OGH 10ObS134/89

OGH10ObS134/896.6.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Tschochner (AG) und Dr.Simperl (AN) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Muzaffer Y***, Arbeiter, 4310 Mauthausen, Bahnhofstraße 138, dieser vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1092

Wien, Roßauerlände 3, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10.Jänner 1989, GZ 12 Rs 1/89-16, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeitsund Sozialgerichtes vom 12.Oktober 1988, GZ 15 Cgs 13/88-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.10.1987 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und trug ihr die Leistung einer vorläufigen Zahlung von S 3.000 monatlich auf. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Der am 10. (richtig: 1.) 3.1949 geborene Kläger legte in den Jahre 1965 bis 1968 in der Türkei die Steinmetzlehre zurück und arbeitete dort von 1968 bis 1972 mit der Unterbrechung durch den Wehrdienst in der Dauer von 18 Monaten als Steinmetz. Vom September 1972 bis Jänner 1988 war er bei einem Unternehmen in Österreich beschäftigt. Er hatte dort zu 80 % Steinmetzarbeiten zu verrichten, dabei wiederum überwiegend die Tätigkeit eines Schriften- und Ornamentehauers. Ferner schlug er Steine zu und führte Steinmetzarbeiten mit dem Keillochhammer (Riffel-Arbeiten) aus. Im Umfang von 20 % arbeitete er bei der Oberflächenbehandlung von Steinplatten an der Flämmaschine. Es handelt sich dabei nicht um die Arbeit eines Steinmetzes. Der Kläger konnte alle Arbeiten durchführen, die im Unternehmen seines Arbeitgebers von gelernten Steinmetzen verrichtet wurden. Es gab dort bezüglich seiner Einsatzfähigkeit keinen Unterschied zu den gelernten Steinmetzen. Der Kläger mußte unter Hilfe eines Poliers nach Plänen arbeiten. Ferner fertigte er von Skizzen Schablonen an und führte außerdem eine Oberflächenbehandlung im Sinne von "Profilanlegen" durch. Mit Kostenberechnungen hatte er nichts zu tun. Hobeln, Polieren und Fräsen hätte er zwar gekonnt; er mußte diese Arbeiten jedoch nicht ausführen, weil sie von Hilfsarbeitern besorgt wurden. Er hatte auch keine Versetzarbeiten durchzuführen und außerdem nicht alle Oberflächenbehandlungstechniken anzuwenden.

Der Aufgabenbereich des Steinmetzes umfaßt die handwerkliche und auch maschinelle Bearbeitung von Natur- und Kunststeinen sowie das Versetzen der fertigen Steine. Es werden Tür- und Fensterverkleidungen, Fassaden, Innenwandpfeiler und Portalverkleidungen hergestellt, Plattierungen von Stufen, Treppen und Bodenbelägen aus Stein vorgenommen und Fensterbänke, Heizkörper-, Kamin- und Badezimmerverkleidungen sowie Einrichtungsgegenstände, wie Tische und Pflanzentröge, erzeugt. Bei Friedhofsarbeiten müssen Grabsteine und Grabeinfassungen hergestellt werden und Inschriften für Grabsteine und Gedenktafeln graviert und vergoldet oder gefärbt werden.

Der Kläger konnte alle Arbeiten, die gelernte Steinmetze im Unternehmen seines Arbeitsgebers verrichteten, ausführen. Er führte "die Haupttätigkeit" aus, die der Steinmetz beherrscht. Seine in Österreich ausgeübte Tätigkeit entspricht der eines gelernten Steinmetzes.

Der Kläger kann die bisher ausgeübte Berufstätigkeit nicht mehr ausüben, weil sie fallweise schwer ist und zeitweise das Anheben und Tragen von Lasten erfordert, die wesentlich über 15 kg hinausreichen. Dies gilt auch für andere Tätigkeiten innerhalb der Berufsgruppe der Steinmetze, wie für den Steinbohristen, Spalter oder Steinsäger, und ferner auch für das Herstellen von Grabsteinen. Der Beruf des Schriftenhauers kommt für den Kläger nicht in Betracht, weil es in Österreich hiefür nur eine unzureichende Anzahl von Arbeitsplätzen gibt.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin, daß der Kläger zwar nicht einen Lehrberuf ausgeübt habe, weil die Material- und Ausbildungsbedingungen in der Türkei gegenüber jenen in Österreich nicht als gleichwertig angesehen werden könnten, daß er aber in einem angelernten Beruf im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG tätig gewesen sei, weil er die zentralen Tätigkeiten des Lehrberufes "Steinmetz", die im Unternehmen seines Arbeitsgebers verlangt worden seien, verrichtet habe. Es könne nicht gefordert werden, daß er über sämtliche Kenntnisse und Fähigkeiten des Lehrberufes verfüge. Da ihm innerhalb der Berufsgruppe der Steinmetze keine Berufstätigkeit mehr offenstehe, sei er gemäß § 255 Abs 1 ASVG invalid.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Der Kläger genieße den Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG, weil er die zentralen Tätigkeiten eines Steinmetzes ausgeführt habe. Daß er nicht sämtliche Tätigkeiten, für die ein gelernter Steinmetz ausgebildet werde, verrichtet habe (so habe er etwa keine Versetzarbeiten und auch nicht alle Oberflächenbearbeitungstechniken ausgeführt), liege in der heute üblichen Spezialisierung auch in diesem Berufsbereich begründet und könne ihm nicht zum Nachteil gereichen. Er könne nach seinem Leistungskalkül innerhalb seiner Berufsgruppe nur den Beruf eines Schriftenhauers ausüben, wofür es nach dem festgestellten Sachverhalt allerdings Arbeitsplätze nicht in ausreichender Zahl gebe. Da der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben und nicht mehr auf anderen Berufe verwiesen werden könne, sei er invalid.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zu neuerlicher Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die Ansicht der beklagten Partei, daß die Invalidität des Klägers nicht nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen sei, trifft allerdings nicht zu. Es kann für die Entscheidung im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein Beruf, der im Ausland erlernt wurde, als erlernter Beruf im Sinn der angeführten Bestimmung anzusehen ist. Den Vorinstanzen ist nämlich jedenfalls darin beizupflichten, daß der Kläger im maßgebenden Zeitraum zumindest in einem angelernten Beruf tätig war.

Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf im Sinn des Abs 1 dieser Gesetzesstelle vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 1/48; SSV-NF 2/66; 10 Ob S 316/88; 10 Ob S 60/89 ua).

Die beklagte Partei macht in der Revision zwar mit Recht geltend, daß es nicht genügt, wenn der Versicherte in einem bestimmten Betrieb Arbeiten verrichtet, die denen der dort beschäftigten gelernten Arbeitnehmer gleichwertig ist. Er muß vielmehr unabhängig von den Verhältnissen an seinem Arbeitsplatz die für den in Betracht kommenden Lehrberuf erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten in dem erwähnten Umfang besitzen. Die beklagte Partei übersieht aber, daß das Erstgericht nicht nur feststellte, im Betrieb des Arbeitgebers des Klägers habe zwischen ihm und den gelernten Arbeitnehmern kein Unterschied bestanden, sondern daß es außerdem die Feststellung trafe, der Kläger habe "die Haupttätigkeit", die der Steinmetz beherrscht, ausgeführt, die Tätigkeit, die der Kläger in Österreich ausführte, entspreche der eines gelernten Steinmetzes. Das Erstgericht wollte damit offensichtlich zum Ausdruck bringen, daß er über alle Kenntnisse und Fähigkeiten verfügte, die in Österreich von einem Steinmetz üblicherweise erwartet werden. Wohl gehört die Lösung der Frage, ob der Versicherte in einem angelernten Beruf tätig war, zur rechtlichen Beurteilung (SSV-NF 1/48). Die Feststellung der Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte verfügt, fallen aber in den Tatsachenbereich. Aus den angeführten Feststellungen ist daher rechtlich zu schließen, daß der Kläger die wesentlichen Kenntnisse des Lehrberufes "Steinmetz" besitzt. Da er sie bei seiner während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübten Berufstätigkeit auch verwendete, genießt er nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG Berufsschutz.

Die beklagte Partei bringt in der Revision dagegen zu Unrecht vor, daß er diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht durch seine praktische Arbeit erworben habe. Dies wird zwar im § 255 Abs 2 ASVG erwähnt. Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber denjenigen, der die Kenntnisse und Fähigkeiten auf andere Art, also etwa durch eine Ausbildung im Ausland, erwarb, schlechter als denjenigen stellen wollte, dessen Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf seine praktische Arbeit zurückgehen. Ebenso wie bei einem Versicherten, der in einem erlernten Beruf tätig ist, neben der praktischen auch die theoretische Ausbildung zu berücksichtigen ist, müssen bei einem anderen Versicherten die Kenntnisse und Fähigkeiten berücksichtigt werden, die er sich neben seiner beruflichen Tätigkeit oder durch eine vor dem Beobachtungszeitraum liegende Tätigkeit erwarb, all dies aber nur unter der Voraussetzung, daß sie in der im Beobachtungszeitraum überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit in jenem Ausmaß zum Tragen kamen, das hiefür üblicherweise von gelernten Arbeitern dieser Berufsgruppe erwartet wird. Dies war beim Kläger aber der Fall.

Der Kläger ist daher nur im Rahmen seiner Berufsgruppe verweisbar. Aus den Feststellungen des Erstgerichtes und den sie ergänzenden, dem Tatsachenbereich zuzuordnenden Ausführungen des Berufungsgerichtes ergibt sich, daß für ihn auf Grund seines Leistungskalküls nur mehr die Arbeit eines Schriftenhauers in Betracht kommt. Das Erstgericht hat hiezu auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen für Berufskunde festgestellt, daß in Österreich nur eine "unzureichende Anzahl" von Arbeitsplätzen vorhanden sei. Die beklagte Partei macht mit Recht geltend, daß diese Feststellung nicht genügt. Es ist zwar richtig, daß als Verweisungstätigkeiten nur solche Arbeiten in Betracht kommen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl, also nicht so eingeschränkt vorkommen, daß von einem "Arbeitsmarkt" gar nicht mehr gesprochen werden kann (SSV-NF 2/20 ua). Die Beurteilung der Frage, ob dies zutrifft, gehört aber zur rechtlichen Beurteilung und kann, vom Fall der Offenkundigkeit abgesehen (vgl. SSV-NF 2/20), nur auf Grund entsprechender Feststellungen gelöst werden. Hiezu gehört, daß die Anzahl der vorhandenen Arbeitsplätze, wenn auch nur näherungsweise und der Größenordnung nach, festgestellt wird. Zur Ergänzung des Verfahrens in dieser Richtung war die Rechtssache daher gemäß § 2 Abs 1 ASGG iVm § 496 Abs 3 und § 510 Abs 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

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