OGH 10ObS204/88

OGH10ObS204/8820.9.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Herbert Vesely (AG) und Rudolf Hundstorfer (AN) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Elisabeth S***, kfm. Angestellte, Schlöglgasse 15/2, 1120 Wien, vertreten durch Dr. Helmut Meindl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U***, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien,

wegen Versehrtenrente infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. April 1988, GZ 31 Rs 40/88-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 18. November 1987, GZ 3 Cgs 1143/87-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 8. April 1987 wurde der Antrag der Klägerin auf Erhöhung der für die Folgen des Unfalls vom 1. März 1982 auf Grund des Bescheides vom 6. Juni 1984 bisher gewährten Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente abgewiesen und mit Bescheid vom selben Tag die Entziehung der der Klägerin bisher gewährten Dauerrente ab 1. Juni 1987 ausgesprochen. Mit ihrer gegen diese Bescheide gerichteten Klage begehrt die Klägerin, die beklagte Partei zur Gewährung einer Rentenleistung von 30 vH der Vollrente zu verpflichten. Ihr Zustand habe sich verschlechtert; die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 30 vH. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin ab, wobei es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehenden Sachverhalt zugrundelegte:

Die Klägerin hat bei dem Arbeitsunfall am 1. März 1982 ein Peitschenschlagsyndrom der Halswirbelsäule erlitten. Als Folge dieses Peitschenschlagsyndroms bestanden bei ihr Mißempfindungen im Bereich der 7. und 8. Halswurzel, die auch heute noch angegeben werden. Im Vergleich zum Zustand der Klägerin zur Zeit der Gewährung der nunmehr entzogenen Dauerrente sind folgende Änderungen eingetreten: Aus neurologischer Sicht sind motorische Ausfälle und eine Herabsetzung der Kraft im Bereich der Finger nicht mehr vorhanden. Aus chirurgischer Sicht ist wohl noch die Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule, nicht jedoch die Kraftverminderung vorhanden. Die Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule ist auf anlagebedingte Abnützungserscheinungen zurückzuführen. Medizinisch beträgt die aus den Unfallfolgen sich ergebende Minderung der Erwerbsfähigkeit unter 10 vH. Hiezu führte das Erstgericht aus, daß zufolge der eingetretenen Besserung die Minderung der Erwerbsfähigkeit unter den Grenzwert von 20 vH gesunken sei, sodaß die Voraussetzungen für die Gewährung der begehrten Leistung nicht mehr erfüllt seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge, wobei es seiner Entscheidung nachstehende ergänzende Feststellungen zugrundelegte:

Die Beschwerden eines Peitschenschlagtraumas halten üblicherweise maximal ein halbes Jahr an. Lediglich bei vorgeschädigter Halswirbelsäule kann eine unfallbedingte Symptomatik länger anhalten, was im gegenständlichen FAll weder durch die Vorgeschichte noch durch objektive Befunde nachweisbar ist, zumal eine unmittelbar nach dem Unfall durchgeführte Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule keinerlei Auffälligkeiten ergeben hat. Die im vorliegenden Fall durchgeführten physikalischen Behandlungen sowie das Tragen der Halskrawatte sind als ungewöhnlich anhaltend und lang anzusprechen, woraus bei fehlenden krankhaften Veränderungen der Halswirbelsäule eine persönlichkeitsbedingte konstitutionelle Fehlhaltung angenommen werden muß, die keine ursächlichen Beziehungen zu den durch den Unfall ausgelösten oder bedingten Veränderungen aufweist, sondern lediglich in der Persönlichkeitsstruktur der Klägerin zu suchen ist. Aus dem Unfall sind Spät- oder Dauerfolgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Die aus den Folgen des Unfalls bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit ist für die Dauer des Krankenstandes von etwa 4 Wochen mit 100 vH, danach für die Dauer von 6 Monaten mit 20 vH und in weiterer Dauer mit maximal 10 vH anzusprechen. Die 10 %ige Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist für die Dauer von 2 Jahren anzunehmen. Hiezu führte das Berufungsgericht aus, daß im Zustand der Klägerin eine wesentliche Besserung eingetreten sei und die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur mehr 10 vH betrage; die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung seien daher gegeben. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Ergebnis berechtigt.

Mit den Ausführungen zum Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit werden nicht Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichtes, sondern vielmehr die bereits im Berufungsverfahren bekämpfte Argumentation des Erstgerichtes zur Beweiswürdigung bekämpft. Die Beweiswürdigung ist jedoch im Revisionsverfahren nicht anfechtbar. Eine Aktenwidrigkeit im Sinne des Revisionsgrundes nach § 503 Abs 1 Z 3 ZPO wird nicht geltend gemacht.

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens werden nur Mängel geltend gemacht, die schon in der Berufung gerügt wurden, deren Vorliegen aber das Berufungsgericht nicht als gegeben erachtete, Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen schon vom Berufungsgericht verneint wurde, können aber auch in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden (JBl 1988, 86 = SSV NF-1/32 ua).

Der Rechtsrüge kommt jedoch im Ergebnis Berechtigung zu. Die vorliegenden Feststellungen sind widersprüchlich. Das Erstgericht stellte fest, daß sich seit dem Zeitpunkt der Gewährung der Dauerrente der Zustand der Klägerin wesentlich gebessert habe. Motorische Ausfälle und eine Herabsetzung der Kraft im Bereich der Finger seien nicht mehr vorhanden. Die bestehende Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule sei auf anlagebedingte Abnützungserscheinungen zurückzuführen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage nunmehr unter 10 vH. Das Berufungsgericht stellte fest, daß durch ein Peitschenschlagsyndrom ausgelöste Beschwerden maximal ein halbes Jahr anhalten. Lediglich bei vorgeschädigter Halswirbelsäule könne eine unfallbedingte Symptomatik länger anhalten, was jedoch im vorliegenden Fall nicht nachweisbar sei. Die als Folge des Unfalles bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit habe im Fall der Klägerin für die Dauer des Krankenstandes von etwa 4 Wochen 100 vH und danach für die Dauer von 6 Monaten 20 vH und im weiteren auf die Dauer von 2 Jahren maximal 10 vH betragen. Ausgehend von diesen Feststellungen des Berufungsgerichtes wäre für die vom Erstgericht festgestellte Besserung kaum Raum. Geht man von dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt aus, so wäre bereits im Zeitpunkt der Gewährung der Leistung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß (§ 203 ASVG) nicht mehr vorgelegen; der für die Gewährung der Dauerrente maßgebliche Zeitpunkt (Mai 1984) wäre bereits knapp vor Ende des Zeitraumes gelegen, mit dem nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes auch die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 10 vH wegfiel.

Gemäß § 183 ASVG hat der Träger der Unfallversicherung auf Antrag oder von Amts wegen die Rente bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, neu festzustellen. Entscheidend ist, ob sich der tatsächliche Zustand der Klägerin seit der die Grundlage der Gewährung bildenden Untersuchung wesentlich geändert hat; gemäß § 183 Abs 1 ASVG kann nur eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, nicht aber ein Abgehen von der Einschätzung bei sonst unveränderter Lage die Voraussetzungen für die Neufeststellung der Rente herstellen. Hat sich im Zustand der Klägerin, wofür die Feststellungen des Berufungsgerichtes zu sprechen scheinen, seit dem Zeitpunkt der Gewährung keine Änderung ergeben, so wären die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung nicht erfüllt.

Zu prüfen bleibt, welche Auswirkungen dem Umstand zukäme, daß im Zeitpunkt der Gewährung der Dauerrente eine unter 20 vH liegende Minderung der Erwerbsfähigkeit bestanden hätte, sich an diesem Zustand aber in der Folge eine Besserung ergeben hätte. Durch Art. III Z 4 SozRÄG 1988 (44. ASVG-Novelle BGBl 609/87), der mangels einer Sonderregelung für diese Bestimmung gemäß Art X Abs 1 am 1. Jänner 1988 in Kraft getreten ist, ist der hier maßgeblichen Norm des § 183 Abs 1 ASVG ein weiterer Satz angefügt worden. Demzufolge gilt als wesentlich eine Änderung der Verhältnisse nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als 3 Monate um mindestens 10 vH geändert wird, wenn ferner durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4). Sowohl der Wortlaut des Art III Z 4 SozRÄG 1988 BGBl 609/87 wie auch die Gesetzesmaterialien (324 BlgNR 17. GP 36) weisen deutlich darauf hin, daß der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung nicht neues Recht schuf, sondern eine authentische Interpretation des bisher im Gesetz nicht näher definierten Begriffes der wesentlichen Änderung nach den Grundsätzen der in den Gesetzesmaterialien erwähnten Judikatur vornahm. Diese authentische Interpretation ist zufolge der Bestimmung des § 8 ABGB auch auf die in der Rechtsmittelinstanz anhängigen Fälle anzuwenden (9 Ob S 41/87).

Ausgehend von den Bestimmungen des § 183 Abs 1 letzter Satz ASVG kommt, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit zuvor 20 vH betrug oder objektiv darunter lag, jeder Besserung des Zustandes, sofern sie von Auswirkung auf den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist, Relevanz zu. Auch wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten hiedurch um weniger als 10 vH gebessert wird, sind die Voraussetzungen für die Entziehung gegeben; das Gesetz sieht für diesen Fall eine Mindestgrenze für die Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht vor. Ob die Voraussetzungen für die Entziehung der Rente im vorliegenden Fall gegeben sind, steht derzeit nicht fest. Die Feststellungen bieten keine sichere Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob im Zustand der Klägerin seit dem Zeitpunkt der Gewährung eine Besserung eingetreten ist, durch die der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit - wenn auch nur geringfügig - herabgesetzt wurde. Im fortgesetzten Verfahren werden genaue Feststellungen über den Zustand im Zeitpunkt der Gewährung der Leistung und die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit sowie den derzeit bestehenden Zustand und die sich hieraus ergebende Minderung der Erwerbsfähigkeit zu treffen sein. Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

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