Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben; der angefochtene Beschluß des Rekursgerichtes wird aufgehoben; zugleich wird auch der Beschluß des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung
Am 17.11.1987 stellte der Magistrat der Stadt St. Pölten den Antrag, hinsichtlich der am 15.11.1987 geborenen Sabrina F*** gemäß § 26 Abs 2 JWG die unter einem verfügte sofortige Unterbringung dieses Kindes in einem von der Jugendhilfe auszuwählenden Heim oder an einem Pflegeplatz zu genehmigen und ein Ausfolgeverbot zu erlassen, das auch das Krankenhaus St. Pölten betreffen solle, wo sich das Kind derzeit noch aufhalte. Die Eltern Herbert und Evelyne F*** sprachen sich gegen diesen Antrag aus.
Sabrina wurde der Mutter noch im Krankenhaus abgenommen und am 28.11.1987 bei Pflegeeltern untergebracht. Sie leiblichen Eltern begehrten die Aufhebung dieser Maßnahme.
Mit Beschluß vom 19.2.1988 genehmigte das Erstgericht die Unterbringung von Sabrina bei den Pflegeeltern Herbert und Waltraud S*** und "die Setzung eines Ausfolgeverbotes in der Form, daß sie an niemand, außer mit ausdrücklicher Zustimmung des Gerichtes oder der Jugendhilfe, ausgefolgt werden darf".
Das Erstgericht führte aus, die Verhältnisse bei der Familie F*** in Stattersdorf, Alte Landstraße 8 - 10, seien schon seit Jahren "derart trist, daß sie eine gedeihliche Erziehung nicht zulassen und beim mj. Christian bereits die Anordnung der Fürsorgeerziehung notwendig gemacht" hätten. Dies sei vor allem auf das Verhalten des Vaters Herbert F*** zurückzuführen, der das Familienklima durch Alkoholexzesse und darauffolgende Mißhandlungen seiner Frau, ständige Querelen mit den Nachbarn und häufige Arbeitslosigkeit zum Nachteil der Kinder präge. Auch hinsichtlich der Mutter ergebe sich das Bild einer von ihrem Mann völlig abhängigen und dessen Willkürakten ausgelieferten Frau, die daher nicht in der Lage sei, die Kinder zu beschützen und zu umsorgen und ihnen eine ordentliche Erziehung zukommen zu lassen. Unter Bedachtnahme auf all diese Umstände sei es zum Schutz und Wohl der mj. Sabrina erforderlich, das Kind bei Pflegeeltern unterzubringen. Der Rekurs der Eltern blieb erfolglos. Dem Rekursvorbringen der Eltern, daß der für die Anordnung der Erziehungshilfe vorausgesetzte Erziehungsnotstand bei einem Neugeborenen schon begrifflich nicht vorliegen könne, weil ein Säugling nicht Erziehungsobjekt sein könne, dem Pflegschaftsakt könne auch nicht entnommen werden, daß die Mutter bei der Pflege und Betreuung des Säuglings versagt habe und sich nicht um den Säugling kümmern werde, hielt das Rekursgericht entgegen, daß die Erziehungshilfe das gefährdete, aber noch intakte Kind zum Gegenstand habe und - im Gegensatz zur Erziehungsaufsicht und Fürsorgeerziehung - keineswegs voraussetze, daß das Kind bereits geschädigt sei. Die Erziehungshilfe solle - im weiteren Gegensatz zur Erziehungsaufsicht und Fürsorgeerziehung -, lediglich helfen und stelle sich nicht als Tadel gegenüber dem Kind oder den Erziehungsberechtigten dar. Sie sei vielmehr als Unterstützung gedacht und solle auch als solche empfunden werden. Die Befürchtung der antragstellenden Bezirksverwaltungsbehörde und des Erstgerichtes, daß eine gedeihliche Entwicklung und Erziehung der kleinen Sabrina - wobei letzterer Begriff wohl in einem wesentlich weiteren Sinn zu verstehen sei, als ihm die Eltern beilegen möchten - im Elternhaus nicht möglich sein werde, stelle sich nach dem Akteninhalt als leider durchaus realistische Prognose dar. Daß sich bei den Eltern seit der Entscheidung des Rekursgerichtes vom 7.1.1988, ON 70, irgend etwas zum Besseren gewendet hätte, lasse sich weder dem Akteninhalt noch den Rekursausführungen entnehmen. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes und den glaubhaften, auf die Berichte der Fürsorgerin und der Schule des mj. Christian gestützten Situationsschilderung der Bezirksverwaltungsbehörde hätten sich die Verhältnisse bei der Familie F*** seit Ende Juli 1985 immer mehr verschlechtert. Streitereien und Handgreiflichkeiten der Eltern stünden an der Tagesordnung. Das Familienklima sei von Alkoholexzessen des Vaters Herbert F*** und Mißhandlungen insbesondere seiner Frau gekennzeichnet. Evelyne F*** sei von ihrem Mann völlig abhängig, dessen Willkür ausgeliefert und nicht in der Lage, die Kinder zu beschützen. Daß die Tätlichkeiten wenigstens vor den eigenen Kindern haltmachen würden, sei nicht zu erwarten, schildere doch ein Schulbericht vom 12.11.1987 über Christian sehr eindrucksvoll, daß er anscheinend nur auf Schläge reagiere, weil er sofort abwehrend die Hände vors Gesicht erhebe oder einige Schritte zurückgehe, wenn man auf ihn zugehe. Daß es unter solchen Umständen besser sei, schon den Säugling von fremden Personen aufziehen zu lassen, wenn auch unter normalen Bedingungen zweifelsohne der Pflege und Betreuung durch die leibliche Mutter bzw. die leiblichen Eltern der Vorzug zu geben sei, liege auf der Hand. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, bedürfe es nicht erst der Einholung eines kinderpsychologischen und medizinischen Sachverständigengutachtens. Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens könne das Rekursgericht weder darin erblicken, daß das Erstgericht die Beiziehung eines solchen Sachverständigen unterlassen habe, noch darin, daß die vorläufige Fürsorgeerziehung beim mj. Christian noch nicht in eine endgültige umgewandelt und der Entscheidung hinsichtlich Sabrina dieselben Aktenunterlagen wie bei der Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung bei Christian zugrundegelegt worden seien. Der Hinweis im Rekurs, die Eltern würden nun nicht mehr in Stattersdorf, sondern in der Eybnerstraße 16 in St. Pölten wohnen, so daß die Berichte über Probleme mit den Nachbarn hinfällig seien, vermöge die Position der Eltern nicht zu verbessern. Das Vorbringen zeige vielmehr, daß die Rekurswerber nun doch aus ihrer Wohnung delogiert wurden und derzeit in einem für solche Fälle vorgesehenen stadtbekannten Notquartier der Stadtgemeinde St. Pölten untergebracht seien. Eine Erklärung, warum sich unter diesen Umständen das Familienleben gedeihlicher als bisher gestalten sollte, bleibe auch der Rekurs schuldig. Das Rekursgericht habe ebensowenig wie das Erstgericht Bedenken gegen die triste Milieuschilderung der Bezirksverwaltungsbehörde. Die Rekursausführungen, die sich dagegen und gegen die dementsprechenden Feststellungen des Erstgerichtes wenden, vermögen nicht zu überzeugen. Vielmehr lägen auch nach Ansicht des Rekursgerichtes die Voraussetzungen für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe gemäß §§ 9, 26 JWG bei der mj. Sabrina vor.
Gegen den Beschluß des Rekursgerichtes wendet sich der ao. Revisionsrekurs (§ 16 AußStrG) der Eltern aus den Anfechtungsgründen der offenbaren Gesetzwidrigkeit und der Nullität mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Abweisung des Antrages des Magistrates der Stadt St. Pölten vom 17.11.1987 und Verweigerung der Genehmigung nach § 26 Abs 2 JWG; hilfsweise wird die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und die Rückverweisung an die zweite oder erste Instanz zur Verfahrensergänzung und zur neuerlichen Entscheidung beantragt; schließlich wird die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens nach Art.140 BVG beim Verfassungsgerichtshof hinsichtlich der Bestimmung des § 26 Abs 2 JWG angeregt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.
Da das Rekursgericht die Entscheidung des Erstgerichtes bestätigte, ist der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gemäß § 16 Abs 1 AußStrG nur im Falle einer unterlaufenen offenbaren Gesetzwidrigkeit, einer Aktenwidrigkeit oder aber Nichtigkeit zulässig (SZ 44/180 uva).
Unter dem Anfechtungsgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit führen die Eltern aus, es könnte schon begrifflich bei der mj. Sabrina F***, einem neugeborenen Säugling, unmittelbar nach der Geburt, aber auch jetzt nicht die gesetzlichen Voraussetzungen im Sinne der §§ 9, 26 JWG für die Anordnung einer gerichtlichen Erziehungshilfe vorliegen, weil dazu ein Erziehungsnotstand Voraussetzung sei, welcher bei einem neugeborenen Säugling nicht vorliegen könne; darüber hinaus könne unmittelbar nach der Geburt eine Vernachlässigung der Erziehungspflichten und Mißbrauch der Erziehungsgewalt betreffend dieser Person (noch dazu, wenn das Kind im Krankenhaus zur Welt komme) nicht vorliegen. Der angefochtene Beschluß des Rekursgerichtes sei daher mit einer offenbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 16 AußStrG, dies im Zusammenhang mit den §§ 9, 26 JWG (unter Beachtung des § 25 NÖ.JWG), behaftet. Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn ein Fall im Gesetz so klar gelöst ist, daß kein zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde, oder wenn die Entscheidung mit den Grundprinzipien des Rechts im Widerspruch steht (EFSlg. 47.208, 42.328, 42.327 ua). Gegen den Willen des Erziehungsberechtigten kann die gerichtliche Erziehungshilfe nur angeordnet werden, wenn sie deshalb geboten ist, weil der Erziehungsberechtigte die Erziehungsgewalt mißbraucht oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllt (§ 26 Abs 1 JWG). Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes Voraussetzung für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe. Ein solcher ist gegeben, wenn die Eltern für das Kind nicht sorgen oder die Fürsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes gefährdet wird (SZ 49/38; SZ 47/137; EvBl 1969/208 ua). Im grundsätzlich vorbeugenden Charakter der Erziehungshilfe liegt die Abgrenzung zur Erziehungsaufsicht und zur Fürsorgeerziehung, die wieder grundsätzlich repressiven Charakter tragen (SZ 49/38). Dem Gesetz ist aber mit aller Deutlichkeit zu entnehmen, daß die gerichtliche Erziehungshilfe nur angeordnet werden darf, wenn der Erziehungsberechtigte die mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten nicht erfüllt, das heißt auch konkret bereits nicht erfüllt hat, mag dies auch darauf beruhen, daß der Erziehungsberechtigte etwa nicht geeignet ist, dem Kind die erforderliche Betreuung und Erziehung zu gewähren. Es bedarf daher konkreter Feststellungen über die Handlungen und Unterlassungen des Erziehungsberechtigten und über die zum Wohle des betroffenen Kindes erforderlichen erzieherischen Maßnahmen, und nicht bloß allgemeiner Wertungen oder Schlußfolgerungen aus dem Verhalten der Erziehungsberechtigten gegenüber einem anderen Kind. Eine ungünstige Zukunftsprognose allein genügt nicht (1 Ob 646/87). Erziehungshilfe umfaßt alle Maßnahmen, die einer sachgemäßen und verantwortungsbewußten Erziehung dienen, wie Erziehungsberatung, Einweisung in einen Kindergarten, einen Hort, eine Tagesheimstätte, ein Jugendheim oder ein Erholungsheim und anderweitige Unterbringung (§ 25 Abs 1 NÖ.JWG 1978, LGBl. 9270-0 idgF). Bei Gewährung der Erziehungshilfe ist jeweils das gelindeste zur Bewahrung des Minderjährigen vor Verwahrlosung ausreichende Erziehungsmittel anzuwenden (§ 25 Abs 2 NÖ.JWG 1978). Welche Erziehungsmaßnahme zu ergreifen ist, hat das Gericht nach Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles unter Bedachtnahme auf das Wohl des Kindes zu entscheiden. Es ist aber der Minderjährige beim Erziehungsberechtigten zu belassen und nur durch Erziehungsberatung zu unterstützen, wenn diese Maßnahme zur Beseitigung eines aufgetretenen Erziehungsnotstandes ausreicht (EvBl 1974/139; EvBl 1969/208 ua). Die Erziehungsberatung kann dort angewendet werden, wo ein zutage getretener Erziehungsnotstand noch nicht besonders gravierend ist und der Minderjährige im Falle der Belassung beim Erziehungsberechtigten in körperlicher und psychischer Beziehung noch nicht gefährdet ist (SZ 49/38; EvBl 1974/139 ua). Werden diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, kann auf Grund der derzeitigen Sachverhaltsgrundlage noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die Eltern hinsichtlich der mj. Sabrina, die der Mutter nach der Geburt noch im Krankenhaus von der Jugendhilfe abgenommen und am 28.11.1987 bei Pflegeeltern untergebracht wurde, die mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten bereits konkret nicht erfüllt haben. Die Genehmigung der im Sinne des § 26 Abs 2 JWG vom Magistrat der Stadt St. Pölten hinsichtlich der mj. Sabrina getroffenen Maßnahmen durch die Vorinstanzen, ohne daß die zur Beurteilung der Frage, ob ein Erziehungsnotstand bezüglich dieses Kindes überhaupt bereits vorliegt, erforderlichen Feststellungen getroffen wurden, muß als offenbare Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 16 AußStrG gewertet werden. Die Gründe, die zur Anordnung der Fürsorgeerziehung hinsichtlich des mj. Christian F***, geboren 19.8.1981, geführt haben, können nicht ohne weiteres die Anwendung der Erziehungshilfe hinsichtlich der mj. Sabrina rechtfertigen. Daß die Erziehung bei einer dritten Person allenfalls besser wäre als die an sich ordnungsgemäße bei der Mutter, rechtfertigt noch keine Anordnung der Erziehungshilfe, weil den Eltern das Recht auf Erziehung ihres Kindes primär zusteht (§ 144 ABGB; vgl. EvBl 1975/229 ua). Eine Nichterfüllung der mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten wäre nur allenfalls anzunehmen, wenn die Mutter etwa zufolge ihrer Debilität (siehe AS 144, 145) unfähig wäre, den Anforderungen, die die Erziehung des Kindes stellt, zu entsprechen.
Im fortgesetzten Verfahren werden daher ergänzende Feststellungen zu treffen sein, um eine hinreichende Grundlage für die Entscheidung über den Antrag des Magistrates der Stadt St. Pölten vom 17.11.1987, ON 55, auf Genehmigung von Maßnahmen nach § 26 Abs 2 JWG hinsichtlich der mj. Sabrina F***, zu schaffen; hiebei wird die von den Eltern beantragte Einholung eines kinderpsychologischen und eines medizinischen Sachverständigengutachtens nicht zu umgehen sein. Zu beachten wird im fortgesetzten Verfahren auch die im ao. Revisionsrekurs angeführte Anschriftenänderung der Eltern ab 2.5.1988 (AS 339) und es wird eine Überprüfung der nunmehrigen Wohnverhältnisse vorzunehmen sein.
Aus den dargelegten Erwägungen mußten daher die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen werden, ohne daß es des Eingehens auf den ebenfalls geltend gemachten Anfechtungsgrund der Nullität bedurft hätte. Zu einer Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung des § 26 Abs 2 JWG auf seine Verfassungsmäßigkeit sieht sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlaßt (EvBl 1966/101, 2 Ob 502/78).
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