OGH 10ObS108/88

OGH10ObS108/8831.5.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Raimund Kabelka (AG) und Wilhelm Hackl (AN) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna W***, Hagerauweg Nr. 4, 5400 Hallein, vertreten durch Dr. Helmut Stadlmayr, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei P*** DER

A***, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 2. Feber 1988, GZ 13 Rs 1124/87-21, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 3. Juni 1987, GZ 40 Cgs 23/87-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der klagenden Partei ab 1. April 1986 eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es stellte fest, daß die am 2. Mai 1947 geborene Klägerin nach dem Besuch von 8 Klassen Volksschule, eine einjährige Haushaltsschule besuchte. Anschließend war sie als Hausgehilfin, Näherin, Hilfsarbeiterin und während der letzten 7 Jahre als Außendienstvertreterin tätig. Dabei vertrieb sie für die Firma V*** Staubsauger, die ein Gewicht zwischen 5 und 24 kg haben. Der Klägerin sind noch körperlich leichte bis fallweise mittelschwere Arbeiten, wobei letztere ein Drittel der Arbeitszeit nicht übersteigen dürfen, möglich. Die Arbeiten sollen geistig einfacher Natur sein. Sie können im Gehen, Stehen und Sitzen erfolgen, allerdings ist ein häufiger Haltungswechsel erforderlich. Wenn sich die Klägerin die Arbeitshaltung nicht selbst aussuchen kann, benötigt sie ca. alle 30 Minuten einen Haltungswechsel. Die Tätigkeit kann im Freien oder in geschlossenen Räumen verrichtet werden, nicht aber in Nässe und Kälte. Die Arbeitszeit kann täglich 8 Stunden betragen, nach einstündiger Arbeitszeit mit hohen Anforderungen an Tempo, Konzentration und Auffassungsvermögen wird eine Ruhepause von 20 Minuten benötigt. Das Heben und Tragen von Lasten ist nur bis 7,5 kg zumutbar und soll auch bei dieser Gewichtsbeschränkung nur gelegentlich notwendig sein. Zu vermeiden sind häufiges Bücken oder Arbeiten, bei denen länger als ca. 30 Minuten in vorgeneigter Stellung verharrt werden muß. Die Anmarschwege zur Arbeitsstätte sollten 3/4 Stunden nicht überschreiten.

Die Außendiensttätigkeit der Klägerin ist als geistig anspruchsvolle Tätigkeit mit hohen Anforderungen an Konzentration und Auffassungsvermögen und einer ununterbrochenen Dauer von Verkaufsgesprächen bis zu 2 Stunden der Klägerin nicht mehr zumutbar. Die Klägerin ist mit dem ihr verbliebenen medizinischen Leistungskalkül nicht mehr in der Lage, den Anforderungen der auf dem Arbeitsmarkt vorkommenden Tätigkeiten gerecht zu werden, weil geeignete Verweisungstätigkeiten nicht gegeben sind. Jene einer Stanzerin oder Adjustiererin könnte wegen des halbstündlich erforderlichen Wechsels der Körperhaltung nicht vorgenommen werden, der Beruf einer Telefonistin scheide wegen der erforderlichen Pausen nach einstündiger Tätigkeit aus, eine Museumsaufseherin müsse allenfalls beim Be- und Entladen von Exponaten mit Gewichten über 5 kg aushelfen. Mangels Verweisbarkeit sei die Klägerin berufsunfähig im Sinne des § 273 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klageabweisung ab. Der Mängelrüge der beklagten Partei in der Berufung folgend, das Erstgericht habe es unterlassen, die von der Klägerin in Ausübung ihres Berufes als Vertreterin erworbenen Kenntnisse und kaufmännischen Fähigkeiten festzustellen und überdies eine Ergänzung des berufskundlichen Sachverständigengutachtens abgelehnt, obwohl in diesem die Verweisbarkeit der Klägerin nur in Arbeiter- nicht auch in Angestelltenberufen geprüft worden sei, hat das Berufungsgericht eine Beweisergänzung durch Parteienvernehmung der Klägerin und ergänzende Befragung des berufskundlichen Sachverständigen vorgenommen, allerdings ohne daß aus dem Protokoll über die mündliche Berufungsverhandlung ein entsprechender Senatsbeschluß auf Beweisergänzung hervorgeht. Das Berufungsgericht traf die ergänzenden Feststellungen, daß die Klägerin bei Beginn ihrer Tätigkeit für die Firma V*** als Staubsaugerverkäuferin von einer Vertreterin im Verkauf und Vorführen der Geräte sowie im Wartungsdienst eingeschult wurde. Sie nahm dabei Warenbestellungen entgegen, lieferte die Ware aus und kassierte auch den Kaufpreis. Die Bestellformulare gab sie im Firmenbüro ab. Kenntnisse des Maschinschreibens, der Stenografie und von Fremdsprachen hat sie dabei nicht erworben. Die Klägerin führte auch keine eigene Kundenkartei. Bereits vor dieser Tätigkeit bei der Firma V*** war sie als Außendienstvertreterin für die Firma T*** tätig. Bürokenntnisse hat die Klägerin bei dieser Tätigkeit nicht erworben. Das Berufungsgericht schloß sich den ergänzenden Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen über eine mangelnde Verweisbarkeit der Klägerin auf andere Berufe nicht an. Das Sozialgericht sei auf Grund seiner durch die besondere Zusammensetzung vorhandenen Kenntnisse über die in den verschiedenen Berufen gestellten Anforderungen in der Lage, eine Beurteilung der Verweisungsmöglichkeiten insbesondere in jenen Berufen, die häufig Gegenstand von Sozialrechtsverfahren seien, auch ohne Heranziehung eines weiteren Sachverständigen zu lösen. Die Ausführungen im berufskundlichen Ergänzungsgutachten seien lebensfremd und unrichtig. Es sei aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, daß die Tätigkeiten einer Kanzleihilfskraft oder Hilfskraft in einer Posteinlauf- oder auslaufstelle geistig einfache Arbeiten seien, die dem Leistungskalkül der Klägerin durchaus noch entsprächen; eine neuerliche Begutachtung durch einen anderen berufskundlichen Sachverständigen sei bei dieser Sachlage entbehrlich. Da Berufsunfähigkeit schon dann nicht mehr vorliege, wenn die Verweisung eines Pensionswerbers auf einen einzigen Beruf möglich sei und die Klägerin die Tätigkeit einer Kanzleihilfskraft noch verrichten könne, müsse auf die ebenfalls noch in Frage kommenden Tätigkeiten einer Buffettkassiererin, Platzanweiserin, Bürobotin oder Garderobefrau nicht näher eingegangen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern, hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Ein Nichtigkeitsgrund liegt nicht vor. Die klagende Partei vermag auch nicht anzugeben, auf welchen der im § 477 ZPO genannten Nichtigkeitsgründe ihre Ausführungen gestützt sein sollen. Weil aus dem Protokoll über die mündliche Berufungsverhandlung ein formeller Senatsbeschluß auf Ergänzung der Beweise nicht hervorgeht, kann, da der Senat in richtiger Zusammensetzung der gesamten Berufungsverhandlung folgte und auch das Berufungsurteil fällte, von einem Nichtigkeitsgrund nach § 477 Abs 1 Z 2 oder 3 ZPO jedenfalls nicht gesprochen werden. Es liegen auch keine so schweren Verletzungen grundsätzlicher Verfahrensvorschriften vor, daß ihnen das Gewicht einer Nichtigkeit beigemessen werden könnte. Richtig ist, daß es vor Durchführung einer Beweisergänzung durch das Berufungsgericht in der mündlichen Berufungsverhandlung der Verkündung und Protokollierung des gefaßten Senatsbeschlusses bedurft hätte. Diese Unterlassung bildet zwar einen Verfahrensmangel, der jedoch gem. § 196(1) ZPO hätte gerügt werden müssen, und überdies für sich allein nur dann den Revisionsgrund des § 503 Abs 1 Z 2 ZPO bilden könnte, wenn er abstrakt geeignet gewesen wäre, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern (SZ 50/150 uva). Dies ist hier nicht der Fall. Das Erstgericht hat nach Durchführung eines Sachverständigenbeweises die Verweisbarkeit der Klägerin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in seinen Feststellungen generell verneint und sich dabei auf das berufskundliche Sachverständigengutachten gestützt, welches nur Verweisungsberufe für Arbeiter in Erwägung gezogen hat. Das Berufungsgericht ließ im Rahmen der gerügten Mangelhaftigkeit des Verfahrens dieses Gutachten auch hinsichtlich allfälliger Verweisungstätigkeiten in Angestelltenberufen ergänzen. Der Sachverständige blieb trotz Vorhalten durch das Berufungsgericht bei seiner Ansicht, Büro- und Kanzleihilfstätigkeiten kämen für die Klägerin nicht in Betracht, weil der nach den medizinischen Gutachten erforderliche Haltungswechsel nicht gewährleistet sei. Diesen Ausführungen schenkte das Berufungsgericht auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung und vor allem auf Grund seiner besonderen Fachkenntnisse als unrichtig und lebensfremd keinen Glauben, stellte die einzelnen Voraussetzungen für die Tätigkeit einer Kanzleihilfskraft und einer Hilfskraft in einer Posteinlauf- und auslaufstelle abweichend vom Sachverständigengutachten fest und kam zu dem Schluß, die Klägerin sei auf diese Arbeiten noch verweisbar.

Es ist den Tatsacheninstanzen nicht verwehrt, in freier Beweiswürdigung auch einem Sachverständigengutachten keinen Glauben zu schenken und von der Einholung eines weiteren Gutachtens Abstand zu nehmen, wenn die eigenen Fachkenntnisse - insbesondere im Senatsprozeß, der unter Beiziehung fachkundiger Laienrichter stattfindet - oder gar schon die allgemeine Lebenserfahrung zur Beurteilung ausreichen. Das Berufungsgericht hat durch eindringliche Vorhalte dem berufskundlichen Sachverständigen die Möglichkeit gegeben, seine unrichtige, allgemeiner Lebenserfahrung im Berufsleben widersprechende Ansicht zu revidieren oder diese schlüssig und nachvollziehbar zu begründen. Unter diesen Umständen kann auch nicht davon gesprochen werden, daß die Revisionswerberin von der Beweiswürdigung des Berufungsgerichtes überrascht worden wäre. Die Unterlassung der Beiziehung eines weiteren Sachverständigen stellt daher keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens dar.

Zu Recht hat das Berufungsgericht auch verneint, daß mit der Verweisung der Klägerin auf die Tätigkeit einer Bürohilfskraft ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden ist. Die Arbeit einer Bürokraft, mag diese auch keine besonders eigenverantwortliche Tätigkeit ausüben, wird auch in den Augen der Bevölkerung sozial keineswegs geringer geachtet, als jene eines einfachen Staubsaugervertreters, der mit Demonstrationsmustern im Außendienst reist.

Der Revision war daher keine Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Revisionskosten beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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