OGH 10ObS309/89

OGH10ObS309/8924.10.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst und Dr. Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Karlheinz Kux (AG) und Anton Korntheuer (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ewald R***, Gendarmeriebeamter iR, 5400 Hallein, Schwarzstraße 5, vertreten durch Mag. Josef Zimmermann, Sekretär der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, 1010 Wien, Teinfaltstraße 7, dieser vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei V*** Ö*** B***, 1080 Wien, Josefstädterstraße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. Juni 1989, GZ 13 Rs 22/89-26, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 5. Oktober 1988, GZ 20 Cgs 22/88-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, daß die dem Kläger zuerkannte Rente als Dauerrente zu gewähren ist.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde am 17. Juni 1986 in Ausübung seines Dienstes als Gendarmeriebeamter durch einen Schuß verletzt.

Mit Bescheid vom 4. Jänner 1988 anerkannte die beklagte Partei diesen Unfall als Dienstunfall und gewährte dem Kläger für die Unfallsfolgen eine vorläufige Versehrtenrente samt dem Kinderzuschuß und teilweise auch der Zusatzrente für Schwerversehrte für die Zeit vom 18. September bis 31. Dezember 1986 im Ausmaß von 100 % der Vollrente und für die Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1987 im Ausmaß von 20 % der Vollrente. Für die Zeit ab 1. Jänner 1988 lehnte sie die Gewährung einer Versehrtenrente ab, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit unter 10 % liege.

Der Kläger begehrte mit seiner Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm aus Anlaß des Dienstunfalls die Versehrtenrente für die Zeit vom 1. Jänner bis 14. April 1987 im Ausmaß von 50 %, für die Zeit vom 15. April bis 31. Juli 1987 im Ausmaß von 100 % und für die Zeit ab 1. August 1987 im Ausmaß von 50 % jeweils der Vollrente zuzüglich der Zusatzrente für Schwerversehrte und des Kinderzuschusses für zwei Kinder zu gewähren. Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger aus Anlaß des Dienstunfalls vom 17. Juni 1986 eine "vorläufige" Versehrtenrente für die Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1987 und sodann ab 1. Jänner 1988 im Ausmaß von 20 % der Vollrente zu gewähren, für die Zeit vom 15. April bis 31. Juli "einschließlich" der Zusatzrente für Schwerversehrte und des Kinderzuschusses für zwei Kinder. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Der Kläger wurde aus einer Entfernung von etwa 5 m von einer Kugel des Kalibers 9 mm aus einer Pistole der Marke Heckler & Koch in die rechte Brustseite getroffen. Er wurde durch den Schuß nach rechts hinten geschleudert, es verriß ihm den Kopf, er fiel auf den Ständer eines Sonnenschirms und von diesem nach links hinten auf den Boden. Der Schußkanal verlief von der rechten Brustseite entlang der Bauchdecke bis zum rechten Beckenkamm, die Kugel durchschlug den oberen Rand des Beckenkamms, wobei es hier zu Trümmerfakturen kam, und blieb im Bereich des rechten Gesäßes unter der Haut stecken. Der Kläger erlitt schon im Jahr 1966 einen Dienstunfall, bei dem er sich einen Bruch der Lendenwirbelsäule und Deckplatteneinbrüche zuzog. Er wurde zweimal im Jahr 1978 und am 16. April 1987 an der Bandscheibe zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel operiert. Durch den Unfall vom 17. Juni 1986 können die Beschwerden des Klägers im Bereich der Lendenwirbelsäule verstärkt worden sein; damit sind auch Ausstrahlungsschmerzen und Beschwerden in den Beinen verbunden. Die subjektiven Beschwerden des Klägers im Bereich des vernarbten Schußkanals sind glaubwürdig, die erheblichen Schmerzen im Verlauf von Segmentalnerven könnten durchaus auf eine kavitationsbedingte Läsion zurückzuführen sein. Außerdem verursachte die Schußverletzung den Bruch der nach einer Gallenoperation verbliebenen Narbe. Unter Berücksichtigung der vom Kläger geschilderten subjektiven Beschwerden und der bei ihm vorhandenen objektivierbaren Beeinträchtigungssymptomatik ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit für das gesamte Jahr 1987 und auch ab 1. Jänner 1988 mit 20 % anzusetzen. Der Unfall vom 17. Juni 1986 war weiters kausal für die neuen lumbalen Beschwerden des Klägers in den Folgejahren. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß dem Kläger im Hinblick auf die festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Versehrtenrente von 20 % der Vollrente gebühre.

Das Berufungsgericht bestätigte infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Erstgerichtes mit einer Maßgabe, die für das Revisionsverfahren nicht von Bedeutung ist. Es schloß sich in rechtlicher Hinsicht der Meinung des Erstgerichtes an. Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, es im Sinn des Klagebegehren abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die beklagte Partei beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Kläger vermengt in der Revision die Tat- mit der Rechtsfrage. Die Frage, inwieweit die Erwerbsfähigkeit des Versicherten aus medizinischer Sicht, also allein auf Grund der unfallbedingten Leiden, gemindert ist, gehört zum Tatsachenbereich. Hiefür hat das Erstgericht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % festgestellt und das Berufungsgericht hat diese Feststellung in Erledigung der Beweisrüge des Klägers als unbedenklich übernommen. Der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, ist hieran gebunden. Die Revisionsausführungen, die darauf gestützt werden, daß einer der drei dem Verfahren erster Instanz beigezogenen Sachverständigen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Bereich von 20 % bis 50 % für möglich und näher bei 50 % für wahrscheinlich gehalten hat, sind daher nicht zielführend. Der Kläger bekämpft damit in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung der Vorinstanzen. Der rechtlichen Beurteilung der Sache darf nicht das vom Kläger angeführte Sachverständigengutachten zugrunde gelegt werden, sondern es muß hiebei von den Feststellungen des Erstgerichtes ausgegangen werden.

Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung SSV-NF 1/64 ausgesprochen, daß die sogenannte medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bildet und daß nur unter besonderen Umständen ein Abweichen von der medizinischen Einschätzung geboten ist. Solche Umstände sind hier aber nicht hervorgekommen. Der Kläger bringt hiezu in der Revision - erstmals - vor, daß er mit Wirksamkeit vom 30. September 1987 wegen dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden sei, und beruft sich auf die in der Klage vorgelegte Ablichtung des Bescheides der zuständigen Behörde über die Versetzung in den Ruhestand. Es muß hier nicht geprüft werden, ob der Berücksichtigung dieses Vorbringens das Neuerungsverbot entgegensteht, weil es für die rechtliche Beurteilung ohne Bedeutung ist. Die Unfähigkeit, seinen bisherigen Beruf auszuüben, hat nämlich nicht zwangsläufig eine höhere Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung III, 56. Nachtrag 569 mwN aus der vergleichbaren deutschen Lehre und Rechtsprechung; 10 Ob S 342/88). Das Argument des Klägers, er sei auf Grund der unfallbedingten Leiden vom Arbeitsmakrt "so gut wie ausgeschlossen", steht mit der vom Erstgericht festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht im Einklang. Soweit der Kläger die Berücksichtigung der "psychischen Aggravation" verlangt, verkennt er offensichtlich die Bedeutung dieses Wortes. Unter "Aggravation" ist nämlich die Übertreibung subjektiver Krankheitserscheinungen zu verstehen (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch255 unter diesem Stichwort). Die Aggravation spricht daher nicht für, sondern gegen seinen Standpunkt. Zu beachten war allerdings, daß die Versehrtenrente gemäß § 107 Abs 1 B-KUVG als Dauerrente festzustellen gewesen wäre, weil zur Zeit des Schlusses der mündlichen Verhandlung am 5. Oktober 1988 seit dem Eintritt des Versicherungsfalls schon mehr als zwei Jahre verstrichen waren. Da die Vorinstanzen dies aber offensichtlich beabsichtigten, war das Urteil des Berufungsgerichtes mit einer entsprechenden Maßgabe zu bestätigen.

Ohne Bedeutung ist hingegen, daß gemäß § 108 Abs 2 B-KUVG iVm dem vorangehenden Abs 1 spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuen Versicherungsfalls an die Rente nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen ist, wenn ein Versehrter neuerlich durch einen Dienstunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt wird, die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 % beträgt und die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 % (bei bestimmten Berufskrankheiten 50 %) erreicht. Den Gegenstand des Verfahrens bildete nämlich allein der Dienstunfall vom 17. Juni 1986, nicht aber auch der Dienstunfall des Jahres 1966. Die Vorinstanzen waren daher nicht verpflichtet und auch gar nicht berechtigt, den Dienstunfall des Jahres 1966 zum Gegenstand ihrer Entscheidung zu machen und über die Gewährung einer Gesamtrente zu entscheiden; dies hätte vorausgesetzt, daß der Kläger seine Klage auf beide Dienstunfälle gestützt oder die beklagte Partei die Notwendigkeit der Feststellung einer Gesamtrente eingewendet hätte. Da dies nicht geschah, ist es auch dem Obersten Gerichtshof verwehrt, auf die Feststellung einer Gesamtrente Bedacht zu nehmen. Die dem Kläger gebührende Versehrtenrente war vielmehr gemäß § 108 Abs 5 B-KUVG entsprechend dem Grad der durch die neuerliche Schädigung allein verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit zuzuerkennen. In dem angeführten Punkt unterscheidet sich der hier zu beurteilende von jenem Fall, welcher der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 7. Februar 1989, 10 Ob S 36,37/89 (=SSV-NF 3/24 - in Druck), zugrundelag und in dem die Vorinstanzen eine Gesamtrente feststellten und der Oberste Gerichtshof dies billigte. Damals bildeten alle Arbeitsunfälle den Gegenstand der - zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen - Verfahren. Wie zu entscheiden ist, wenn die beklagte Partei die Notwendigkeit der Feststellung einer Gesamtrente einwendet, ist hier nicht zu erörtern.

Das Oberlandesgericht Wien als damaliges Höchstgericht vertrat allerdings die Ansicht (SSV 21/93; vgl. auch SVSlg. 21.676), daß das Gericht wegen der in imperativer Form gehaltenen Anordnung des Gesetzes nach dem Grundsatz der sukzessiven Kompetenz ab Beginn des dritten Jahres eine Gesamtrente feststellen müsse. Dem vermag sich der Oberste Gerichtshof jedoch nicht anzuschließen. Es ist trotz der "imperativen Anordnung" in den in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen (§ 210 ASVG, § 108 B-KUVG) nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber die Grundsätze des Verfahrensrechtes und hier im besonderen jenen des § 405 ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist, für den Bereich der Unfallversicherung außer Kraft setzen wollte. Eine Kostenentscheidung entfiel, da Kosten nicht verzeichnet wurden.

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