Es erscheint unsicher, ob es ihr auf Dauer gelingen kann, zu diesem ungünstigen Milieu ihrer Umgebung Distanz zu halten und die Bedürfnisse des Kindes als vorrangig zu beachten.

Insgesamt entsteht der Eindruck, daß die positiven Bemühungen Frau D*** kausal mit der Antragstellung des Jugendamtes bei Gericht und der möglichen Pflegeplatzunterbringung des Kindes im Zusammenhang stehen.

Auch die in dieser Zeit mehrmaligen Vorladungen und Hausbesuche des befaßten Sozialarbeiters haben dazu beigetragen, daß im großen und ganzen die Pflege des Kindes durch die Kindesmutter verantwortbar war.

Durch diese besondere Situation, die durch äußeren Druck und intensive Erziehungsaufsicht geprägt ist, kann aber nicht schlüssig die Frage beantwortet werden, ob die Kindesmutter auch ohne diese regelmäßigen Interventionen weiterhin entsprechend bemüht und in der Lage wäre, die Pflege und Erziehung des Kindes ausreichend sicherzustellen."

Das Erstgericht überwies den mj. Rene D*** der gerichtlichen Erziehungshilfe und ordnete seine Unterbringung bei einer Pflegefamilie an. Es sprach aus, daß diese Verfügung sogleich in Vollzug zu setzen sei. Es stellte fest:

Ingeborg D*** leide an rezidivierenden Depressionen, sie habe zwei Selbstmordversuche unternommen und sei deshalb stationär im Wagner-Jauregg-Krankenhaus Linz behandelt worden. Intellektuell liege bei ihr eine Minderbegabung im Sinne einer Debilität vor. Die Mutter sei nicht ausreichend beziehungsfähig, was ein kontinuierliches Zusammenleben mit einem Partner, aber auch mit einem älter werdenden Kind erschwere. Daß es bisher zu keiner Vernachlässigung des Kindes gekommen sei, sei damit zu erklären, daß die Mutter aus einem gewissen Instinkt heraus handle und das schwebende Verfahren sowie die intensive Erziehungsaufsicht die Mutter zu besonderen Anstrengungen motiviert haben. Mit fortschreitendem Alter des Kindes würden sich Schwierigkeiten in der Betreuung und Erziehung ergeben. Aus psychologischer Sicht sei die Abnahme des Kindes vor dem Erreichen des neunten Lebensmonats einer im Laufe des zweiten oder dritten Lebensjahres erforderlich werdenden Abnahme vorzuziehen.

Das Erstgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, gemäß § 26 Abs.1 JWG sei Erziehungshilfe gegen den Willen des Erziehungsberechtigten nur dann anzuordnen, wenn sie geboten sei, weil der Erziehungsberechtigte die Erziehungsgewalt mißbrauche oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfülle. Voraussetzung für die Gewährung der Erziehungshilfe sei das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes, der voraussetze, daß für das Kind überhaupt nicht gesorgt werde oder aber die Fürsorge so unzulänglich sei, daß das Wohl des Kindes gefährdet werde. Mangelnde Fürsorge bzw. Nichterfüllung der mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten sei aber schon dann anzunehmen, wenn die Erziehungsberechtigten nicht geeignet oder nicht imstande seien, dem Kind die erforderlich erscheinende Hilfe zu gewähren. Erziehungshilfe habe das gefährdete, aber noch intakte Kind zum Gegenstand. Wenngleich derzeit eine Vernachlässigung der Pflege des mj. Rene nicht feststellbar sei, so sei Ingeborg D*** doch die Erziehungstüchtigkeit abzusprechen, weil ihr die Fähigkeit zur Kontinuität in der Pflege und Erziehung auf Grund der intelektuellen Leistungsbeeinträchtigung und ihrer gestörten Persönlichkeit fehle. Auch der derzeitige Lebensgefährte Franz S*** könne nicht als relevante und für die Kontinuität der Erziehung hilfreiche Bezugsperson angesehen werden. Bei einem weiteren Verbleib im bisherigen Milieu sei die Entwicklung des mj. Rene ernsthaft gefährdet, insbesondere dann, wenn sich das Kind aus der frühen Mutter-Kind-Symbiose herauslöse und der Mutter als eigenständige Persönlichkeit gegenüberzutreten beginne. Die Gefährdungsprognose werde vor allem auch durch den Verlauf der Entwicklung des ersten Kindes, das im 14.Lebensmonat auf Grund der Erziehungsschwierigkeiten der Mutter bei einer Pflegefamilie untergebracht werden mußte, untermauert.

Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Es übernahm die Tatsachenfeststellungen und billigte im wesentlichen die rechtliche Beurteilung des Erstrichters. Die Annahme eines Erziehungsnotstandes sei im vorliegenden Fall deshalb gegeben, weil das Kind zufolge der besonderen Persönlichkeitsstruktur der Mutter in seiner Entwicklung künftig gefährdet sein werde.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen den Beschluß des Rekursgerichtes erhobene Revisionsrekurs der Mutter ist gerechtfertigt.

Da das Rekursgericht die Entscheidung des Erstgerichtes bestätigte, ist der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gemäß § 16 Abs.1 AußStrG nur im Falle einer unterlaufenen offenbaren Gesetzwidrigkeit, einer Aktenwidrigkeit oder aber einer Nichtigkeit zulässig. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn ein Fall im Gesetz so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde, oder wenn die Entscheidung mit den Grundprinzipien des Rechts im Widerspruch steht (EFSlg.47.208, 42.328, 42.327 u.a.). Gegen den Willen des Erziehungsberechtigten kann die gerichtliche Erziehungshilfe, wie die Vorinstanzen zutreffend erkannten, nur angeordet werden, wenn sie deshalb geboten ist, weil der Erziehungsberechtigte die Erziehungsgewalt mißbraucht oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllt (§ 26 Abs.1 JWG). Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes Voraussetzung für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe. Ein solcher ist gegeben, wenn die Eltern für das Kind nicht sorgen oder die Füsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes gefährdet wird (SZ 49/38; SZ 47/137; EvBl.1969/208 u.a.). Im grundsätzlich vorbeugenden Charakter der Erziehungshilfe liegt die Abgrenzung zur Erziehungsaufsicht und zur Fürsorgeerziehung, die wieder grundsätzlich repressiven Charakter tragen (SZ 49/38). Dem Gesetz ist aber mit aller Deutlichkeit zu entnehmen, daß die gerichtliche Erziehungshilfe nur angeordnet werden darf, wenn der Erziehungsberechtigte die mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten nicht erfüllt, das heißt ganz konkret bereits nicht erfüllt hat, mag dies auch darauf beruhen, daß der Erziehungsberechtigte nicht geeignet ist, dem Kind die erforderliche Hilfe zu gewähren. Es bedarf daher konkreter Feststellungen über die Handlungen und Unterlassungen des Eziehungsberechtigten und über die zum Wohle des Kindes erforderlichen erzieherischen Maßnahmen, und nicht bloß allgemeiner Wertungen (6 Ob 708/84). Eine ungünstige Zukunftsprognose allein genügt nicht. Erziehungshilfe umfaßt alle Maßnahmen, die einer sachgemäßen und verantwortungsbewußten Erziehung dienen, wie Erziehungsberatung, Einweisung in einen Kindergarten, einen Hort, eine Tagesheimstätte, ein Jugendheim oder ein Erholungsheim und anderweitige Unterbringung (§ 24 Abs.1 Oö.JWG, LGBl 1955/82 idgF). Bei Gewährung der Erziehungshilfe ist jeweils das gelindeste zur Bewahrung des Minderjährigen vor Verwahrlosung ausreichende Erziehungsmittel anzuwenden (§ 24 Abs.2 Oö-JWG). Dies gilt für die Durchführung der gerichtlichen Erziehungshilfe sinngemäß (§ 25 Oö.JWG). Welche Erziehungsmaßnahme zu ergreifen ist, hat das Gericht nach Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles unter Bedachtnahme auf das Wohl des Kindes zu entscheiden. Es ist aber der Minderjährige beim Erziehungsberechtigten zu belassen und nur durch Erziehungsberatung zu unterstützen, wenn diese Maßnahme zur Beseitigung eines aufgetretenen Erziehungsnotstandes ausreicht (EvBl 1974/139; EvBl 1969/208 ua). Die Erziehungsberatung kann dort angewendet werden, wo ein zutage getretener Eziehungsnotstand noch nicht besonders gravierend ist und der Minderjährige im Falle der Belassung beim Erziehungsberechtigten in körperlicher und psychischer Beziehung noch nicht gefährdet ist (SZ 49/38; EvBl 1974/139 ua).

Die getroffenen Feststellungen rechtfertigen nur die Annahme, daß die Mutter zufolge ihrer besonders gearteten Persönlichkeitsstruktur künftig ihre Pflichten nicht werde erfüllen können. Der Bericht des Jugendamtes der Landeshauptstadt Linz vom 24.3.1987 aber läßt erkennen, daß die Mutter derzeit mit Erfolg bemüht ist, den an sie gestellten Anforderungen zu entsprechen, und gelangt nur zum Ergebnis, es könne die Frage, ob sie ohne regelmäßige Intervention in der Lage sein werde, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen, nicht schlüssig beantwortet werden. Die bloße Möglichkeit, daß die Mutter ihren Erziehungspflichten nicht werde nachkommen können, genügt aber nicht zur Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe und schon gar nicht zur Unterbringung in einer Pflegefamilie, wenn die bisher offenbar freiwillig angenommene Erziehungsberatung, wie das Jugendamt berichtete, dazu beigetragen hat, daß im großen und ganzen die Pflege des Kindes durch die Mutter verantwortbar ist. Daß die Erziehung bei einer dritten Person besser wäre als die an sich ordnungsgemäße bei der Mutter, rechtfertigt noch keine Anordnung der Erziehungshilfe, weil der unehelichen Mutter das Recht auf Erziehung ihres Kindes primär zusteht (§ 170 ABGB; vgl. SZ 47/137). Eine Nichterfüllung der mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten wäre nur auch dann anzunehmen, wenn die Mutter zufolge ihrer Debilität unfähig wäre, den Anforderungen, die die Erziehung des nunmehr fast ein Jahr alten Kindes stellt, zu entsprechen. Im fortgesetzten Verfahren werden daher, allenfalls nach Einholung eines ergänzenden Gutachtens, entsprechende Feststellungen zu treffen sein. Stünde die Unfähigkeit zur Erziehung fest, würde daraus auch die Nichterfüllung der Erziehungspflichten folgern. Nach der Aktenlage wurde der mj. Rene bereits bei Pflegeeltern untergebracht. Sollte diese Maßnahme im Interesse des Kindes als dringend geboten erachtet werden, könnte die Erziehungshilfe während des fortgesetzten Verfahrens als vorläufige Maßnahme aufrecht erhalten werden, wenn das Jugendamt dies unverzüglich beantragt (vgl. § 26 Abs.2 JWG).

Demzufolge ist spruchgemäß zu entscheiden.

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