OGH 2Ob616/87

OGH2Ob616/878.9.1987

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Kropfitsch, Dr. Huber und Dr. Egermann als Richter in der Sachwalterschaftssache der Wilhelmine H***, geboren am 1. Juni 1903, Pensionistin, 6380 St. Johann i.T., Wieshoferstraße 6, infolge Revisionsrekurses der Betroffenen, vertreten durch Dr. Wieser, Dr. Hohenauer, Dr. Zanon, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgerichtes vom 24. April 1987, GZ. 3 b R 62/87-33, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Kitzbühel vom 11. März 1987, GZ. SW 5/86-27, in der Hauptsache bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Wilhelmine H*** ist die Witwe des im Jahre 1976 verstorbenen Josef H***. Dieser Ehe entstammen Elfriede H***,

verehelichte R***, und Josef H***. Mit der letztwilligen Verfügung vom 25. August 1963 setzte Josef H*** sen. seinen Sohn zu seinem Alleinerben ein und verfügte für den Fall, daß dieser vor seiner Mutter versterben sollte, daß das Haus St. Johann, Wieshoferstraße Nr. 6, auf Wilhelmine H*** überzugehen habe. Auf diese fideikommissarische Substitution verzichtete Wilhelmine H*** mit Erklärung vom 3. Oktober 1985; die Gültigkeit der Verzichtserklärung ist strittig. Josef H*** jun. verstarb am 5. Oktober 1985. Mit der Eingabe vom 7. April 1986 regte Elfriede R*** die Bestellung eines Sachwalters an. Beigeschlossen war ein Privatgutachten des Sachverständigen Univ.Prof. Dr. Heinz P*** vom 5. Jänner 1986, in dem der Sachverständige aufgrund einer persönlichen Untersuchung vom 16. November 1985 zu dem Schluß kam, daß die geistige Beweglichkeit, die Geistesgegenwart und das Reaktionsvermögen der Wilhelmine H*** beträchtlich eingeengt und ihre Ausdrucksweise umständlich und schwerfällig seien. Bei der Unterschriftsleistung am 3. Oktober 1985 habe sie die Situation nicht überblickt, zumal sie sich in einer durch erhebliche Altersbeeinflußbarkeit gekennzeichneten Verfassung befunden habe. Am 9. April 1986 unterfertigte Wilhelmine H*** eine Eingabe an das Erstgericht, in der sie die Bestellung ihrer Tochter Elfriede R*** zum Sachwalter beantragte. Nach Befundaufnahme am 11. Juni 1986 erstattete der vom Gericht bestellte Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie Dr. Istvan B*** ein psychiatrisches Gutachten, in dem er Wilhelmine H*** ebenfalls eine geschwächte geistige Verfassung attestierte. Über die abgegebene Erbverzichtserklärung habe sie keine Vorstellungen und könne sich auch sonst an Rechtsgeschäfte aus der jüngeren Vergangenheit nicht mehr erinnern. In Übereinstimmung mit Prof. P*** kommt Dr. B*** zu dem Schluß, daß Wilhelmine H*** infolge eines altersbedingten Gedächtnisschwundes außerstande sei, Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens selbst zu besorgen. Sie könne komplexere Angelegenheiten in ihrer Tragweite nicht erfassen; die Tätigkeit eines zu bestellenden Sachwalters solle sich daher auf alle Rechtsgeschäfte sowie die Vertretung vor Ämtern und Behörden erstrecken.

Am 15. Juli 1986 legte die Witwe nach Josef H*** jun., Hedwig H***, ein Privatgutachten des Leiters der internen Abteilung des Krankenhauses Kitzbühel Dr. Peter L*** vor, in dem auf eine persönliche Untersuchung der Wilhelmine H*** am 28. Juni 1986 Bezug genommen wird. Außerdem berücksichtigt Prim. L*** seine Kenntnisse aus der langjährigen internistischen Betreuung der Betroffenen seit dem Jahr 1972. Prim. L***, der selbst einräumt, über keine fachpsychiatrischen Spezialkenntnisse zu verfügen, bestätigte Wilhelmine H*** ebenfalls ein geschwächtes Namensgedächtnis und Erinnerungslücken bei Sachverhalten, die die Betroffene nicht interessieren. Er berichtete auch über die zurückgezogene Lebensweise seiner Patientin und den Umstand, daß diese "unter den sich anbahnenden Familienstreitigkeiten, die nach dem Tode ihres Sohnes einen Höhepunkt erreichten, ungemein" gelitten habe. Es sei einsichtig, daß eine 84-jährige Pensionistin ohne Erfahrung im Geschäftsleben sicher nicht in der Lage sein werde, komplizierte juristische Probleme zu durchschauen. Dennoch kommt der Privatgutachter zu der zusammenfassenden Schlußfolgerung, daß die altersgemäßen Veränderungen der Hirnleistung Wilhelmine H*** nicht außerstande setzen, Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens selbst zu besorgen und in dem speziellen (strittigen) Fall den Verzicht auf ein Erbrecht in seiner Tragweite zu erfassen. Am 29. Juli 1986 legte Hedwig H*** die Ablichtung einer Korrespondenzkarte der Margarethe W***, einer engen Freundin der Betroffenen, vom 18. Dezember 1985 vor. Daraus läßt sich entnehmen, daß zwischen den beiden Frauen über den Erbverzicht, der letztlich der Witwe nach Josef H*** jun. zugute kommt, korrespondiert wurde. Gleichzeitig wurde angeregt, Margarethe W*** hiezu einzuvernehmen.

Am 14. November 1986 wurde Wilhelmine H*** in Anwesenheit des mit Beschluß vom 17. Juli 1986 bestellten einstweiligen Sachwalters Notariatskandidat Dr. Wilhelm G*** und des von ihr am 14. November 1986 bevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. Martin Z*** sowie der Hedwig H*** vernommen. Sie erklärte dabei, mit Ausnahme der häuslichen Angelegenheiten nichts mehr alleine machen zu können. Sie befürchte, bei Behörden nicht mehr richtig zu handeln und dafür eine Begleitperson zu benötigen. Sie sei der Meinung, daß sie einen Sachwalter brauche, und, nach entsprechender Aufklärung, daß sie auch mit der Bestellung eines Sachwalters für Rechtsgeschäfte, die nicht die ordentliche Wirtschaftsführung betreffen, einverstanden sei.

Am 11. März 1987 wurde der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. B*** vor Gericht - wiederum in Anwesenheit der Betroffenen, des Rechtsanwalts Dr. Z*** und des Dr. G*** - zu seinem Gutachten vom 11. Juni 1986 ausführlich befragt. Im Rahmen der eingehenden Erörterung erklärte Dr. B***, daß bei Wilhelmine H*** eine Geistesschwäche vorliege und sie nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sei; hingegen könne von einer Geisteskrankheit nicht gesprochen werden. Wilhelmine H*** vergesse konkrete Zusammenhänge, insbesondere auch in bezug auf den seinerzeit notariell erklärten Erbverzicht. Sie habe dem Sachverständigen auch in keiner Weise erklären können, worum es damals überhaupt gegangen sei und worauf sie verzichtet habe. Bei Wilhelmine H*** seien die Auffassungs-, die Abstraktions- und die Kombinationsfähigkeit geschwächt, dieser Verlust äußere sich vor allem in neueren Wissensbereichen, die außerhalb ihres gewohnten Umfeldes liegen. Der Betroffenen fehle es auch weitgehend an Kritikfähigkeit, vor allem dann, wenn komplexere Sachverhalte zu durchschauen seien.

Dr. B*** hielt sein Gutachten auch nach der Konfrontation mit dem Privatgutachten Dr. L*** vollinhaltlich aufrecht, obwohl er gewisse Differenzen in der Befundaufnahme erblickte. Diese Unterschiede führte der Sachverständige darauf zurück, daß sich Wilhelmine H*** zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prim. L*** in einem sogenannten "lucidum intervallum" befunden habe.

Wilhelmine H*** erklärte bei ihrer abschließenden Befragung, daß man ihr anläßlich der Unterfertigung des Erbverzichts sinngemäß erklärt habe, daß sie andernfalls "das Geschäft weiterführen" müsse, wozu sie nicht imstande sei.

Das Erstgericht bestellte den Notariatskandidaten Dr. Wilhelm G*** zum Sachwalter für "sämtliche Angelegenheiten, die außerhalb der ordentlichen Wirtschaftsverwaltung liegen" (§ 273 Abs 3 Z 2 ABGB). Gemäß § 273 a ABGB wurde bestimmt, daß Wilhelmine H*** innerhalb des Wirkungskreises des Sachwalters Angelegenheiten des täglichen Lebens (Einkauf von Lebensmitteln, Bekleidung, Bezahlung von Strom, Telefon, Rechnungen etc.) selbst frei erledigen könne. Die Verfahrenskosten wurden Wilhelmine H*** gemäß § 252 Abs 2 AußStrG zur Gänze auferlegt.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Betroffenen nur im Kostenpunkt Folge; im übrigen bestätigte es die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache zur Gänze. Das erstgerichtliche Verfahren sei mangelfrei gewesen, alle vorgesehenen Verfahrensvorschriften seien eingehalten worden. Dem im Verfahren bestellten Sachverständigen Dr. B*** sei der Vorzug vor dem Privatgutachter Dr. L*** zu geben. Dieser räume selbst ein, über keine fachpsychologischen Kenntnisse zu verfügen. Ein weiterer Sachverständiger sei nicht erforderlich gewesen, zumal sich das Gutachten Dr. B*** mit dem weiteren Privatgutachten von Prof. P*** vollkommen decke. Der Kreis der durch den Sachwalter zu besorgenden Angelegenheiten sei deutlich umschrieben worden und nehme auf die von der Betroffenen selbst angegebenen Bedürfnisse Bedacht. Weitere Zeugen seien nicht einzuvernehmen gewesen, weil davon keine für das Sachwalterverfahren maßgeblichen Aufschlüsse zu erwarten waren. Nach den Verfahrensergebnissen liege bei Wilhelmine H*** zwar keine Geisteskrankheit, aber immerhin eine altersbedingte Geistesschwäche vor, sodaß ihre Auffassungsgabe, die Abstraktions-, Kombinations- und Kritikfähigkeit eingeschränkt seien. Wilhelmine H*** verfüge nicht nur über eine monatliche Pension von S 5.000, sondern nach dem Grundbuchsstand auch über ein Wohnungsrecht sowie über eine Leibrentenforderung von monatlich S 3.000, deren Schicksal allerdings vom Ausgang des Verlassenschaftsverfahrens nach Josef H*** jun. abhängen werde. Gerade in diesem Verlassenschaftsverfahren müßten aber die Interessen der Betroffenen qualifiziert vertreten werden. Insbesondere werde der umstrittene Verzicht auf das Nacherbrecht eingehend zu prüfen sein. Schließlich würden im Falle der Wirksamkeit der Verzichtserklärung der Pflichtteilsanspruch nach Josef H*** jun. sowie das auf der Liegenschaft EZ 18, Grundbuch St. Johann, einverleibte Wohnungsrecht und die monatliche Rente von S 3.000 zu beachten und gegebenenfalls durchzusetzen sein. Es bestehe kein Zweifel daran, daß Wilhelmine H*** mit der Wahrnehmung der dargestellten Interessen vollkommen überfordert wäre. Angesichts der nach dem Tod des Josef H*** jun. im Familienverband ausgebrochenen Streitigkeiten bestehe keine Gewähr dafür, daß Wilhelmine H*** im Rahmen ihrer Familie ausreichend geholfen werden kann.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Betroffenen gemäß § 16 AußStrG. Sie macht die Anfechtungsgründe der Aktenwidrigkeit und der offenbaren Gesetzwidrigkeit geltend und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie die Einstellung des Sachwalterverfahrens; in eventu möge die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Rekursgericht zurückverwiesen werden. Als aktenwidrig sei die Qualifizierung des Privatgutachtens Dr. L*** durch das Rekursgericht zu bezeichnen. Offenbar gesetzwidrig sei die Ansicht, daß der Betroffenen aufgrund ihrer geistigen Behinderung ein Sachwalter "oktroyiert" werden müsse. Die Einvernahme ihrer Freundin Margarethe W*** sei zu Unrecht unterlassen und die Sachwalterschaft in einem größeren Umfang eingeleitet worden, als unbedingt erforderlich gewesen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Diese Ausführungen sind nicht stichhältig. Auszugehen ist davon, daß im Verfahren zur Bestellung von Sachwaltern für behinderte Personen § 16 AußStrG gilt (7 Ob 621/84; 6 Ob 581, 582/85; 6 Ob 648/85; 8 Ob 645/85; 8 Ob 502/87 ua.). Gemäß § 16 Abs 1 AußStrG findet gegen den bestätigenden Beschluß des Rekursgerichtes nur im Falle einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit der Entscheidung oder wegen Nichtigkeit die Beschwerde an den Obersten Gerichtshof statt.

Gegenstand der Aktenwidrigkeit können nur Tatsachenfeststellungen, aber nicht vom Rekursgericht vorgenommene Wertungen oder rechtliche Schlußfolgerungen sein, die es auf der Grundlage von Sachverständigengutachten zog (6 Ob 775/82; 5 Ob 794/81; 8 Ob 274/82; 2 Ob 85/83 uva.). Wenn sich das Gericht zweiter Instanz dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. B*** anschloß, kann in dieser Beurteilung der im Verfahren strittigen Materie eine Aktenwidrigkeit nicht erblickt werden. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit liegt nur vor, wenn ein Fall im Gesetz ausdrücklich und so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde (SZ 39/103; 6 Ob 581, 582/85; 8 Ob 645/85; 8 Ob 502/87 uva.). Es kann keine offenbare Gesetzwidrigkeit darin liegen, daß die Vorinstanzen einen Sachwalter bestellt haben, obwohl die Rechtsmittelwerberin meint, einen solchen nicht zu brauchen (vgl. 6 Ob 682/85 ua.); denn die Frage, ob genügend Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters vorliegen, ist im Gesetz nicht geregelt. Die oben wiedergegebenen gegenteiligen Ausführungen der Rechtsmittelwerberin können dem Anfechtungsgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit nicht unterstellt werden. Dies trifft auch für die mit den Erhebungsergebnissen nicht übereinstimmende Ansicht der Betroffenen zu, daß sie in einem größeren Umfang "unter Sachwalterschaft gestellt worden sei", als erforderlich gewesen wäre. Das Rekursgericht hat demgegenüber deutlich klargestellt, daß die Betroffene über verschiedentliche Vermögenswerte verfügt, deren rechtliches Schicksal für sie von einschneidender Bedeutung ist. Auch der Vorwurf, daß die Vorinstanzen nicht sorgfältig genug alle Umstände des Falles bedacht und die Freundin der Rekurswerberin, Margarethe W***, nicht einvernommen hätten, vermag weder dem geltend gemachten Anfechtungsgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit noch einem anderen der nach § 16 AußStrG allein zulässigen Anfechtungsgründe unterstellt zu werden. Der Revisionsrekurs war daher mangels eines gesetzlichen Anfechtungsgrundes zurückzuweisen.

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