OGH 2Ob116/88

OGH2Ob116/8825.10.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach Isabella P***, verstorben am 15. Dezember 1985, zuletzt wohnhaft 1180 Wien, Währingerstraße 125/20, vertreten durch Dr. Walter Jarosch, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien

1.) W*** A*** Versicherungs-AG, 1130 Wien, Hietzinger Kai 101-105, 2.) Dr. Christian T***, Arzt, 1180 Wien, Währingerstraße 125/20, beide vertreten durch Dr. Manfred Lampelmayer, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 35.600,- s.A., infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 26. Mai 1988, GZ 15 R 89/88-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 2. Dezember 1987, GZ 40 Cg 718/87-18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil aufgehoben; zugleich wird auch das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung und Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Am 2. November 1985 ereignete sich in Tatabanya, Ungarn, ein Verkehrsunfall, an dem Fabio B*** als Lenker des PKW Mercedes mit dem polizeilichen italienischen Kennzeichen GE 867.240 sowie der Zweitbeklagte als Lenker des PKW Honda Quintett mit dem polizeilichen Kennzeichen S 518.236 beteiligt waren. Isabella P*** war Insassin des vom Zweitbeklagten gelenkten PKWs und verstarb infolge der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen am 15. Dezember 1985. Der Zweitbeklagte wurde wegen dieses Verkehrsunfalles mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24. September 1986 zu 8 b E Vr 14.437/85, Hv 55.300/86, rechtskräftig verurteilt.

Mit der vorliegenden Klage begehrte die Klägerin Schmerzengeld in Höhe von S 35.600,-.

Die Beklagten bestritten das Klagebegehren, beantragten Klagsabweisung und wendeten ein, daß auf den vorliegenden Fall ungarisches Recht zur Anwendung komme, nach welchem Schmerzengeld nicht zustehe.

Die Parteien stellten außer Streit, daß das begehrte Schmerzengeld nach österreichischem Recht angemessen ist. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Gemäß § 48 Abs 1 IPRG - dem Haager Abkommen sei Ungarn nicht beigetreten - seien außervertragliche Schadenersatzansprüche nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem das den Schaden verursachende Verhalten gesetzt worden sei. Bestehe jedoch für die Beteiligten eine stärkere Beziehung zum Recht ein- und desselben Staates, wäre dieses Recht maßgebend. Der Begriff "Beteiligte" umfasse die an dem schadenverursachenden Ereignis Beteiligten, nicht nur die an dem Schadenersatzprozeß Beteiligten. Gehe man von diesem weiten Beteiligungsbegriff aus, sei der Lenker des italienischen Fahrzeuges miteinzubeziehen, der zum österreichischen Recht keinerlei Nahebziehung habe. Es komme daher für sämtliche Beteiligte ungarisches Recht zur Anwendung, dem Entschädigung für Schmerzengeld oder Verunstaltungsentschädigung fremd sei.

Infolge Berufung der Klägerin änderte das Gericht zweiter Instanz das Urteil des Erstgerichtes im Sinne der Klagsstattgebung ab. Das Berufungsgericht erklärte die Revision für zulässig, erachtete das erstgerichtliche Verfahren als mängelfrei, gelangte jedoch zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung. Das Haager Straßenverkehrsabkommen sei unabhängig davon anzuwenden, ob es auch in dem Staat in Geltung stehe, zu dem der Sachverhalt die entsprechende Beziehung aufweise. Seine Anwendbarkeit sei also nicht an die Gegenseitigkeitsvoraussetzung gebunden. Entscheidend sei, ob die in der Berufungsverhandlung außer Streit gestellte Lebensgemeinschaft der getöteten Isabella P*** mit dem Zweitbeklagten eine solche Sonderrechtsbeziehung darstelle, die den Abgang vom Recht des Tatortes rechtfertige. Sonderrechtsbeziehungen bestünden beispielsweise bei bürgerlich-rechtlichen Gesellschaften, wie es eine Reisegruppe im Ausland darstelle. Dies sei im vorliegenden Fall jedoch zu verneinen, da es sich bei der von Isabella P*** und Dr. T*** unternommenen Fahrt nach Ungarn lediglich um einen Kurzausflug handelte. Rechtsgeschäftliche Vereinbarungen über den Kurzausflug nach Ungarn würden wohl zwischen den Lebensgefährten nicht bestanden haben und seien auch nicht in konkreter Form behauptet worden. Dennoch könnten zwischen ihnen als Lebensgefährten Sonderrechtsbeziehungen angenommen werden, die zwar keinen rechtsgeschäftlichen Charakter aufweisen, sondern den vorvertraglichen Schutz-, Fürsorge- und Sorgfaltspflichten verwandt seien, die mit der rechtsgeschäftlichen Kontaktaufnahme entstehen. Derartige Schutz- und Fürsorgepflichten seien zwischen Lebensgefährten anzunehmen, da diese in ihrer Lebensgemeinschaft einen gemeinsamen Zweck verfolgten und außerdem die Möglichkeit jedes von ihnen, auf den anderen und dessen Rechtsgüter einzuwirken, gegenüber der Einwirkungsmöglichkeit Dritter stark erhöht sei. Diese Umstände rechtfertigten infolge des intensiven sozialen Kontaktes auch eine Erhöhung der gegeneinander bestehenden Pflichten. Die rechtlichen Sonderbeziehungen aus einer Lebensgemeinschaft seien daher, so wie die vorvertraglichen Schuldverhältnisse gemäß § 1 Abs 1 IPRG jener Rechtsordnung zu unterwerfen, zu der die stärkste Bindung bestehe. Die Sonderrechtsbeziehung, die zwischen Isabella P*** und ihrem Lebensgefährten, dem Zweitbeklagten, bestanden habe, rechtfertige daher ein Abgehen vom Recht des Tatortes und die Anwendung österreichischen Rechts. Die auch unter dem Blickwinkel, daß der Beteiligtenbegriff im Sinne des § 48 Abs 1 IPRG entgegen der Meinung des Erstgerichtes nur die Parteien (den Haftpflichtversicherer und Geschädigten, nicht auch Gehilfen und sonstige haftungsauslösende Täter) umfasse. Da die Angemessenheit der eingeklagten Forderung nach österreichischem Recht außer Streit gestellt wurde, sei der Klage stattzugeben gewesen.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Beklagten aus dem Anfechtungsgrund nach § 503 Abs 1 Z 4 ZPO mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig (§ 502 Abs 4 Z 1 ZPO) und im Sinne ihres Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Die Beklagten weisen insbesondere darauf hin, daß die Bestimmung des § 48 IPRG im Geltungsbereich des Haager Straßenverkehrsübereinkommens nicht zur Anwendung komme; nach dem genannten Übereinkommen sei jedoch mit Rücksicht auf den Unfallsort ungarisches Recht anzuwenden, das keine Schmerzengeldansprüche kenne.

Hiezu hat das Revisionsgericht erwogen: Gemäß Art. 11 des Haager Straßenverkehrsübereinkommens BGBl. 1975/387 ist die Anwendung der Art. 1 bis 10 unabhängig vom Erfordernis der Gegenseitigkeit. Das Übereinkommen ist auch anzuwenden, wenn das anzuwendende Recht nicht das Recht eines Vertragsstaates ist. Zutreffend ist daher auch das Berufungsgericht von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Haager Straßenverkehrsübereinkommens im vorliegenden Fall ausgegangen. Gemäß § 53 IPRG werden Bestimmungen zwischenstaatlicher Vereinbarungen durch dieses Bundesgesetz nicht berührt; zu diesen zwischenstaatlichen Vereinbarungen zählt auch das Haager Straßenverkehrsübereinkommen (vgl. Duchek-Schwind IPR; 118, A. 9. zu

§ 53 IPRG). Die Bestimmungen dieses Übereinkommens stehen daher einer Anwendung des § 48 IPRG entgegen (Duchek-Schwind aaO, 101, Anm. 1 zu § 48 IPRG; Schwimann in Rummel ABGB, S. 3043, Rz 1 zu

§ 48 IPRG). Da die im Art. 2 des Haager Straßenverkehrsübereinkommens normierten Ausnahmebestimmungen von der Anwendung des Übereinkommens im gegenständlichen Fall ebensowenig vorliegen wie jene des Art. 4 von der Anwendung des nach Art. 3 in Betracht kommenden Rechtes des Staates, in dessen Hoheitsgebiet sich der Unfall ereignet hat, kommt nach der letztgenannten Bestimmung ungarisches Recht zur Anwendung. Eine Stellungnahme zu den auf den § 48 IPRG gestützten Überlegungen der Vorinstanzen war daher aus den oben dargelegten Gründen entbehrlich. Die Frage, ob nach ungarischem Recht Schmerzengeld zuerkannt wird oder nicht, kann jedoch noch nicht abschließend beurteilt werden. Während der Geltungsdauer des ungarischen Zivilgesetzbuches aus dem Jahre 1959 (Nr. IV/1959) wurde zwar die Zuerkennung von Schmerzengeld angelehnt (vgl. etwa EvBl 1974/180 ua), nunmehr wurde das ungarische Zivilgesetzbuch jedoch durch das Gesetz Nr. IV/1977 novelliert, dessen § 354 den Ersatz nicht vuümegensrechtlichen Schadens vorsieht, wenn die Schadenszufügung dem Verletzten die Teilnahme am sozialen Leben oder überhaupt seine Lebensführung schwerwiegend oder dauerhaft erschwert oder die Teilnahme einer juristischen Person am Wirtschaftsverkehr abträglich beeinflußt hat (vgl. Racz, DRiZ März 1979, S. 70). Heinrich-Neidhart-Zwerger vertreten in "Schadensfälle im Ausland", A***-Verlag, 1983, S. 250, allerdings ohne nähere Begründung oder Quellenangabe die Auffassung, daß auch nach der Regelung des § 354 des ungarischen Zivilgesetzbuches kein Schmerzengeld gefordert werden könne. Hinreichende Unterlagen über die ungarische Rechtsprechung zu dieser Frage sind nicht verfügbar.

Nach § 3 IPRG ist fremdes Recht von Amts wegen und wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich anzuwenden, und zwar unter Berücksichtigung der herrschenden ausländischen Rechtsprechung und Lehre (Schwimann aaO S. 2925, Rz 3 zu § 3 IPRG, Duchek-Schwind, IPR, Anm. 4 zu § 3 IPRG).

Die Vorinstanzen haben jedoch eine Ermittlung im Sinne des § 4 Abs 1 IPRG, ob nach der derzeitigen Rechtslage nach ungarischem Recht Schmerzengeld zuerkannt wird oder nicht, unterlassen, was nach ständiger Rechtsprechung die Aufhebung der Urteile erforderlich macht (vgl. SZ 34/134, SZ 46/83, ZVR 1978/243, ZfRV 1987, 53 ua). Das Erstgericht wird im Sinne des § 4 Abs 1 IPRG vorzugehen und die für die Lösung der aufgezeigten Frage maßgeblichen ungarischen Rechtsvorschriften und die Art ihrer Anwendung in ihrem ursprünglichen Geltungsbereich (§ 3 IPRG) zu ermitteln haben. Erst dann wird über die Berechtigung des Klagsausspruches entschieden werden können.

Der Revision war daher Folge zu geben und wie im Spruch zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

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