OGH 6Ob630/86

OGH6Ob630/864.9.1986

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch, Dr. Schobel, Dr. Riedler und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Vormundschaftssache des mj. Kindes Daniel P***, geboren am 5. März 1977, Volksschüler, im Haushalt seiner Mutter und Vormünderin Sybille P***, Fremdsprachenlehrerin, Traiskirchen, Kapellengasse 7/2/7/32, auch Wien 18., Währingerstraße 82, wegen Genehmigung einer Zuständigkeitsübertragung gemäß § 111 Abs 2 JN, infolge Rekurses der Mutter, vertreten durch Dr. Liselotte Morent, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 9. Juni 1986, GZ 5 Nc 13/86=3P 109/85-152, des Bezirksgerichtes Döbling, womit die Übertragung der Zuständigkeit vom Bezirksgericht Döbling an das Bezirksgericht Baden nicht genehmigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht stattgegeben.

Text

Begründung

Der nunmehr im zehnten Lebensjahr stehende Daniel kam als uneheliches Kind zur Welt. Noch im Monat seiner Geburt anerkannte der damals 22 Jahre alte Student mit französischer Staatsbürgerschaft, der damals als Wohnort die Wiener Anschrift seiner Mutter angab, die Vaterschaft vor dem als Amtsvormund einschreitenden Bezirksjugendamt für den 17. und 18. Bezirk in Wien. Die Mutter war damals ebenfalls noch Studentin und 22 Jahre alt. Sie besaß und besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft. Als Wohnort gab sie damals die Traiskirchner Anschrift ihres von ihrer Mutter seit Jahren geschiedenen Vaters an. Zwei Monate nach der Geburt des Kindes bezog die Mutter mit ihrem Säugling ein Kabinett im 8. Wiener Gemeindebezirk, nach weiteren zwei Monaten nahm sie mit dem Kind Unterkunft in einem Heim im 19. Wiener Gemeindebezirk. Nach einem Jahr ließ die Mutter das Kind in dem Heim und zog selbst in ein Studentenheim im 2. Wiener Gemeindebezirk. Als der Heimbetrieb eingestellt wurde, übersiedelte die Mutter im Sommer 1980 in eine Wohnung im 18. Wiener Gemeindebezirk. Von Ende Oktober 1980 bis Ende März 1981 befand sich das Kind bei einer Pflegemutter. Mit dem Beschluß vom 13. März 1980 bestellte das Vormundschaftsgericht die Mutter anstelle des Amtsvormundes zur Vormünderin und das Bezirksjugendamt für den 17. und 18. Bezirk zum besonderen Sachwalter für die Verfolgung der Unterhaltsansprüche des Kindes gegen seinen im Ausland wohnhaften Vater. Ab Ende März 1981, also etwa ab der Vollendung des vierten Lebensjahres, befand sich das Kind bei seiner mütterlichen Großmutter im 18. Wiener Gemeindebezirk, während die Mutter sich studienhalber in Japan aufhielt. Im Herbst 1983 begann das Kind den Pflichtschulbesuch in einer Privatschule im 18. Wiener Gemeindebezirk.

Seit einer Entscheidung des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 13. Februar 1985 über einen (negativen) Zuständigkeitsstreit zwischen dem Bezirksgericht Hernals und dem Bezirksgericht Döbling besorgt das zweitgenannte Gericht die Geschäfte in der anhängigen Vormundschaftssache.

Anfang November 1984 teilte die Mutter in einer anwaltlich verfaßten Eingabe dem Vormundschaftsgericht mit, daß sie mit dem Kind in den seinerzeitigen Traiskirchner Wohnsitz übersiedelt sei. Nach einem Bericht der Jugendabteilung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 25. Juni 1985 hatte die Hausbesorgerin des Traiskirchner Wohnhauses in den vorangegangenen Monaten weder die Mutter noch das Kind gesehen. Das Bezirksjugendamt für den 17. und 18. Bezirk berichtete im November 1985, daß sich das Kind nach wie vor in der Pflege der mütterlichen Großmutter im 18. Wiener Gemeindebezirk befände und eine Privatschule im 18. Bezirk besuche. Ende November 1985 beharrte dagegen die Mutter in einer anwaltlich verfaßten Eingabe auf ihrem Vorbringen, nach wie vor gemeinsam mit ihrem Kind in Traiskirchen wohnhaft zu sein. Sie gestand allerdings zu, daß das Kind in Wien zur Schule geht.

Die Mutter ist seit April 1984 Lehrerin an einer japanischen Schule in Wien. Bei ihrer Vernehmung vom 9. April 1986 bezeichnete sie die Traiskirchner Wohnung als ihren Hauptwohnsitz und die Wohnung im 18. Gemeindebezirk als Nebenwohnsitz. Sie gab an, daß das Kind die Volksschule in der Maria Theresienstraße besuche.

Der Vater des Kindes ist nunmehr seit Jahren als Sprachlehrer in Spanien tätig. Im Oktober 1984 stellte er einen Unterhaltsherabsetzungsantrag, über den bisher noch nicht entschieden wurde.

Das Bezirksgericht Döbling hatte nämlich am 6. März 1985 unter Berufung auf das Vorbringen der Mutter über den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Traiskirchen gemäß § 111 Abs 1 JN eine Übertragung seiner Zuständigkeit zur Besorgung der Vormundschaft an das Bezirksgericht Baden beschlossen. Dieses Gericht hat nach den Erhebungen der Bezirkshauptmannschaft Baden eine Übernahme der Vormundschaftssache abgelehnt. Das Bezirksgericht Döbling übersendete die Akten auf Grund der Angaben der Mutter vom November 1984 im Februar 1986 abermals im Sinne seines Übertragungsbeschlusses vom 6. März 1985 an das Bezirksgericht Baden. Dieses wiederholte seine Weigerung, die Weiterführung der Vormundschaftssache zu übernehmen.

Das gemäß § 111 Abs 2 JN befaßte Oberlandesgericht Wien genehmigte die vom Bezirksgericht Döbling beschlossene und vom Bezirksgericht Baden nicht angenommene Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Vormunschaftssache nicht. Dabei legte das Oberlandesgericht zugrunde, die Mutter habe zwar wiederholt angegeben, ihren Hauptwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt nach Traiskirchen verlegt zu haben; sie übe aber in Wien ihre Berufstätigkeit aus und das Kind besuche auch in Wien die Schule.

Danach liege es nach der Lebenserfahrung nahe, daß die Mutter und das Kind in zeitlich erheblicher Weise auch die Wiener Wohnung benützten. Zusammenfassend vertrat das Oberlandesgericht die Ansicht, die Aktenlage gäbe keinen hinreichenden Aufschluß darüber, daß Mutter und Kind tatsächlich überwiegend die Traiskirchner Wohnung benützten; solange dies aber zweifelhaft bleibe, fehlte es an den Voraussetzungen für eine Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 JN an das Bezirksgericht Baden.

Die Mutter erhebt gegen die Versagung der Genehmigung nach § 111 Abs 2 JN Rekurs. Sie macht Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung als Anfechtungsgründe geltend. Sie stellt einen auf Genehmigung der Zuständigkeitsübertragung zielenden Abänderungsantrag, hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig.

Die Entscheidung des den beteiligten Vormundschafts- oder Pflegschaftsgerichten zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gerichtes nach § 111 Abs 2 JN ist anfechtbar. Der Oberste Gerichtshof hat davon abgesehen, den Streit zweier Vormundschafts- oder Pflegschaftsgerichte erster Instanz über die Zweckmäßigkeit einer Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN als einen Unterfall eines nach § 47 JN zu lösenden Unzuständigkeitsstreites zu werten oder doch die Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN über die widerstreitenden Ansichten der in Betracht kommenden Gerichte erster Instanz als eine der Zuständigkeitsstreitentscheidung nach § 47 JN rechtsähnliche Beschlußfassung anzusehen, und demgemäß die Anwendbarkeit des Rekursausschlusses nach § 47 Abs 3 JN auch nach der Zivilverfahrens-Novelle 1983 ausdrücklich verneint (NZ 1985, 228).

Obwohl der Gesetzgeber der Zivilverfahrens-Novelle 1983 unverkennbar bestrebt war, allgemein Streitigkeiten über die örtliche Zuständigkeit tunlichst abzukürzen, hat der Gesetzgeber ungeachtet der veröffentlichten Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofes (SZ 42/86) davon abgesehen, im Falle der Genehmigungsentscheidung des "Obergerichtes" nach § 111 Abs 2 JN einen ebenso klaren und eindeutigen Rechtsmittelausschluß auszuprechen wie im Falle des § 47 Abs 3 JN. Wenn es sich auch im Falle des § 111 Abs 2 JN um die Entscheidung eines Meinungsstreites zweier Gerichte erster Instanz über ihre Zuständigkeit handelt, liegen doch die sachlichen Besonderheiten vor, daß § 111 Abs 1 JN auch eine Aufteilung der Zuständigkeit auf mehrere Gerichte vorsieht ("ganz oder zum Teile") und daß nicht die Erfüllung eines gesetzlich fest umschriebenen Zuständigkeitstatbestandes, sondern in erster Linie Zweckmäßigkeitserwägungen nach der Einschätzung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles für die Zuständigkeitsentscheidung als maßgeblich erklärt sind. Der Oberste Gerichtshof hat diese Umstände in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht zum Anlaß eines Größenschlusses genommen, sondern sie vielmehr als sachliche Eigenheiten behandelt, die einem Ähnlichkeitsschluß zu § 47 JN entgegenstehen. Obwohl tendenziell und systematisch im Falle einer Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN ein Rechtsmittelausschluß, wie er im § 47 Abs 3 JN angeordnet ist, naheläge, sieht sich der erkennende Senat beim Stand der Argumentation nicht bestimmt, von der in NZ 1985, 228 dargelegten Auslegung abzugehen. Der im dargelegten Sinne zulässige Rekurs ist aber nicht berechtigt. Die im Rekurs ausgeführten Zweifel gegen die funktionelle Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes Wien nach § 111 Abs 2 JN oder gegen die Unterstellung des Streitfalles unter die Regelung des § 111 JN sind nicht begründet. § 29 JN gilt auch für die im § 109 JN genannten außerstreitigen Aufgaben der Gerichte, so daß es zur Zuständigkeitsverschiebung in Anpassung an eine seit der Verfahrenseröffnung eingetretene Sachverhaltsänderung einer Delegation oder einer Übertragung der Zuständigkeit des § 111 JN bedarf. § 29 JN muß aber nicht bloß auf die Zuständigkeit des Gerichtes angewendet werden, in Ansehung dessen bei Einleitung des Verfahrens der gesetzliche Zuständigkeitstatbestand erfüllt war, sondern sachgerechterweise auch auf die Zuständigkeit des Gerichtes, daß eine Rechtssache nach bewirkter Delegation oder Zuständigkeitsübertragung gemäß § 111 JN zur Weiterführung übernommen hat.

Nach der Aktenlage war eine Entscheidungssituation nach § 111 JN gegeben. Das Oberlandesgericht Wien war nach der bestehenden Gerichtsorganisation zur Genehmigung der vom Bezirksgericht Döbling beschlossenen, vom Bezirksgericht Baden aber nicht angenommenen Zuständigkeitsübertragung als das diesen beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht gemäß § 111 Abs 2 JN zuständig.

In der Sache selbst übersieht die Rekurswerberin, daß auch bei Fortfall der zuständigkeitsbegründenden Umstände eine Anpassung der gemäß § 29 JN grundsätzlich aufrecht bleibenden Zuständigkeit an die geänderten Verhältnisse nur unter der Voraussetzung zu erfolgen hat, daß "dies im Interesse eines Mündels oder Pflegebefohlenen gelegen erscheint".

Das Oberlandesgericht Wien ist nach der Aufrechterhaltung eines Wohnsitzes der Mutter in Wien, nach dem Beschäftigungsort der Mutter in Wien und nach der Lage der vom Kind besuchten Schule in Wien mit Recht davon ausgegangen, daß konkret faßbare Interessen des Kindes an einer tunlichst raschen und aufwandsparenden und damit wirksamen Besorgung der gerichtlichen Aufgaben bei der Führung der Vormundschaft - nicht zuletzt mit Rücksicht auf den Sitz des zum besonderen Sachwalter bestellten Bezirksjugendamtes - eine Durchbrechung der nach § 29 JN grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden Zuständigkeit des einmal mit der Sache befaßten Gerichtes nicht nahe lägen. Dieser Beurteilung ist unabhängig davon beizutreten, an welchem der beiden Wohnorte der Mutter (Döbling oder Traiskirchen) sich die Mutter und Vormünderin und das Kind tatsächlich mehr oder weniger aufhalten.

Der angefochtenen Entscheidung haftet daher weder der gerügte Verfahrensmangel noch eine unrichtige Anwendung des § 111 JN an. Dem Rekurs war aus diesen Erwägungen ein Erfolg zu versagen.

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