OGH 1Ob586/86

OGH1Ob586/863.9.1986

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch, Dr. Schubert, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Martin S***, geboren am 7. Oktober 1980, und der mj. Sandra S***, geboren am 14. Mai 1982, beide bei der Mutter Ingrid S***, Hausfrau, Mutters, Rauschgraben 17, infolge Revisionsrekurses des Vaters Manfred S***, Vertragsbediensteter, Thaur, Solegasse 13, vertreten durch Dr. Paul Flach, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgerichtes vom 14. März 1986, GZ 3 b R 45/86-83, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 8.Jänner 1986, GZ 4 P 271/85-72, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird F o l g e gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

"Die aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) stehen in Ansehung der minderjährigen Kinder Martin S***, geboren am 7.10.1980, und Sandra S***, geboren am 14.5.1982, allein dem Vater Manfred S*** zu. Der Antrag der Mutter Ingrid S***, ihr die elterlichen Rechte und Pflichten in Ansehung der minderjährigen Kinder Martin und Sandra S*** zu übertragen, wird a b g e w i e s e n ."

Text

Begründung

Der mj. Martin S***, geboren am 7.10.1980, und die

mj. Sandra S***, geboren am 14.5.1982, sind die ehelichen Kinder des Manfred und der Ingrid S***. Beim Landesgericht Innsbruck ist zu 7 Cg 246/84 ein Verfahren zur Scheidung der Ehe der Eltern anhängig; eine Entscheidung ist noch nicht ergangen. Ingrid S*** zog im August oder September 1984 unter Mitnahme der Kinder aus der ehelichen Wohnung aus. Sie lebte zunächst mit den Kindern bei ihrer Mutter in Absam, seit April 1985 bewohnt sie eine eigene Wohnung in Mutters. Die Mutter geht keinem Beruf nach, sie hat daher Zeit, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Der Vater lebt im Hause seiner Eltern in Thaur und geht seinem Beruf als Fernmeldetechniker nach. Seine Mutter Aloisia S***, die zu den Kindern eine gute Beziehung hat, würde im Falle der Zuweisung der Elternrechte an den Vater während der Zeit seiner berufsbedingten Abwesenheit die Pflege und Erziehung der Kinder übernehmen. Aloisia S*** ist dazu auch in der Lage; eine ordnungsgemäße Unterbringung der Kinder wäre nach den räumlichen Verhältnissen im Hause der Eltern des Vaters möglich. Martin und Sandra S*** haben zu beiden Elternteilen eine gute Beziehung, die Beziehung zur Mutter ist intensiver, zumal sie die wichtigste Bezugsperson darstellt. Eine Trennung von der Mutter würde für die Kinder ein schockartiges Erlebnis sein. Die Mutter gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Sie versucht diesen Glauben auch mit ihren Kindern zu leben und den aus ihrer religiösen Überzeugung resultierenden Geboten im Alltag nachzukommen. Sie würde daher einer Bluttransfusion an ihre Kinder auch im Notfall nicht zustimmen, nur einer gerichtlichen Ersetzung der fehlenden Zustimmung würde sie sich beugen. Die Mutter lehnt es ab, Feste wie Weihnachten oder Ostern mit den Kindern zu feiern, ist jedoch damit einverstanden, daß die Kinder zu diesem Anlaß zum Vater kommen. Die Mutter besucht zweimal wöchentlich Versammlungen der Zeugen Jehovas. Zur Versammlung am Sonntagvormittag nimmt sie die Kinder mit. Einmal wöchentlich führt sie missionarische Hausbesuche durch, nimmt die Kinder derzeit aber nicht mit. Da die Mutter in die Erziehung weitgehend die Glaubensgebote der Zeugen Jehovas einfließen läßt, werden die Kinder später in einem gewissen Spannungszustand zur Umwelt stehen; ihre Integration in gesellschaftliche Institutionen wie Kindergarten und Schule wird dadurch erschwert, ohne daß aber gesagt werden könnte, daß eine völlige Isolierung Platz greifen müßte.

Beide Elternteile begehren, ihnen die Kinder in Pflege und Erziehung zuzuweisen.

Das Erstgericht sprach aus, daß die aus den familienrechtlichen Beziehungen erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) in Ansehung der mj. Kinder der Mutter allein zustehen. Den Antrag des Vaters wies das Erstgericht ab. Bei der Frage, welchem Elternteil die elterlichen Rechte und Pflichten zu übertragen seien, sei ausschließlich auf das Kindeswohl Bedacht zu nehmen. Nach den äußeren Umständen seien grundsätzlich beide Elternteile in der Lage, die Betreuung und Erziehung der Kinder zu übernehmen, der Vater allerdings nur unter Mithilfe seiner Mutter. Prinzipiell sei der Betreuung der Kinder durch einen Elternteil gegenüber der zumindest weitgehenden Betreuung durch einen Großelternteil der Vorzug zu geben. Darüber hinaus hätten die Kinder zur Mutter eine wesentlich intensivere gefühlsmäßige Bindung. Die Kinder seien an die Mutter als alleinige Erziehungsperson gewöhnt und hätten sich gut und harmonisch entwickelt. Eine Änderung in den Erziehungsverhältnissen würde für sie ein schockartiges Erlebnis darstellen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit mit schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen der Kinder verbunden wäre. Der Mutter könne das Recht zur Pflege und Erziehung der Kinder nicht schon deshalb aberkannt oder vorenthalten werden, weil sie einer religiösen Minderheit angehöre. Daß sie durch Verweigerung ihrer Zustimmung zu einer Bluttransfusion eine ernste Gefahr für Leben und Gesundheit der Kinder heraufbeschwören würde, könne nicht gesagt werden, weil die fehlende Zustimmung zu einer medizinisch notwendigen Bluttransfusion gemäß § 176 ABGB durch gerichtliche Entscheidung ersetzt werden könne. Ihre ablehnende Haltung gegenüber den üblichen Festen falle nicht ins Gewicht, weil die Mutter damit einverstanden sei, daß der Vater die Kinder zu solchen Anlässen zu sich nehme und die Feste nach seinen Vorstellungen gestalte. Als einzig bedeutsamer Umstand verbleibe die Tatsache, daß die Kinder auf Grund der Glaubensgebote der Zeugen Jehovas sich später schwerer in gesellschaftliche Gruppen hineinfinden würden und daß ihnen in einem gewissen Maß eine soziale Sonderstellung zukommen werde. Auch dies bilde jedoch keine derart ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Kindeswohls, daß der Mutter, zu der Martin und Sandra eine innige seelische Beziehung hätten und an deren Betreuung sie gewöhnt seien, die Kinder vorzuenthalten wären.

Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Die Zugehörigkeit der Mutter zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas könne für sich allein keine Gefahr für das Kindeswohl begründen. Richtig sei allerdings, daß diese Religionszugehörigkeit aller Voraussicht nach Auswirkungen auf die Pflege und Erziehung der beiden Kinder haben werde und daß die Kinder dadurch in einen gewissen Spannungszustand zu ihrer Umwelt geraten werden. Was die von der Glaubensgemeinschaft abgelehnte Bluttransfusion betreffe, so sei damit eine ernstliche Gefährdung der Kinder nicht verbunden, weil dann, wenn richterliche Abhilfe zu spät kommen sollte, es Sache des behandelnden Arztes sein werde, unter Umständen auch gegen den Willen des Erziehungsberechtigten eine Bluttransfusion durchzuführen. Beide Kinder hätten bisher in ihrer physischen und psychischen Entwicklung keinen Schaden genommen, so daß die Übertragung des Rechtes zur Pflege und Erziehung der Kinder an die Mutter gerechtfertigt sei.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen den Beschluß des Rekursgerichtes erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist gerechtfertigt.

Da das Rekursgericht die Entscheidung des Erstrichters bestätigte, ist der Revisionsrekurs nur aus den Gründen des § 16 AußStrG, somit wegen offenbarer Gesetzwidrigkeit, Aktenwidrigkeit und Nullität zulässig. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit erblickt der Rechtsmittelwerber darin, daß die Vorinstanzen bei ihrer Entscheidung unbeachtet gelassen hätten, daß die Mutter nach ihren eigenen Bekundungen die Kinder in die Glaubenswelt der Zeugen Jehovas einführe, sie zu Versammlungen mitnehme, ihren Glauben mit den Kindern zu leben versuche und damit die Kinder, die bisher im Geiste der römisch-katholischen Kirche erzogen wurden, gegen den Willen des Vaters in einem anderen Bekenntnis erziehen wolle, was den Bestimmungen des Gesetzes vom 15.7.1921, dRGBl.I 939, über die religiöse Kindererziehung widerspreche. Die Erziehung nach den Grundsätzen der Lehre der Zeugen Jehovas sei mit dem Kindeswohl nicht vereinbar.

Nach ständiger Rechtsprechung sind Neuerungen in einem außerordentlichen Revisionsrekurs unzulässig (EFSlg.47.205, 44.637, 42.326 u.a.). Der Rechtsmittelwerber hat bisher nicht behauptet, daß die Kinder dem römisch-katholischen Glaubensbekenntnis angehören; er hat andererseits aber vorgebracht, daß die Erziehungstätigkeit der Mutter nach den Grundsätzen der Lehre der Zeugen Jehovas erfolge, was auch festgestellt wurde. Es blieb auch unbestritten, daß die Kinder diesem Bekenntnis nicht angehören. Es wäre daher den Vorinstanzen oblegen, zu prüfen, ob eine derartige Erziehung der Kinder durch die Mutter nicht einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Bundesgesetzes über die religiöse Kindererziehung 1985, BGBl.1985/155 (Wiederverlautbarung des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15.7.1921, dRGBl. I 939), darstellt. Gemäß § 1 RelKEG bestimmt über die religiöse Erziehung eines Kindes die freie Einigung der Eltern, soweit ihnen die Pflege und Erziehung zusteht. Die Einigung ist jederzeit widerruflich und wird durch den Tod eines Ehegatten gelöst. § 2 Abs.1 RelKEG normiert, daß, falls eine solche Einigung nicht oder nicht mehr besteht, auch für die religiöse Erziehung die Vorschriften des ABGB über die Pflege und Erziehung gelten. Es kann jedoch gemäß § 2 Abs.2 RelKEG während bestehender Ehe von keinem Elternteil ohne die Zustimmung des anderen bestimmt werden, daß das Kind in einem anderen als dem zur Zeit der Eheschließung gemeinsamen Bekenntnis oder in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen wird.

Da die Kinder jedenfalls nicht dem Bekenntnis der Zeugen Jehovas angehören, stellte eine Erziehung nach den Grundsätzen dieser Sekte (eine anerkannte Religionsgesellschaft liegt, wie der Rechtsmittelwerber zutreffend aufzeigt, nicht vor: vgl. Adamovich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht 3 , 415) einen Verstoß gegen die Bestimmung des § 2 Abs.2 RelKEG 1985 dar. Die Nichtbeachtung dieser gesetzlichen Bestimmung durch das Rekursgericht ist offenbar gesetzwidrig.

Die Vorinstanzen haben aber auch bei ihrer Entscheidung das Wohl des Kindes außer acht gelassen (EFSlg.47.229, 47.225, 42.340 u.a.). Die festgestellte Weigerung der Mutter, einer notwendigen Bluttransfusion an die Kinder zuzustimmen, stellt eine Gefährdung des Kindeswohls dar, weil die Anrufung des Gerichtes zur Ersetzung der mangelnden Zustimmung der Mutter (vgl. JBl.1985, 548, 550) in dringenden Fällen mit einer unter Umständen lebensbedrohenden Verzögerung verbunden ist und ein körperlicher Eingriff unter Umgehung des Sorgeberechtigten als rechtswidrig erachtet wird (Edlbacher, ÖJZ 1982, 365, 373 zweite Spalte). Es steht auch fest, daß die Kinder bei Erziehung nach den Glaubensgeboten der Zeugen Jehovas in eine gesellschaftliche Außenseiterstellung gedrängt werden. Bei der erstmaligen Entscheidung, welchem Ehegatten das Recht zur Pflege und Erziehung zuzuerkennen ist, können diese Umstände nicht unbeachtet bleiben. Wenn auch der Betreuung von Kleinkindern durch die Mutter der Vorzug zu geben ist (EFSlg.45.868 u. a.), so gilt dies nur bei Gleichwertigkeit der sonstigen Voraussetzungen (EFSlg.43.370, 40.900, 38.400 ua). Es besteht kein Vorrecht der Mutter auf Zuteilung der Elternrechte (EFSlg.45.867 ua.). Die mit dem Wechsel des Erziehungsberechtigten verbundenen, zumeist ohnehin nur vorübergehende Belastung der Kinder muß im Interesse der Kinder in Kauf genommen werden (EFSlg.45.865, 38.415, 33.605 ua.). Für die Annahme, daß der Wechsel des Erziehungsberechtigten "mit hoher Wahrscheinlichkeit mit schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen der Kinder verbunden wäre" (S 299 d.A.), fehlt eine aktenmäßige Grundlage. Der Vater ist auch nach Auffassung der Vorinstanzen zur Erziehung der Kinder geeignet, die Kinder haben zu ihm und zur Großmutter, die während der berufsbedingten Abwesenheit des Vaters die Pflege und Erziehung übernehmen wird, eine gute Beziehung; die Unterbringung der Kinder im Hause der Eltern des Vaters ist gesichert. Demzufolge entspricht aber allein die Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten an den Vater dem Wohl der Kinder. In diesem Sinne sind die Beschlüsse der Vorinstanzen abzuändern; der Antrag der Mutter ist hingegen abzuweisen.

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