OGH 2Ob609/89

OGH2Ob609/8919.12.1989

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Pflegschaftssache der mj. Stefanie R***, geboren am 21. November 1987, infolge Revisionsrekurses des Vaters Günther R***, Angestellter, Theodor-Heuss-Straße 49, D-8070 Ingolstadt, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr. Sepp Manhart, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Feldkirch als Rekursgericht vom 12. Oktober 1989, GZ 1 a R 420/89-11, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Bregenz vom 14. September 1989, GZ P 275/89-5, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die am 21. November 1987 geborene Stefanie R*** ist ein eheliches Kind des Günther und der Margret R***. Die Mutter ist österreichische Staatsangehörige, der Vater deutscher Staatsangehöriger. Das Kind besitzt sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Eltern lebten mit dem Kind bis zu ihrer Ende November 1988 erfolgten Trennung in der in Ingolstadt in der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Ehewohnung. Damals zog die Mutter aus dieser Ehewohnung aus und beließ das Kind in der Obsorge des Vaters, der das Kind in der Folge teils selbst betreute und teils durch seine Eltern betreuen ließ. Das Kind hatte demnach seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor in Ingolstadt. Zwischen den Eltern ist zu F 489/88 des Amtsgerichtes Ingolstadt ein Scheidungsverfahren anhängig, das noch nicht beendet ist. Am 28. Juli 1989 nahm die Mutter ohne Einwilligung des Vaters das Kind zu sich und verbrachte es nach Österreich, wo sie seither in Leutenhofen 52 mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Lebensgefährten Jürgen P*** lebt.

Das Amtsgericht Ingolstadt übertrug mit rechtskräftiger einstweiliger Anordnung vom 29. August 1989 über einvernehmlichen Antrag der Eltern die elterliche Sorge für das Kind für die Dauer des Getrenntlebens der Eltern dem Vater und trug der Mutter auf, das Kind am 16. September 1989 um 12 Uhr an ihrem Wohnort in Leutenhofen herauszugeben.

Am 8. September 1989 langte ein Antrag der Mutter beim Erstgericht ein, ihr die elterlichen Rechte über das Kind allein zu übertragen (ON 1); am 13. September 1989 stellte die Mutter den Antrag, ihr bis zur endgültigen Entscheidung darüber, welchem Elternteil die alleinige Obsorge für das Kind zukommen soll, die alleinige Pflege und Erziehung bzw Betreuung des Kindes zu übertragen (ON 3).

Mit Beschluß vom 14. September 1989 ordnete das Erstgericht an, daß das Kind bis zur endgültigen Entscheidung darüber, welchem Elternteil die Obsorge im Sinn des § 144 ABGB künftig allein zukommen soll, bei der Mutter in Pflege und Erziehung zu verbleiben hat. Das Erstgericht begründete diese Entscheidung im wesentlichen damit, daß die Betreuung durch die Mutter besser dem Wohl des Kindes entspreche als die Betreuung durch die väterliche Großmutter. Dem gegen diese Entscheidung des Erstgerichts gerichteten Rekurs des Vaters gab das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluß Folge. Es hob die Entscheidung des Erstgerichts auf und trug diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Rekursgericht führte im wesentlichen aus, die Zuständigkeit des Erstgerichts sei gemäß den §§ 109 und 110 JN gegeben, weil das Kind (auch) die österreichische Staatsbürgerschaft besitze und seinen Aufenthalt im Sprengel des Erstgerichts habe. Ob dieser Aufenthalt als "gewöhnlicher Aufenthalt" anzusehen sei oder nicht, sei gemäß § 109 JN nicht entscheidend.

Die vom Erstgericht unterlassene Einvernahme des Vaters begründe einen Verfahrensmangel, der die Aufhebung der Entscheidung zur Verfahrensergänzung unumgänglich mache. Es sei aufklärungsbedürftig, aus welchen Gründen nunmehr entgegen der seinerzeit getroffenen Absprache der Eltern eine Rückführung des Kindes in den Haushalt des Vaters dem Kindeswohl entgegenstehen solle. Derzeit bestehe keine hinreichende Sachgrundlage für die Beurteilung der Frage, ob das Wohl des Kindes trotz der kurz zuvor einvernehmlich getroffenen Sorgerechtsregelung eine neuerliche und von der früheren abweichende Sorgerechtsentscheidung erfordere oder nicht. Auch wenn im Hinblick auf die Stellungnahme des Jugendamts der Bezirkshauptmannschaft Bregenz davon auszugehen sei, daß sich das Kind mittlerweile bei der Mutter gut eingelebt habe und zwischen ihr und dem Kind eine gute Beziehung bestehe, sei näher abzuklären, ob zwischen den Eltern bei der Trennung im November 1988 Absprachen über die weitere Versorgung und Betreuung des Kindes getroffen worden seien und in welcher Weise sich die Mutter dann nach ihrem Auszug aus der Ehewohnung um das Kind gekümmert und mit diesem Kontakt gehalten habe. Auch die Gründe, die die Mutter bewogen hätten, das Kind ohne Vorwissen des Vaters eigenmächtig in ihren Haushalt nach Österreich zu überführen, könnten bei der Beurteilung der Gesamtsituation nicht völlig außer acht gelassen werden.

Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß dahin abzuändern, "daß der Antrag vom 8. 9. 1989 auf Zuerkennung der Obsorge der mj Stefanie R*** auf die Kindesmutter abgewiesen und sohin auch keine vorläufige Verfügung getroffen wird".

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, sachlich aber nicht berechtigt. Der Vater macht mit seinen Rechtsmittelausführungen inhaltlich das Fehlen der inländischen Gerichtsbarkeit nach den Bestimmungen des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens, BGBl 1975/446 (MSA), für die vom Erstgericht getroffene Anordnung geltend.

Dazu ist zu erwägen:

Österreich hat sich gemäß Art 13 Abs 3 MSA vorbehalten, die Anwendung des Übereinkommens auf Minderjährige zu beschränken, die einem der Vertragsstaaten angehören. Die mj Stefanie ist österreichische und deutsche Staatsangehörige; die Bundesrepublik Deutschland ist ebenso wie Österreich Vertragsstaat. Die Anwendbarkeit des MSA blieb sowohl vom Inkrafttreten des IPRG unberührt (§ 53 IPRG) als auch vom Inkrafttreten der Bestimmungen der ZVN 1983 (insbesondere § 110 JN; vgl EB zur RV 669 BlgNR 15.GP zu § 110 JN Punkt 5). Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat (EvBl 1978/128; EFSlg 39.799; IPRAX 1986, 385 ua), umfaßt der Sachanwendungsbereich des MSA alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen (Art 1, 2 und 4 MSA). Dazu gehört auch die hier zur Beurteilung stehende Regelung der Obsorge für ein eheliches Kind nach Trennung der Eltern.

Das MSA hat eine "Verteilung der Zuständigkeiten" für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts (Art 1 und 2) und auf den Heimatstaat (Art 4) geschaffen, welche Zuständigkeiten nebeneinander bestehen (EvBl 1978/128). Diese Zuständigkeitsregelung hat zur Folge, daß bei einem Mangel der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nach dem MSA der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit begründet wird (EvBl 1978/128; IPRAX 1986, 385 ua). Bei Prüfung dieser Frage ist davon auszugehen, daß die internationale Zuständigkeit nach dem MSA im Zeitpunkt der Erlassung der Schutzmaßnahme gegeben sein muß, daß eine perpetuatio fori nicht eintritt und daß der nachträgliche Wegfall der Voraussetzungen der inländischen Gerichtsbarkeit rückwirkend die Nichtigkeit des vorangegangenen Verfahrens zur Folge hat (JBl 1984, 153 mit zustimmender Besprechung von Schwimann; IPRAX 1986, 385 ua). Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob nach den Bestimmungen des MSA die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen ist, ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts erster Instanz (5 Ob 742/78; IPRAX 1986, 385 ua).

Hauptanknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit nach dem MSA ist der "gewöhnliche Aufenthalt" des Minderjährigen (Art 1 MSA). Die allgemeine Zuständigkeit der Behörden am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Minderjährigen besteht jedoch ausdrücklich nur vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 MSA. Gemäß Art 4 Abs 1 MSA können die Behörden des Heimatstaats des Minderjährigen nach vorheriger Verständigung der Behörden des Staats, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, auf Grund ihres eigenen innerstaatlichen Rechts Schutzmaßnahmen anordnen, sofern dies ihrer Auffassung nach das Wohl des Minderjährigen erfordert. Dabei ist die Verständigung der Behörde des Aufenthaltsstaats keine Voraussetzung für die Zuständigkeit der Behörde des Heimatstaats zur Setzung von für das Wohl des Minderjährigen erforderlichen Maßnahmen (SZ 60/234). Das MSA enthält keine ausdrückliche Regelung darüber, welche Behörde im Fall einer mehrfachen Staatsangehörigkeit des Minderjährigen als Behörde des Heimatstaats im Sinn des Art 4 Abs 1 MSA anzusehen ist; es enthält auch keine besondere Regelung für den Fall eines unrechtmäßigen (fraudulösen) Aufenthaltswechsels, insbesondere in Form der Kindesentführung durch einen Elternteil.

Mehrstaatler, die auch Österreicher sind, werden zwar grundsätzlich als Inländer behandelt (Schwimann in JBl 1976, 235); dies würde aber bei unreflektierter Anwendung im Bereich der im MSA normierten Zuständigkeitsordnung zu konkurrierenden Zuständigkeiten mehrerer Heimatstaaten und damit zu unvermeidlichen Entscheidungsdivergenzen führen, die durch das MSA gerade vermieden werden sollen. Entscheidend für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit nach Art 4 Abs 1 MSA im Fall einer mehrfachen Staatsangehörigkeit des Minderjährigen kann daher nur die jeweils "effektive" Staatsangehörigkeit sein, das heißt diejenige, die durch seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder auf sonstige Weise als die wirksamere erscheint. Nur die Berücksichtigung der "effektiven" Staatsangehörigkeit wird in derartigen Fällen dem kollisionsrechtlichen Grundgedanken der Maßgeblichkeit der engsten Beziehung gerecht und nur so wird eine internationalisierungsfähige Lösung gefunden, die den vom Abkommen angestrebten internationalen Entscheidungseinklang gewährleistet (Kropholler, Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger 23; Oberloskamp, Haager Minderjährigenschutzabkommen 79; Allinger, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen 63; Reichelt in ZfRV 1968, 228; vgl auch Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechts 58 f). Im Fall der mehrfachen Staatsbürgerschaft eines Kindes wird daher bei der Beurteilung der internationalen Zuständigkeit im Sinn des Art 4 Abs 1 MSA auf seinen gewöhnlichen Aufenthalt zurückgegriffen werden müssen, weil dieser die effektive Staatsangehörigkeit bestimmt (8 Ob 618/89).

Wo der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist grundsätzlich auch im Fall eines unrechtmäßigen Aufenthaltswechsels (insbesondere in Form der Entführung des Kindes durch einen Elternteil) nach den Kriterien zu beurteilen, die für diesen Begriff im Abkommen allgemein gelten. Der gewöhnliche Aufenthalt ist demnach grundsätzlich dort gegeben, wo sich - auf Dauer angelegt - der Mittelpunkt der Lebensführung befindet (SZ 60/212 mwN). In der Rechtsprechung wurde die Auffassung vertreten, daß im Zweifel ein gewöhnlicher Aufenthalt nach einer Aufenthaltsdauer von etwa 6 Monaten angenommen werden kann (JBl 1984, 153 mwN ua). Es bedarf aber vor allem dann einer sorgfältigen und differenzierten Prüfung der jeweiligen Umstände, wenn der Aufenthalt des Kindes ein mehr oder weniger zwangsweiser ist, weil das Kind noch vor einer gerichtlichen Entscheidung über die Zuweisung der Elternrechte von einem Elternteil in einen anderen Staat gebracht wurde (Schwimann in JBl 1976, 236; SZ 60/212). Wenn ein Minderjähriger von einem nicht (allein) sorgeberechtigten Elternteil ins Ausland verbracht wird, wird sich der entgegenstehende Wille des anderen Elternteils regelmäßig rein tatsächlich dahin auswirken, daß der Aufenthalt des Minderjährigen in dem anderen Staat zunächst noch nicht als auf Dauer angelegt angesehen werden kann, sodaß ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts zunächst noch nicht eintritt. Der Wille des nicht (allein) sorgeberechtigten Elternteils und gegebenenfalls auch des Minderjährigen selbst, im neuen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, können diesen Aufenthalt zunächst objektiv auf Dauer noch nicht festlegen, solange die Möglichkeit besteht, daß der andere Elternteil die Rückführung des Minderjährigen durchsetzt, ehe es zu dessen sozialer Eingliederung in seine neue Umwelt gekommen ist, sich das Kind im Neustaat also "eingelebt" hat. Es kann also auch in Fällen des unrechtmäßigen Aufenthaltswechsels des Kindes das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Neustaat nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen entsprechenden Zeitraum gedauert hat und eine soziale Integration des Kindes insoweit erfolgt ist, daß es sich im Neustaat eingelebt hat (Schwimann in JBl 1976, 236; 1 Ob 577/88).

Unter diesen Gesichtspunkten läßt sich gerade dann, wenn Kinder von einem Elternteil gegen den Willen des anderen in ein anderes Land verbracht werden, kein einheitlicher Zeitraum festlegen, nach dessen Ablauf der Aufenthalt des Kindes im Neustaat als "gewöhnlicher Aufenthalt" im Sinn der Bestimmungen des MSA zu beurteilen wäre, weil dafür in erster Linie die soziale Integration des Kindes im Neustaat entscheidend ist, diese aber grundsätzlich bei Kindern verschiedenen Alters verschiedene Zeiträume erfordert. Während sich etwa die sozialen Kontakte eines Säuglings im wesentlichen auf seine Bezugspersonen in der Familie beschränken, hat ein Kind, das bereits die Schule besucht, viel weiter über die Familie hinausreichende soziale Kontakte (Freunde, Mitschüler, Lehrer usw), deren neuerliche Begründung einen weit größeren Zeitraum benötigt. Im vorliegenden Fall hatte das Kind im Zeitraum der Entscheidung des Erstgerichts noch nicht einmal das zweite Lebensjahr vollendet. Nach dem Bericht der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vom 13. September 1989 (ON 4) hat sich das Kind am nunmehrigen (auf Dauer angelegten) Wohnsitz seiner Mutter in Österreich sehr gut eingelebt; es hat eine ausgesprochen gute Beziehung zu seiner Mutter und zu deren Lebensgefährten und hat sich in seiner nunmehrigen Umgebung vollkommen eingewöhnt. Unter diesen Umständen muß im Hinblick auf das geringe Lebensalter des Kindes davon ausgegangen werden, daß es an seinem nunmehrigen Aufenthaltsort in Österreich trotz der verhältnismäßig geringen Aufenthaltsdauer (seit 28. Juli 1989) zum Zeitpunkt der Entscheidung des Erstgerichts (14. September 1989) soweit eingelebt und sozial integriert war, daß zu diesem Zeitpunkt bereits ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in Österreich im Sinn der Bestimmungen des MSA bestand.

Damit besteht aber an der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts nach den Bestimmungen des MSA (Art 1 und 4) zur Erlassung der von ihm getroffenen Maßnahme kein Zweifel. Den vom Rekursgericht in seinem Aufhebungsbeschluß erteilten Ergänzungsaufträgen wird im Rechtsmittel des Vaters nicht entgegengetreten. Wenn das Rekursgericht die Frage, ob das Wohl des Kindes die vom Erstgericht getroffene Maßnahme erfordert, für nicht genügend geklärt erachtete, kann dem der Oberste Gerichtshof, der auch im außerstreitigen Verfahren keine Tatsacheninstanz ist, nicht entgegentreten.

Dem Revisionsrekurs des Vaters muß unter diesen Umständen ein Erfolg versagt bleiben.

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