OGH 7Ob28/87

OGH7Ob28/874.6.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurz, Dr. Warta, Dr. Egermann und Dr. Niederreiter als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Franz W***, Holzarbeiter, Murau, Hugo-Wolf-Gasse 15, vertreten durch Dr. Herbert Hüttner, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei M*** Wechselseitige Versicherungsanstalt, Graz, Neutorgasse 57, vertreten durch Dr. Ilse Grossauer, Rechtsanwalt in Graz, wegen S 29.500,-- s. A., infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Berufungsgerichtes vom 18. Jänner 1987, GZ R 926/86-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Murau vom 30. Juli 1986, GZ 2 C 6/86-11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 2.829,75 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin S 257,25 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat mit Versicherungsbeginn vom 1. März 1980 bei der Beklagten am 26. Februar 1980 eine Krankenversicherung mit einem Krankenhaustaggeld in der Höhe von S 500,-- abgeschlossen. Der Versicherung lagen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankenhaustagegeldtarife (AVB) in der damaligen Geltung zugrunde.

§ 9 dieser Versicherungsbedingungen lautete:

"Rücktritt, Anfechtung und fristlose Kündigung.

1. Hat der Versicherungsnehmer oder eine versicherte Person bei dem Abschluß, bei Abänderung oder bei Wiederinkraftsetzung der Versicherung die Anzeigepflicht über erhebliche Gefahrenumstände schuldhaft verletzt, so kann die Versicherungsanstalt vom Vertrag zurücktreten. Die Anzeigepflicht wird auch verletzt, wenn Fragen über Gefahrumstände unvollständig beantwortet werden. Jeder Gefahrumstand, nach dem die Versicherungsanstalt ausdrücklich in schriftlicher Form gefragt hat, gilt im Zweifel als erheblich.

2. Der Rücktritt vom Vertrag ist innerhalb eines Monats von dem Tag an zulässig, an dem die Versicherungsanstalt von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erlangt hat.

3. Das Rücktrittsrecht entfällt nach fünfjähriger Versicherungsdauer oder nach Ablauf von fünf Jahren seit Abänderung oder Wiederinkraftsetzung der Versicherung es sei denn, daß sich die Verletzung der Anzeigepflicht auf folgende Krankheiten bezieht:

...... . Das Recht der Versicherungsanstalt den Vertrag wegen ......

anzufechten, wird hiedurch nicht berührt ......" Die an die Stelle

der erwähnten AVB tretenden späteren Allgemeinen

Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten und

Krankenhaustaggeldversicherung enthält keinen dem § 9 Abs. 3 der

oben wiedergegebenen Versicherungsbedingungen entsprechenden

Ausschluß des Rücktrittsrechtes. Den neuen Versicherungsbedingungen

ist eine geschäftsplanmäßige Erklärung folgenden Inhalts angefügt:

"Die vorliegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten und Krankenhaustaggeldversicherung (AVB) gelten auch für Verträge, die vor dem 1. Jänner 1985 abgeschlossen worden sind.

Soweit sich daraus für den Versicherungsnehmer (Versicherten) in einem Einzelfall eine Einschränkung seiner Ansprüche ergeben sollte, wird sich die Versicherungsanstalt darauf nicht berufen." Die im Versicherungsantrag aufscheinende Frage, ob andere Krankenversicherungen bestehen, verneinte der Kläger, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits eine derartige Versicherung bei der B*** V*** abgeschlossen hatte. Hätte die Beklagte Kenntnis von einer weiteren Versicherung gehabt, hätte sie den Antrag auf Abschluß einer Versicherung abgelehnt.

Am 16. Dezember 1985 hat die Beklagte Kenntnis von dem Bestehen weiterer Versicherungen erlangt. Mit Schreiben vom 9. Jänner 1986 erklärte sie gegenüber dem Kläger den Rücktritt vom Versicherungsvertrag.

Für Krankenhausaufenthalte ab 16. Juli 1985 begehrt der Kläger ein der Höhe nach außer Streit stehendes Taggeld von S 29.500,--. Das Erstgericht hat das Klagebegehren mit der Begründung abgewiesen, die unrichtige Beantwortung der Frage nach dem Bestand von Vorversicherungen begründe grundsätzlich die Leistungsfreiheit des Versicherers. Im vorliegenden Fall habe der Versicherer rechtzeitig seinen Rücktritt vom Vertrag erklärt, weshalb er sich auf die Leistungsfreiheit berufen könne.

Das Berufungsgericht hat dem Klagebegehren stattgegeben und die Revision für zulässig erklärt. Es trat zwar der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bezüglich des Vorliegens einer Obliegenheitsverletzung bei, führte jedoch aus, es komme nicht darauf an, ob im konkreten Fall eine Rücktrittserklärung innerhalb einer Monatsfrist ab Kenntnis des Versicherers von der Vorversicherung abgegeben worden sei, weil die Beklagte nach den der Versicherung zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen nach dem Ablauf von fünf Jahren auf einen Rücktritt vom Vertrag mit Ausnahme von Krankheiten, die hier nicht vorlagen, verzichtet habe. Dies führe aber dazu, daß nach diesem Zeitraum Leistungsfreiheit nicht mehr eintreten könne.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Beklagten gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision ist nicht gerechtfertigt. Es ist unrichtig, daß der Kläger jenen Rechtsgrund, den das Berufungsgericht für seine Entscheidung heranzog, nicht geltend gemacht hat. In der Tagsatzung vom 7. März 1986 hat er nämlich vorgebracht, der Rücktritt der Beklagten sei sowohl "gemäß § 9 Z 1 (gemeint jedenfalls Abs. 1) wie auch Z (Abs.) 3 VVG" verfristet. Hiebei kann es sich jedoch nur um einen Schreibfehler handeln, weil diese Einwendung eindeutig und unmißverständlich auf die Versicherungsbedingungen Bezug nimmt. Die Versicherungsbedingungen wurden von der Beklagten unter Beilage 1 zum Akt gelegt. Hiebei handelte es sich um die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrages geltenden Versicherungsbedingungen. § 9 Abs. 3 dieser Bedingungen enthält den Verzicht der Beklagten auf den Rücktritt vom Vertrag nach Ablauf einer Vertragsdauer von fünf Jahren. Die Echtheit und Richtigkeit dieser von der Beklagten vorgelegten Versicherungsbedingungen wurde außer Streit gestellt (S 18 dA). Damit war aber vom Inhalt dieser Versicherungsbedingungen auszugehen, wobei es keiner ausdrücklichen Feststellung des Inhalts bedurfte. Wenn daher das Berufungsgericht den Inhalt dieser Versicherungsbedingungen wiedergegeben hat, so stellt dies keinen Verfahrensverstoß dar.

Eine Einwendung dahin, daß der Inhalt des zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrages später einvernehmlich im Sinne der neuen Versicherungsbedingungen geändert worden wäre, wurde von der Beklagten nicht erhoben. Eine derartige Einwendung war schon deshalb nicht entbehrlich, weil sich der Kläger, wie bereits oben dargelegt, zur Begründung seines Anspruches ausdrücklich auf die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Versicherungsbedingungen und insbesondere auf jenen Punkt berufen hat, der in den neuen Versicherungsbedingungen nicht mehr aufscheint. Mit Recht hat sich daher das Berufungsgericht bei der Darstellung des Sachverhaltes auf jene Punkte beschränkt, die nach dem beiderseitigen Vorbringen entscheidungswesentlich waren.

Nicht strittig ist, daß die Verpflichtung des Versicherungsnehmers zur wahrheitsgemäßen Angabe von Vorversicherungen der im § 16 VersVG genannten vorvertraglichen Anzeigepflicht entspricht. Bei dieser Verpflichtung handelt es sich um eine Obliegenheit (Prölss-Martin VVG23, 152). Nach § 6 Abs. 1 VersVG führt die Verletzung einer Obliegenheit, die vor dem Eintritt des Versicherungsfalles dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist, zur Leistungsfreiheit, wenn der Versicherungsnehmer seine Schuldlosigkeit nicht beweist. In diesem Fall kann der Versicherer den Vertrag innerhalb eines Monates, nachdem er von der Verletzung Kenntnis erlangt hat, ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Kündigt der Versicherer innerhalb eines Monats nicht, so kann er sich auf die vereinbarte Leistungsfreiheit nicht berufen. Eine ähnliche Regelung enthält § 20 VersVG bezüglich des in § 16 Abs. 2 VersVG festgehaltenen Rücktrittsrechtes. Die in § 6 Abs. 1 VersVG festgesetzte Kündigungspflicht ist nach österreichischer Rechtsprechung jedoch ohne Bedeutung, wenn der Versicherer von der Obliegenheitsverletzung erst nach dem Versicherungsfall erfahren hat oder bei vorheriger Kenntnis die Monatsfrist noch nicht abgelaufen war. Der Zweck der Kündigungsvorschrift wird nämlich darin erblickt, daß der Versicherer ihm bekannte Obliegenheitsverletzungen nicht "aufs Eis legen" und trotzdem Versicherungsprämien kassieren darf. Dieser Zweck ist bei erst nachträglicher Kenntnis der Obliegenheitsverletzung für den betreffenden Versicherungsfall nicht gefährdet (Petrasch ZVR 1985, 68, Prölss-Martin VVG23, 93, SZ 47/16, SZ 40/46 u.a.). Im allgemeinen hat also die Frage der nachträglichen Kündigung für die Beurteilung der durch die Obliegenheitsverletzung eingetretenen Leistungsfreiheit keine Bedeutung. Das Gleiche muß auch für das Rücktrittsrecht des § 16 Abs. 2 VersVG gelten, weil auch für dieses vom selben Zweck auszugehen ist. Das Unterlassen einer Kündigung oder einer Rücktrittserklärung hat also im Regelfall nicht zur Folge, daß die durch die Obliegenheitsverletzung eingetretene Leistungsfreiheit nachträglich behoben wäre, sondern nur, daß der Versicherer für weitere Versicherungsfälle, die erst nach Ablauf eines Monats ab seiner Kenntnis von der Obliegenheitsverletzung eintreten, leistungspflichtig bleibt. Diese Gesetzeslage würde also ohne Berücksichtigung der vorliegenden Versicherungsbedingungen zur Leistungsfreiheit der Beklagten unabhängig davon führen, zu welchem Zeitpunkt die spätere Rücktrittserklärung abgegeben worden ist.

Im vorliegenden Fall entfällt jedoch nach den für den Versicherungsvertrag geltenden Versicherungsbedingungen nach fünfjähriger Versicherungsdauer oder nach Ablauf von fünf Jahren seit Abänderung oder Wiederinkraftsetzung der Versicherung das Rücktrittsrecht (die Beibehaltung des Rücktrittsrechtes für einzelne Krankheiten kann hier unberücksichtigt bleiben, weil feststeht, daß der Kläger nicht an einer dieser Krankheiten gelitten hat). Dies hat zur Folge, daß nach Ablauf von fünf Jahren die Beklagte vom Vertrag auch dann nicht mehr zurücktreten hätte können, wenn sie von der Obliegenheit der Verletzung Kenntnis erhalten hätte. Demnach wäre ihre Leistungspflicht für sämtliche späteren Versicherungsfälle trotz der Obliegenheitsverletzung aufrecht geblieben, was sie mangels eines Rücktrittsrechtes nicht abwehren hätte können. Nach einer Vertragsdauer von fünf Jahren konnte also eine Aufklärung der Beklagten über seinerzeit bestandene Vorversicherungen nur mehr ein Formalakt sein, dessen Unterlassung mit keinerlei rechtlichen Konsequenzen verbunden war. Die Verletzung einer bloßen Formalverpflichtung, die ohne rechtliche Konsequenz ist, kann aber eine Leistungsfreiheit des Versicherers nicht begründen. Dies ergibt sich schon aus § 21 VersVG, dem zufolge selbst bei zulässigem Rücktritt nach Eintritt des Versicherungsfalles die Leistungspflicht des Versicherers bestehen bleibt, wenn der Umstand, in Ansehung dessen die Anzeigepflicht verletzt ist, keinen Einfluß auf den Eintritt des Versicherungsfalles und auf den Umfang der Leistung des Versicherers gehabt hat. Würde man den gegenteiligen Standpunkt vertreten, käme man zu dem Ergebnis, daß der Eintritt der Leistungsfreiheit für einen einzelnen Versicherungsfall lediglich eine bloße Strafmaßnahme wäre. Der Eintritt der Leistungsfreiheit und die Einräumung eines Kündigungs- oder Rücktrittsrechtes verfolgen den Zweck, den Versicherer vor den Folgen einer mangelnden Aufklärung zu schützen. Es soll in seine Macht gelegt sein, ob er mit einem Versicherungsnehmer, der ihn mangelhaft aufklärt, weiterhin vertragliche Beziehungen aufrechterhalten will oder nicht. Für die Zukunft kann er eine negative Entscheidung durch Ausübung des Kündigungs- oder Rücktrittsrechtes treffen. Für den Versicherungsfall selbst ist eine solche, nur auf die Zukunft wirkende Maßnahme wirkungslos, weshalb hier Leistungsfreiheit auch ohne Kündigung oder Rücktrittserklärung eintreten soll. Wird jedoch eine Vereinbarung im Sinne des § 9 Abs. 3 der AVB getroffen, so gibt der Versicherer damit zu erkennen, daß er nach einer Vertragsdauer von fünf Jahren, aus welchen Gründen auch immer, die bereits lang zurückliegenden Obliegenheitsverletzungen nicht mehr zum Anlaß einer für den Versicherungsnehmer negativen Vertragsgestaltung nehmen will. Dies kann nur dahin verstanden werden, daß jegliche Sanktion für die Obliegenheitsverletzung nach Ablauf des erwähnten Zeitraumes zu entfallen hat, demnach auch der Eintritt der Leistungsfreiheit für einen Versicherungsfall, der nach Ablauf dieses Zeitraumes eingetreten ist. Begibt sich nämlich der Versicherer bei längerer Vertragsdauer der Möglichkeit der schwerwiegenden Maßnahme der gänzlichen Unterbrechung weiterer vertraglicher Beziehungen, so muß daraus geschlossen werden, daß er auch die Maßnahme der Leistungsfreiheit für einen einzelnen Versicherungsfall für sich nicht mehr in Anspruch nehmen will. Durch eine solche Bestimmung muß beim Versicherungsnehmer der Eindruck erweckt werden, daß er nach Ablauf der genannten Vertragsdauer zu einer Aufklärung bezüglich länger zurückliegender Umstände nicht mehr verpflichtet ist, weil eine solche Aufklärung keinen negativen Einfluß auf den weiteren Versicherungsverlauf haben kann. Wenn er daher nach diesem Zeitraum bei Abschluß des Versicherungsvertrages begangene Obliegenheitsverletzungen nicht mehr zur Kenntnis des Versicherers bringt, so muß dies auch dann für ihn folgenlos bleiben, wenn er Leistungen aus einem späteren Versicherungsfall begehrt. Der Oberste Gerichtshof billigt daher die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß durch die Bestimmung des § 9 Abs. 3 der AVB die ansonsten eingetretene Leistungsfreiheit ausgeschlossen wurde. Auf die späteren Versicherungsbedingungen war deshalb nicht Bedacht zu nehmen, weil allgemeine Versicherungsbedingungen für laufende Verträge ohne besondere gesetzliche Regelung nur mit Zustimmung der Versicherungsnehmer geändert werden können. Die Annahme einer vorweg erklärten Zustimmung setzt voraus, daß der Versicherungsnehmer weiß, bei welchen Bestimmungen er mit Änderungen zu rechnen hat (EvBl. 1982/87). Derartiges wurde hier überhaupt nicht behauptet. Im übrigen ergibt sich aus der geschäftsplanmäßigen Erklärung zu den neuen Versicherungsbedingungen, daß sich die Versicherungsanstalt auf die neuen Bedingungen soweit nicht berufen wird, als sich daraus für den Versicherungsnehmer in einem Einzelfall eine Einschränkung seiner Ansprüche ergeben sollte. Daß der Wegfall einer dem § 9 Abs. 3 der alten Versicherungsbedingungen entsprechenden Bestimmung im vorliegenden Fall zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Rechte des Klägers führen würde, bedarf wohl keiner näheren Begründung. Schon aus diesem Grunde mußte die Berufung der Beklagten auf die neuen Versicherungsbedingungen im Rechtsmittelverfahren ins Leere gehen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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